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E-Book

Reclaim Autonomy

Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung

VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518754726
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

Vor nicht einmal zwanzig Jahren nährte die Digitalisierung noch die Hoffnung auf eine universelle Befreiung der Menschen. Geblieben ist davon nicht viel: Die Furcht vor Überwachung ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Mit Facebook, Twitter und anderen sozialen Medien hielt eine neue Form von Hetze Einzug in die Öffentlichkeit. Und auf die permanente Verfügbarkeit von Informationen folgte der Kampf der etablierten Medien gegen den digitalen Dauerbeschuss mit Fake News. Höchste Zeit also für eine kritische Bestandsaufnahme.

In diesem Band gehen einige der wichtigsten Denkerinnen und Denker der Gegenwart drängenden Fragen nach: Wie lässt sich der digitale Kapitalismus zähmen? Stellt das Internet eine Gefahr für die Demokratie dar? Und wie können wir in einer digitalisierten Welt Autonomie (zurück)erobern?

Mit Beiträgen von Martin Schulz, Jakob Augstein, Gerhart Baum, Yvonne Hofstetter, Evgeny Morozov u. v. a.

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Leseprobe

Soziale Medien: Wer Newsfeeds auf Werbeplattformen liest, kann Propaganda erwarten, aber nicht die Wahrheit


Yvonne Hofstetter


Seit allein auf Facebook mehr als eine Milliarde Nutzer täglich zugreifen,1 erleben wir keine gemeinsame Welt mehr. 46 Prozent der Amerikaner beziehen ihre Nachrichten von Mark Zuckerberg, Twitter, Instagram und Snapchat (Newman u. ‌a. 2016, S. 8). In der Europäischen Union ist der Anteil genauso hoch (ebd.). Doch die Newsfeeds der sozialen Medien sind algorithmisch personalisiert. Es ist künstliche Intelligenz, die entscheidet, was wir online lesen und betrachten sollen.

Ein Leben in der Echokammer

Was Google früh vorgemacht hat, geschieht längst auch an anderer Stelle online: Computerprogramme entscheiden über die Relevanz von Nachrichten. Relevant ist dabei nicht nur, was im Internet stark nachgefragt, oft geteilt und geliket wird – unabhängig vom Wahrheitsgehalt und von der Zuverlässigkeit der Informationsquelle –, sondern auch, was uns selbst am meisten interessiert. In der Konsequenz zeigt der individualisierte Newsfeed eines sozialen Netzwerks nur an, was für jeden Einzelnen von uns von Belang ist. Die viel zitierten Filterblasen und Echokammern entstehen; sie sind die Gummizellen unseres Lebens, in denen es weder Türen noch Fenster nach draußen zur Wirklichkeit gibt. »Setz deine BeatsX Kopfhörer auf, schalte deinen Apple Music Stream ein, und mach diese Welt zu deiner Welt«, lautet ein aktueller Werbeslogan der Firma Apple, der sehr genau zum Ausdruck bringt, dass deine Welt nicht meine oder seine Welt ist. Personalisierte Newsfeeds bestätigen eben nur unsere eigenen Meinungen und Weltsichten. Sie sind nichts als ein Spiegel unserer selbst. Anderen Wirklichkeiten als der eigenen oder gar Minderheiten bieten sie keinen Platz. Sogar unsere Freunde erreichen uns nicht mehr, wenn sie uns – nach dem Urteil der technologisch hochgerüsteten Automaten, der Algorithmen – wenig Relevantes zu sagen haben.

Atomisierung und Masse

Die Folgen maximaler Personalisierung sind dramatisch. Die Gesellschaft wird zerstreut, fragmentiert und in eine Masse aus Individuen zertrümmert (Arendt 2015 [1951], S. 697). »Losgröße eins« würde die smarte Fabrik jubeln.

Doch die Atomisierung unserer Gesellschaft verhindert, dass wir eine Sicht auf das Weltgeschehen teilen. Die »Generation Golf« des späten 20. Jahrhunderts, die etwa den Digital Immigrants entspricht, war wohl die vorerst letzte Generation, die Erfahrungen gemeinsam und als Gruppe machte. Der VW Golf galt ihr als Inbegriff von Spaß und Jugend, Toast Hawaii stand auf ihrer Menükarte, und sie wusste, wie man sich in der privaten Kellerbar ordentlich gehen lassen konnte.

Heute, da sich jeder von uns in seiner eigenen Echokammer isoliert, fehlt uns nicht nur die gemeinsame Erfahrung, sondern auch der gegenseitige Austausch darüber. Die Vereinzelung durch die sozialen Medien hat unsere Beziehungen gestört. Es gibt kein »Wir« mehr und deshalb auch nicht die Wahrnehmung einer gemeinsamen Welt.

Gleichzeitig scheint uns das »Draußen« nur noch Chaos zu sein. Tatsächlich müssen uns die zahllosen anderen Meinungen wie heilloses Durcheinander dünken, wenn wir nur und immer wieder von Neuem in unserer einsamen Einzelmeinung bestärkt werden.

Was uns wie maximale Einzelfreiheit erscheint, kann aber nur in einer höheren, auf das Gemeinwohl bezogenen Ordnung der Freiheit bestehen, wie sie etwa die Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit ihren zentralen Prinzipien Menschenwürde, Freiheit und Demokratie etablieren will. Doch das gefühlte Chaos an Zerstreuung, die Masse an disparaten Einzelmeinungen lässt sich kaum mehr ordnen, strukturieren oder organisieren. Interessenverbände, Gewerkschaften, private Vereine, die Kirche oder die Parteien, sie alle melden nachhaltigen Mitgliederschwund und Stimmenverluste. Denn kaum jemand mag sich noch mit ihnen als Träger einer gemeinsamen Bewegung identifizieren: Das Leben in der Filterblase steht im Widerspruch zu einer stabilen Gruppenzugehörigkeit. Unsere Interessen sind einfach zu individualistisch geworden, als dass sie noch Platz fänden unter dem gemeinsamen Dach gleich welcher Partei oder Organisation.

Aufstieg der Tyrannis

Die Vereinzelung der Bürger erklärt auch den Aufstieg der Neuen Rechten in der digitalen Ära. Die Masse, bestehend aus Individualisten bar jeden gemeinsamen Erlebens, ist höchst anfällig für populistisches Gedankengut. Nahezu widerstandslos lässt sie sich in die eine oder andere Richtung treiben. Man kann sie fast ohne Anstrengung für sich gewinnen, weil eine neue Meinung nicht auf den Widerspruch einer gemeinschaftlichen Erkenntnis trifft. Stattdessen herrscht in der Masse aus Einzelmeinungen der Kampf jeder gegen jeden. Jeder will recht behalten, jeder den anderen überstimmen und ausstechen, bis die Gewalt des einen gegen den anderen zunimmt. Und stehen nicht ausgerechnet die sozialen Medien für eine neue Form der Gewalt? Netzhetze, Cybermobbing, Hassrede – alle diese Phänomene sind Ausdruck von Gewalt, die einer gegen den oder die anderen ausübt. Das verschafft dem vermeintlichen Erlöser Raum, der eine Neuordnung des Chaos verspricht, der sich an die Spitze der Masse setzt, aber mit Blick auf die Geschichte ein Autokrat sein wird, ein Tyrann, der die zersplitterte und dadurch entrechtete Masse an der Basis selbst mit Gewalt beherrscht. Genauso hat Hannah Arendt, die herausragende politische Philosophin des 20. Jahrhunderts, die Tyrannis beschrieben: Die Bindung zwischen der Masse an der Basis und der Herrschaftsspitze ist die Gewalt.

Keine unmittelbare Form von Gewalt, aber verbale Gewalt hat Donald Trump schon kurz vor seinem Amtsantritt als 45. US-Präsident gegenüber Vertretern der Presse ausgeübt: »Nein. Sie sind dran. Nicht Sie. Ihre Organisation ist furchtbar. Ich werde keine Frage von Ihnen beantworten. Ruhe. Ruhe. Sie sind dran. Seien Sie kein Rüpel. Sie machen Fake News. Ich lasse Ihre Frage nicht zu. You are Fake News.«2

So sprang der neu gewählte Präsident der Vereinigten Staaten mit einem Journalisten bei seiner ersten Pressekonferenz des Jahres 2017 um. Nicht nur, dass sich sofort der Verdacht staatlicher Pressezensur aufdrängt, die Art und Weise eines solchen Umgangs mit den Medien ist nicht nur Gewaltausübung gegen den betroffenen Reporter. Mittelbar ist sie auch Gewalt gegen die Bürger, weil sie deren Erkenntnis behindert, ihre Vernunft beleidigt und die Suche nach der Wahrheit stört. Es scheint, als habe die amerikanische Form der Demokratie einen Tyrannen ausgebrütet. Wenn das so ist, müssen wir uns in Zukunft auf weitere Ausbrüche tyrannischer Gewalt einstellen.

Machtverlust der Bürger

Nicht zufällig setzt der Aufstieg der Tyrannis, auch des Totalitarismus, die ordnungslose Vereinzelung von Individualisten voraus. Bevor ein Tyrann die Macht ergreifen kann, müssen die Gesellschaft und ihre selbstorganisierten Gruppen – die Parteien, Gewerkschaften, Vereine – entmachtet werden. Auch hierzu haben die sozialen Medien und ihre personalisierenden Algorithmen großartige Beihilfe geleistet.

Denn Macht, politisch zu handeln (das ist eine andere Form von Macht als jener Druck, den Trump gegenüber den Journalisten ausübt), haben wir nur gemeinsam und nur dann, wenn wir miteinander kommunizieren, uns in die Augen schauen, und gemeinsam tätig werden. Nur so schaffen wir Welt, wie Hannah Arendt den politischen Raum nannte, einen öffentlichen Raum, in dem wir politische Argumente austauschen und uns auch über unsere eigenen Standpunkte klar werden. Ein solcher öffentlicher, politischer Raum entsteht, wenn wir uns versammeln, demonstrieren, eine Revolution anzetteln. Erst dann öffnet sich ein Raum für Politik. Er ist nicht einfach immer da wie unser Wohnzimmer. Nur: Soziale Medien werden uns von privaten Konzernen bereitgestellt. Schon deshalb können sie kein Raum sein für politischen Diskurs oder gar mehr Demokratie. Sie dienen einem anderen Herrn: dem Kapital, das Profit und Dividende abwerfen will.

Private Werbeplattformen

Die Metapher von der Gummizelle trifft auch deshalb zu, weil wir einem Wahnsinn verfallen sind. Wir hängen einer Fantasterei an (Kobek 2016, S. 82): Wir glauben, die privaten Technologieplattformen profitorientierter globaler Konzerne seien der richtige Platz für die Meinungsfreiheit und politische Meinungsbildung (ebd.). Genau das sind sie eben nicht. Schon die Teilhabe ist exklusiv. Wer sich nicht von Cookies und Trackern überwachen und durch das ganze Internet verfolgen lassen will, darf kein Konto bei Facebook oder Twitter eröffnen. Man lässt ihn gar nicht erst mitreden. Demokratisch ist das nicht. Wer sich weigert, eigene Bilder, Texte und Geschichten – Content – im Gegenzug für die Nutzung sozialer Medien ohne jede Form der Gegenleistung zu verschenken, muss draußen bleiben. Überhaupt: Welcher Content angezeigt werden darf, entscheidet ausschließlich eine Handvoll Konzerne auf Basis ihrer privaten, für uns intransparenten Standards. Was zensiert wird, entscheiden ihre Algorithmen. Welche Inhalte freie Rede sind, entscheiden auch nur sie. Netzhetze, Wutausbrüche,...

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