9Einführung: Das Zeitalter der Nostalgie
Wie sagte noch Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Über den Begriff der Geschichte« (1940), nachdem er in Paul Klees Zeichnung Angelus Novus (1920) den »Engel der Geschichte« entdeckt hatte:
Der Engel der Geschichte […] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.1
Betrachtet man Klees Zeichnung heute, mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach Benjamins unergründlicher und unvergleichlicher Deutung, sieht man den Engel der Geschichte nach wie vor in ungebremstem Flug. Allerdings hat er zur Verblüffung des Betrachters einen U-Turn vollzogen: Nunmehr kehrt er der Vergangenheit den Rücken und blickt entsetzt in Richtung Zukunft. Seine Flügel werden von einem Sturm nach hinten gedrückt, der einem imaginierten, antizipierten und vorauseilend gefürchteten höllischen Morgen entstammt und ihn unaufhaltsam auf das (im Rückblick, nach seinem Verlust und Verfall) paradiesisch erscheinende Gestern zutreibt. Und wieder ist 10der Sturm so stark, dass er die Flügel »nicht mehr schließen« kann.
Vergangenheit und Zukunft haben auf der Zeichnung die Eigenschaften vertauscht, die Klee ihnen, Benjamin zufolge, vor fast hundert Jahren zuschrieb. Heute ist es die Zukunft, auf die man nicht vertrauen kann, da sie vollkommen unbeherrschbar erscheint. Sie wird auf der Sollseite gebucht. Dafür erscheint jetzt die Vergangenheit auf der Habenseite — dank ihres (verdienten oder unverdienten) Rufs, ein Hort der Freiheit gewesen zu sein, auf den sich noch nicht diskreditierte Hoffnungen setzen lassen.
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Svetlana Boym zufolge, Professorin für Literaturwissenschaft in Harvard, »ist Nostalgie zwar ein Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung, zugleich aber auch eine Romanze mit der eigenen Fantasie«.2 Galt sie im 17. Jahrhundert noch als heilbare Krankheit, gegen die beispielsweise Schweizer Ärzte zu Opium, Blutegeln und Reisen in die Berge rieten, »ist aus der vorübergehenden Indisposition im 21. Jahrhundert eine unheilbare Bedingung des modernen Lebens geworden. Das 20. Jahrhundert, das mit futuristischen Utopien begann, endete in Nostalgie.«3 Nach Boyms Diagnose leidet die Gegenwart an einer »globalen Nostalgie-Epidemie, an schmachtendem Verlangen nach Gemeinschaftlichkeit und gemeinsamer Vergangenheit, an der verzweifelten Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt«. Diese epidemische Nostalgie fungiere als »Abwehrmechanismus in Zeiten beschleunig11ter Lebensrhythmen und historischer Umwälzungen«,4 der im Wesentlichen aus »dem Versprechen [besteht], jene ideale Heimat wiederzuerrichten, die im Zentrum vieler heute einflussreicher Ideologien steht und uns dazu verleiten soll, das kritische Denken zugunsten emotionaler Bindungen aufzugeben«. Das Gefährliche daran, so Boym, ist die »Neigung, unsere tatsächliche mit einer idealen Heimat zu verwechseln«.5 Diese Gefahr zeige sich am deutlichsten in der »restaurativen« Spielart der Nostalgie, wie sie uns in »nationalen und nationalistischen Revivals überall auf der Welt« begegnet, »die mit Hilfe des Rückgriffs auf nationale Symbole und Mythen, zuweilen auch indem sie Verschwörungstheorien in Umlauf bringen, eine antimoderne Mythologisierung der Geschichte betreiben«.6
Zu ergänzen wäre, dass die Nostalgie nur ein Mitglied der weitverzweigten Familie affektiver Bindungen an ein »Anderswo« ist. Derartige Gefühlsregungen (und mit ihnen auch die Verlockungen und Fallen, die Boym der »globalen Nostalgie-Epidemie« zurechnet) sind endemische, unverzichtbare Zutaten der Conditio humana seit wenigstens dem — nur schwer genau bestimmbaren — Moment, in dem den Menschen die Optionalität ihres Handelns bewusst geworden ist; genauer gesagt: in dem sie begriffen haben, dass ihre Lebensführung ihrer Entscheidungsfreiheit unterliegt, und dass die hier und jetzt existierende Welt (dank unserer naturgegebenen Vorstellungskraft) immer nur eine von unzähligen möglichen Welten ist — und zwar in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Staffellauf der Weltgeschichte hat die »globale Nostalgie-Epidemie« den Stab vom (langsam, aber un12aufhaltsam globalisierten) »Fortschrittsrausch« übernommen.
Das Rennen selbst geht jedoch weiter, ohne Pause. Die Laufrichtung mag sich ändern oder sogar die Rennbahn — anhalten wird es nie. Den ebenso unauslöschlichen wie unersättlichen inneren Imperativ, der uns antreibt und das wahrscheinlich tun wird, bis die Hölle zuzufrieren beginnt, hat Franz Kafka auf eine Formel gebracht:
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitest du, Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel?« fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.«7
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Fünfhundert Jahre nachdem Thomas Morus dem jahrtausendealten Menschheitstraum von der Rückkehr ins Paradies beziehungsweise der Errichtung eines Himmels auf Erden den Namen »Utopia« gegeben hat, nähert sich eine Hegel'sche Triade doppelter Negation der Vollendung. Nachdem die seit Morus stets an einen festen topos — einen konkreten Ort, eine Polis oder Stadt, einen souveränen Staat unter einem weisen und wohlwollenden Herrscher — geknüpfte Aussicht auf ein diesseitiges Glück von jedem bestimmbaren topos abgelöst und damit negiert worden ist, damit sie individualisiert, privatisiert und personalisiert (und nach dem Prinzip der »Subsidiarität« auf 13den Einzelnen in seinem Schneckenhaus übertragen) werden konnte, geht sie jetzt durch eine weitere Negation eine Synthese mit dem ein, was sie ihrerseits lange Zeit tapfer, aber erfolglos zu negieren versuchte. Dieser doppelten Negation klassischer, an Morus orientierter Utopien — ihre Zurückweisung, gefolgt von ihrer Wiederbelebung — entspringen die zahlreichen gegenwärtigen »Retrotopien«: Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit:
Oscar Wilde erklärte, sobald wir das Land des Überflusses erreicht hätten, müssten wir unseren Blick auf den Horizont richten und erneut die Segel setzen: »Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.« Aber der Horizont bleibt leer. Das Land des Überflusses ist in Nebel gehüllt. Just in dem Moment, in dem wir uns der historischen Aufgabe hätten stellen sollen, diese reiche, sichere und gesunde Welt mit Sinn zu erfüllen, beerdigten wir stattdessen die Utopie. Und wir haben keinen neuen Traum, durch den wir sie ersetzen könnten, weil wir uns keine bessere Welt als die vorstellen können, in der wir heute leben. Tatsächlich glauben die meisten Menschen in den reichen Ländern, daß es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen.
Das konstatiert der Historiker Rutger Bregman in seinem Buch Utopien für Realisten (dessen Untertitel Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen lautet).8
Die Privatisierung beziehungsweise Individualisierung der Idee des »Fortschritts« und des Strebens nach einem besseren Leben wurden von den herrschenden Mächten als Befreiung verkauft und von den meisten ihrer Unter14gebenen als solche begrüßt: die Entlassung aus den strengen...