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Raumübergreifendes Großgrün

Der kleine Übersetzungshelfer für Beamtendeutsch

AutorHinrich Lührssen
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783644421417
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Fast jeder hat sich schon einmal am Beamtendeutsch in Briefen von Behörden und Gerichten die Zähne ausgebissen. Warum nur werden Bescheide, Beschlüsse und Bekanntmachungen erlassen, die keiner versteht? Hinrich Lührssen erklärt abstruse Begriffe wie «Einantwortung», «Einfriedung», «Bestallung» und «Beelterung» und widmet sich auch unsinnigen Verordnungen - selbstverständlich ordentlich der Reihe nach. Und wie immer im Leben sollte man das Beste daraus machen: lesen, staunen und über den Verwaltungswahnsinn schmunzeln ...

Hinrich Lührssen produziert Reportagen und Berichte u. a. für «sternTV».

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Leseprobe

Vorwort


Eigentlich ist es sehr einfach. Einfach deshalb, weil selbstverständlich alles geregelt und vorgeschrieben ist: Die Amtssprache in der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch. Denn die Benutzung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit ist eine gesetzliche Pflicht, damit Bürger und Behörden nicht aneinander vorbeireden. Unabhängig von gewissen Bestrebungen, Deutsch als Amtssprache im Grundgesetz zu verankern, sind die gesetzlichen Bestimmungen bereits jetzt eindeutig. Für die Verwaltungsbehörden des Bundes schreibt § 23 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vor: «Die Amtssprache ist Deutsch.» Für die Finanz- und Sozialbehörden sowie für die Gerichte sind die Regelungen ebenfalls eindeutig – Deutsch ist Pflicht.

Warum aber werden wir Bürger dann so gequält? Warum sind wir hinterher nicht schlauer, sondern wieder einmal verzweifelter, wenn Behörden Bescheide, Beschlüsse und Bekanntmachungen erlassen, die keiner versteht? «Einantwortung», «Einfriedung», «Bestallung» und «Beelterung» – es gibt so viele merkwürdige und vor allem unverständliche Begriffe aus der Behördensprache, dass man damit ein ganzes Buch füllen kann. Das habe ich hier getan.

Nach einer Studie der Gesellschaft für deutsche Sprache haben 86 Prozent der Bundesbürger Probleme mit dem Beamtendeutsch in Briefen von Behörden und Gerichten. Auch 81 Prozent der Befragten mit Abitur oder Hochschulabschluss verstehen bei vielen Fachbegriffen und Schachtelsätzen nur Bahnhof. Die Blähsprache vom Amt nervt und ärgert.

Es muss eine geheime Verschwörung geben. Verwaltungsbeamte, Juristen und Politiker haben sich offenbar vor einigen Jahrhunderten in die Hand versprochen, Bürger und Steuerzahler fortlaufend mit einem absurden Kauderwelsch zu quälen: mit Aussagen, die sich widersprechen, mit Satzgebilden, die eine komplette Seite füllen und mindestens fünfmal durchgearbeitet werden müssen, bevor man sie nachvollziehen kann, oder mit unfreiwillig komischen Wortungetümen wie «Personenvereinzelungsanlage» oder «Spontanvegetation», die zwar lustig sind, aber doch ratlos machen.

Was aber sollten die Motive dieser wortwörtlichen Verschwörung sein? Schadenfreude, weil der einfache Bürger mal wieder der Depp ist? Liegt es am Leben im Beamtenturm, weil die Insassen dieser Einrichtung nach langen Dienstjahren nicht mehr wissen, wie außerhalb ihres Turmes gesprochen und geschrieben wird? Weitere böse Absichten sollen hier gar nicht unterstellt werden, denn das wichtigste Motiv für den Gebrauch möglichst schwerverständlicher Satzkonstruktionen ist altbekannt: Wissen ist Macht. Wie viele Verwaltungsbeamte wären ohne Beschäftigung, wenn es nicht immer neue Vorschriften und Erlässe gäbe, die oftmals erst nach jahrelangen Beratungen und Sitzungen zustande kommen. Was hätte eine Unzahl von Rechtsanwälten und Richtern noch zu tun, wenn sich die Bürger nicht immer wieder im Verordnungsdschungel verfangen würden?

Für die konsequente Anwendung der absurden Amtssprache gibt es auch noch andere Gründe. Die Tradition etwa: Seit dem Aufkommen der Behördensprache im 19. Jahrhundert über Kaiserreich und Hitlerzeit hinweg wurden so die Untergebenen angesprochen. Verständnisfragen oder gar die Infragestellung der Anordnungen von oben durch die betroffenen Adressaten waren nicht erlaubt und hätten damals zu Verfolgung und Bestrafung geführt.

Heute wäre dies zwar möglich, doch nun drohen neuzeitliche Einflüsse, alles noch schlimmer zu machen. Das Streben nach höchstmöglicher Rechtssicherheit etwa, um Klagen gegen die Gesetze besser abschmettern zu können. Deshalb neigen ihre Verfasser dazu, mit ausschweifenden Beschreibungen alle eventuellen Tatbestände zu erfassen und keinen rechtsfreien Zwischenraum zuzulassen. Gut gemeint, aber schlecht gelöst.

Und was unternehmen Politiker, um diesen Bürokratenmief abzuschütteln? Manche bemühen sich ja redlich, doch noch viel mehr von ihnen flüchten ins sogenannte Denglisch. Das macht die Sache nicht unbedingt besser. Wer weiß schon als Normalsterblicher, was «Cluster» sind oder wann eine «Evaluation» bevorsteht? Und wird das Vertrauen in die Politik wirklich größer, wenn die nächste Erhöhung als Beitragsanpassung und Stillstand als Nullwachstum verkauft werden sollen?

Was heute «an sprachlich-moralischer Verluderung stattfindet, ist immer schwerer zu ertragen», befand bereits vor einigen Jahren der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), und der frühere Bundespräsident Roman Herzog warnte: «Unsere Muttersprache ist das Deutsche tatsächlich insofern, als wir sie von unseren Müttern lernen. Ob wir mit ihr aber auch so unbestreitbar nett umgehen wie mit unseren Müttern, das lässt sich doch füglich bezweifeln. Wir rühmen sie zwar zur rechten Zeit – an den Muttertagen gewissermaßen. An allen anderen Tagen des Jahres malträtieren wir sie nach allen Regeln der Kunst.»

Die ersten Bundestagsabgeordneten haben sich mittlerweile der Aktion «Deutschpflicht für Politiker» angeschlossen. Doch den vielen Worten folgen nur selten Taten. Die Beamtensprache wächst täglich durch die Flut von neuen Verordnungen und Gesetzen, die inzwischen vor allem die Europäische Union erlässt. Zusammengerechnet sollen es bereits über 100 000 Seiten sein, verfasst und kontrolliert von 24 000 Beamten in Brüssel, also zahlenmäßig von der gesamten Einwohnerschaft einer Kleinstadt. Dieses Bürokratiemonster erbricht täglich neue Gesetze, Verordnungen und Formulare – mit Formulierungen, Schlussfolgerungen und Wortbegriffen, die der Normalbürger nicht mehr versteht. Kuriose Beispiele werden auf den folgenden Seiten genannt und größtenteils zum ersten Mal überhaupt übersetzt.

Grund zum Handeln gäbe es auch aus finanziellen Gründen. Allein die Bürokratien des Bundes und der Europäischen Union kosten nicht nur die Bürger Nerven, sondern auch die Unternehmen jährlich zwischen 35 und 40 Milliarden Euro. Diese Zahlen hat das Statistische Bundesamt der Bundesregierung übermittelt. Die Betriebe unterliegen 11 000 Informationspflichten, deren Erfüllung allein 27 Milliarden Euro pro Jahr erfordert. Weitere 6,2 Milliarden Euro verschlingt die Auflage, dass alle Rechnungen zehn Jahre lang aufbewahrt werden müssen. Die Steuererklärungen kosten die Wirtschaftsunternehmen noch einmal 3,65 Milliarden Euro im Jahr. Nur die Bearbeitung wohlgemerkt, ohne die fälligen Steuern, Voraus- und Nachzahlungen. Bis zum Jahr 2011 sollen diese Bürokratiekosten nach einem Beschluss der Bundesregierung um ein Viertel verringert werden. Wird da wieder einmal zu viel versprochen?

Die Beamtensprache führt uns damit in das zentraleuropäische Absurdistan. Da wird einer Stadt wie Berlin mit einem Bußgeld von 700 000 Euro gedroht, wenn nicht ein Seilbahngesetz erlassen wird, was in dieser Stadt nachweislich aber gar nicht gebraucht wird, weil mangels Bergen niemals eine Seilbahn Berlin durchqueren wird. Ein Bäcker in der EU muss heutzutage 220 Vorschriften und Gesetze beachten, bevor er das erste Brötchen verkaufen kann. Mehr als 10 000 Produktnormen legen fest, wie beispielsweise der Sitz eines Traktors beschaffen sein muss, und die Verordnung der EU über die Beschaffenheit von Schnullerketten füllt 52 Seiten. Und Marmelade darf laut Bestimmung nicht mehr Marmelade heißen.

Der Jubel von Politikern über die Abschaffung der Krümmungsverordnung von Gurken ist vor diesem Hintergrund keinesfalls der seit vielen Jahren herbeigesehnte und herbeigeredete Beginn einer Entbürokratisierung, sondern wohl eher sprachliche Kosmetik. Denn für Aprikosen und Artischocken über Bleichsellerie bis zu Kiwis, Knoblauch und Zwiebeln gelten weiterhin millimetergenaue Vorschriften, für deren genaue Kontrolle ein Heer von weiteren Beamten aufgestellt werden müsste.

In diesem Buch werden neben Begriffen aus der Behördensprache auch blödsinnige Verordnungen erstmals umfassend genannt und aufgeführt – selbstverständlich ordentlich der Reihe nach. Und es geht auch um die skurrilen Folgen der Behördensprache in den Schreiben an Versicherungen sowie in den Reden der Politiker.

Gibt es denn in diesem Verwaltungsdschungel und Sprachdickicht gar keine Hoffnung, keinen Weg, der ins Licht führt? Kein Happy End im letzten Kapitel? Wie immer im Leben sollte man das Beste daraus machen: Lesen, staunen und schmunzeln Sie also über den Verwaltungswahnsinn – die Beamtensprache kann unabsichtlich durchaus Freude bereiten. Manche der hier genannten Begriffe eignen sich wunderbar als Rätselspaß für die ganze...

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