Miriams Sicht: Die Verhaftung
Jörg und ich waren für das Wochenende am 20./21. März 2010 verabredet und hatten vor, eventuell nach einem kurzen Aufenthalt in Leipzig, wo er am folgenden Montag einen Termin hätte wahrnehmen müssen, gemeinsam wieder Richtung Süden zu fahren. Ich stamme aus Leipzig, war aber im Oktober 2009 zum Antritt meines Psychologiestudiums nach Konstanz gezogen. Das hatte mehrere Gründe: zum einen, weil Jörg seine Firma in der Schweiz hatte, zum anderen, weil die anderen beiden Universitäten, die mich zum Studium zugelassen hatten, für mich aus fachlichen Gründen und wegen der Umgebung nicht infrage kamen.
Jörg war mehrere Wochen in Kanada gewesen, um da während der Olympischen Spiele zu arbeiten und um seine Kinder zu besuchen, die dort bei ihrer Mutter leben. Wir hatten uns also länger nicht gesehen, unter anderem auch deswegen, weil ich ihm ein Treffen zwischen den Olympischen Spielen und seinem Kinderbesuch, das für ihn zwei Tagesreisen nach Europa und zurück zur Folge gehabt hätte, aus Sorge um ihn ausgeredet hatte. Wir einigten uns schlussendlich darauf, dass er einen Tag eher als geplant aus Kanada zurückkehrte. Polizei und Staatsanwaltschaft würden Jörg das später als Täuschungsversuch und als Manöver anlasten, nach dem Motto: Er kam bewusst einen Tag früher zurück, an einem Tag, an dem ihn keiner erwartete.
Die Zeit vor unserer Verabredung hatte ich in Leipzig bei meiner Familie verbracht. Ich fuhr sehr früh am Morgen des 20. März 2010 mit dem Zug los, um vor Jörg am Flughafen in Frankfurt anzukommen. Ich wollte ihn dort überraschen, denn eigentlich war vorgesehen, dass wir uns auf halber Strecke trafen, um meine Fahrzeit zu reduzieren. Seine Flugnummer und die Ankunftszeit hatte er mir vor dem Abflug mitgeteilt, sodass ich ihn am Gate abholen konnte. Es war ein freundlicher Frühlingstag, ich war sehr fröhlich, hatte eine Menge Gepäck dabei (ich war ja vorher bei der Familie gewesen) und wartete in einer kleinen Menschentraube darauf, dass Jörg aus dem Gate trat. Nach vielleicht einer knappen halben Stunde Wartezeit kam er dann auch, ging links um die Ecke, blickte zurück und sah mich freudig überrascht an. Wir begrüßten uns, wie es ein Liebespaar tut, das sich längere Zeit nicht gesehen hat, freuten uns über den jeweilig anderen und traten gemächlich den Weg zum Parkhaus an, wo das Auto stand. Kriminalhauptkommissar (KHK) Werner Seele* würde später empört vor Gericht berichten, dass wir zur Begrüßung herumgeknutscht hätten – vermutlich war auch das für ihn ein Indiz für Jörgs Täterschaft. Klar, Knutschen ist schon prinzipiell sehr verdächtig – jedenfalls wohl aus Schwetzinger Perspektive.
Jörg war guter Laune, freundlich und liebevoll, ein bisschen verschlafen und erfreut, mich zu sehen. Wir unterhielten uns über seine Lederjacke und deren offensichtlichen Achtzigerjahrestil, darüber, wie es dem jeweils anderen ging (es ging uns beiden sehr gut), über den Flug und dass wir uns freuten, uns nach so langer Zeit wiederzusehen. Als er auf dem Weg zur Tiefgarage an einem Automaten sein Parkticket bezahlt hatte, liefen wir den Gang entlang und suchten einen Fahrstuhl. Der erste war besetzt, der zweite auch, der dritte war leer. Als wir einstiegen, kamen sofort, scheinbar aus dem Nichts, viele Menschen und drängten sich mit hinein. Ich kann mich erinnern, dass mir das seltsam vorkam. Heute weiß ich, dass mich mein Gefühl nicht getrogen hat. Jörg meinte noch scherzhaft, dass man ja sicher auch auf den nächsten Fahrstuhl hätte warten können, anstatt jetzt ein solches Gedränge zu verursachen.
Als der Fahrstuhl in unserem Parkdeck anhielt und wir ausstiegen, verließen noch ein paar, möglicherweise sogar alle anderen Personen den Lift und gingen vorweg. Ich kann mich gut erinnern, dass eine junge Frau an mir vorbeilief und mich angrinste. Später sollte sie sich als eine Art Polizeiazubi und Tochter des Kriminalhauptkommissars Seele, des Einsatzleiters, herausstellen, die der Papa zur Promiverhaftung mitgebracht hatte – das erfuhr ich allerdings erst sehr viel später. Die junge Polizistin schien mir im weiteren Verlauf großes Gefallen dabei zu empfinden, die Verhaftung miterleben zu dürfen. Vielleicht kam es ihr ein bisschen vor wie im Zoo, wo man ein exotisches Tier betrachten kann – das sieht man ja schließlich nicht alle Tage!
Wir gingen ein kleines Stück weiter. Plötzlich drehten sich die Personen, die uns eben noch überholt hatten, um und kamen auf uns zu. Ein kleiner älterer Herr (wie ich viel später erfuhr: KHK Seele) hielt Jörg eine Art Ausweis vors Gesicht, gleichzeitig stand eine ältere kleine Frau in dunkler Jacke mit mittellangen braunen Haaren, offenbar auch eine Polizistin, direkt vor mir und bat mich sehr fordernd, ihr zur folgen. Ich weiß noch, dass ich zunächst dachte, wir bekämen Ärger mit der Flughafenpolizei, weil wir mit dem Gepäcktrolli im Fahrstuhl gefahren waren (was man wohl nicht darf, ich erinnere mich an einen großen Verbotsaufkleber an der Fahrstuhltür); später dachte ich, dass ich verhaftet werde, dann, dass wir beide festgenommen werden, und nach wenigen Minuten wurde mir schließlich klar, dass es um Jörg ging. Er wurde nach links zur Seite »gebeten«, ich nach vorne. Wir drehten uns, wie in amerikanischen Kitschfilmen immer eindrucksvoll inszeniert, in diesem Moment des Voneinanderweggezogen-Werdens noch einmal um, und ich konnte Entsetzen und Unverständnis in Jörgs Gesicht sehen. Ich vermute, dass ich einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatte.
Diese kleine Polizistin, Martina Michel* (und wir sollten noch mehr miteinander zu tun haben in der Zukunft), fragte mich in einem leicht schnippischen Ton und auf eine Art, dass ich mich direkt schuldig fühlte, obwohl ich gar nicht wusste, was ich gemacht haben sollte: wer ich denn überhaupt sei, was ich hier wolle, wie ich heiße, woher ich komme. Ich versuchte ihre Fragen zu beantworten und guckte dabei immer wieder zu Jörg zurück. Michel und ich waren auf der Höhe von Jörgs Auto, links neben dem Wagen war eine Parklücke frei, weiter links davon standen zwei Polizeiautos. Am ersten war Jörg, der sich über die Motorhaube gebeugt hatte und von mehreren Polizisten umringt war. Michel, die auf mich den Eindruck machte, als sei sie zusammen mit Seele Einsatzleiterin, wollte meinen Ausweis überprüfen. Ich stimmte zu, und sie nahm ihn mit ins erste Polizeiauto. Ich fragte sie, was denn überhaupt los sei, was uns vorgeworfen werde, beziehungsweise später, was Jörg vorgeworfen werde, und sah auch immer wieder besorgt zu ihm rüber. Er stand weiter über die Motorhaube gebeugt, und die Polizistin Michel erklärte mir nichts. Ihr einziger Kommentar war, dass er mir das dann schön selber erzählen könne. (Den schnippischen Unterton erwähnte ich bereits, auch wenn er sich hier aus der Wortwahl von selbst ergibt.) Mal links und mal rechts von ihr hielt sich die kleine Polizeiauszubildende auf, die Tochter Seele – sie sagte nichts, grinste dafür, entweder aus Freude am Schauspiel oder aus Verlegenheit, umso mehr.
Dieser ganze Vorgang – Abfrage der Personalien, des Erklärens, wer ich sei, woher ich käme, die Blicke zu Jörg, der weiterhin über ein auf der Motorhaube liegendes Blatt Papier gebeugt war (rechts neben ihm stand meistens der kleine ältere KHK Seele, der auch als Erster mit ihm geredet hatte), und meine ewige »Diskussion« mit der Polizistin Michel, dass sie mir doch endlich sagen möge, was los sei –, dies alles dauerte ungefähr fünfzehn Minuten, auch wenn es sich deutlich länger anfühlte. Irgendwann, nachdem mir mein Ausweis zurückgegeben worden war, hieß es, wir dürften uns voneinander verabschieden. Ich wusste nicht, was das heißen sollte: verabschieden. Warum verabschieden?
Jörg kam langsam und sichtlich geschockt auf mich zu. Wir standen dann am Heck seines Autos. Zwei oder drei Meter entfernt, von mir aus gesehen links, befand sich die kleine Tochter Seele (jemand hätte ihr Popcorn und einen Fernsehsessel holen sollen) und beobachtete uns, weiterhin dauergrinsend. Die anderen Polizisten standen mehrere Meter weiter weg an ihrem Auto und unterhielten sich. Ich nahm Jörgs Hand, versuchte ihn ein wenig zu beruhigen und fragte ihn, was hier los sei. Er war völlig durcheinander und sagte ungläubig und anfangs unverständlich, dass ihm vorgeworfen werde, eine Frau vergewaltigt zu haben, strich sich mehrmals durch die Haare, war insgesamt sehr unruhig und blickte hilflos abwechselnd mich an und ins Leere. Ich erinnere mich, dass ich mich kurz nach links wegdrehte. Ich dachte: scheiße – nicht, weil ich es für möglich gehalten hätte, dass er das getan haben könnte, sondern weil ich wusste, dass das ein sehr schwerwiegender Vorwurf war und dass jetzt alles sehr anstrengend werden würde.
Bevor ich noch etwas sagen konnte, erklärte er: »Ich kann nur sagen, dass ich das nicht gemacht habe.« Woraufhin ich sagte: »Ich weiß.« Es kann sein, dass ich das sogar mehrmals wiederholt habe. Ich umarmte Jörg dabei und versuchte ihn zu beruhigen, indem ich sagte (und auch später noch mindestens einmal): »Du hast nichts gemacht, dir kann also nichts passieren!« Das habe ich damals tatsächlich gedacht in meinem aus heutiger Sicht schon sträflich naiven Glauben an Rechtsstaat und Gerechtigkeit.
Jörg war blass und stand teilnahmslos vor mir, aber er schaute mir in die Augen. Ich kann mich erinnern, dass ich im...