Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte, daher müssen hier neben den zeitgeschichtlichen Bezügen und Videoclipstrukturen die Verbindungen zur „Blütezeit“ des Stummenfilms von 1919 bis 1929 hergestellt werden. Nur so kann die filmische Referenz metropolis in ihrem Gesamtkontext betrachtet werden. Diese Diplomarbeit beabsichtigt keine Rekonstruktion der angerissenen Themenkomplexe. Vielmehr wird eine Untersuchung beabsichtigt, die Zeit- und Lebensumstände, gesellschaftliche Strömungen sowie das Weimarer Kino in Teilen beleuchtet. Hierdurch soll, im Sinne der hermeneutischen Interpretation, der Blick auf die motivischen metropolis Zitate im Videoclip geschärft werden; mit der Intention, die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zu analysieren.
Nach dem Ende des 1. Weltkrieges erfolgte die Ablösung des Wilhelminischen Kaiserreiches durch die erste deutsche Demokratie. Mit dem Kriegsende kam es zu massiven Veränderungen im nationalen und politischen Gleichgewicht.[141] Aus der Weimarer Nationalversammlung ging eine Republik hervor. Diese wurde allerdings lediglich von einem Teil der deutschen Bevölkerung als solche empfunden, da die Weimarer Republik, als ein Kaiserreich ohne Kaiser, auf unsicherem Boden errichtet war.[142]
„Die Weimarer Jahre wurden [...] zu einer Zeit der Widersprüche und Unvereinbarkeiten: Neue demokratische Formen gegen völkische Ideologien; linksliberale Initiativen gegen konservative Tendenzen; internationale Trends gegen nationalistische Ressentiments; emanzipatorische Bewegungen gegen rassistische Ideologien etc.“[143]
Unverändert stand in den 1920ern Jahren die „Soziale Frage“ auf der Tagesordnung.[144] Nach dem Krieg verlor die bürgerliche Gesellschaft ihre Sicherheiten und breite Bevölkerungsschichten waren unzufrieden mit der politischen Situation. Die Stimmung schlug sich deutlich in den Wahlergebnissen zum ersten deutschen Reichstag am 6. Juni 1920 nieder. Die rechts- und linksradikalen Parteien konnten beachtliche Stimmzuwächse verbuchen, während die gemäßigten Parteien deutliche Einbußen verzeichneten. Die offenkundige Unzufriedenheit der Bevölkerung war jedoch nicht nur aus den Wahlergebnissen ersichtlich. 314 politische Morde bis zum Jahr 1921 und zahlreiche Putschversuche bis zum Jahr 1923 sprechen hierbei für sich.[145] Schließlich wurde die NSDAP, nach einem missglückten Umsturzversuch, aufgelöst und verboten. Ein wesentlicher Faktor für die revolutionären Unruhen war die unnachsichtige Politik der Siegermächte im Rahmen des Versailler Vertrages. Die Abstrafung Deutschlands sollte mit weitergeführten Blockaden, Abtrennungen industriell wichtiger Randgebiete, übermäßigen Reparationszahlungen sowie der Besetzung des Rheinlandes erfolgen. Dies führte zu einer drastischen Inflation, die im Spätherbst 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Durch die Einführung der Rentenmark und den Reparationsregelungen des Dawes-Plans konsolidierte sich die finanzielle Lage mit der Währungsreform.[146] Dennoch fand trotz der ökonomischen Stabilisierung kein sozialer Ausgleich statt.[147] Allgegenwärtig waren Klassenkämpfe einer, in Ober- und Unterschicht ausdifferenzierten, Gesellschaft sowie die daraus resultierenden sozialen Ungerechtigkeiten.
1925 wurde die NSDAP neu gegründet und Langs die nibelungen stand kurz vor der Premiere. Im selben Jahr begannen die Dreharbeiten zu metropolis.[148] Durch Massenproduktion wurden, im Zuge der Industrialisierung, die Voraussetzungen für Massenkonsum geschaffen. Vom amerikanischen Vorbild geprägt, stellte der „Fordismus“ die Schnittstelle aller politischen Lager der Weimarer Republik dar. Er wurde zum Leitmotiv des gesellschaftlichen Diskurses über die einzuschlagende ökonomische Richtung.[149] Zum Zwecke der Produktionssteigerung sah das Modell Henry Fords eine Rationalisierung der Fertigung bei Arbeitsprozessen vor. Zugleich sollten Preissenkungen und Lohnerhöhungen den Massenkonsum entfachen. Im Nachkriegsdeutschland lies sich das aufmerksam rezipierte amerikanische Vorbild jedoch nur reduziert umsetzten. In den „Goldenen Zwanzigern“ stand der „Amerikanismus“ für eine Modernität ohne Vorbehalte oder Bindungen. Die diesbezügliche, öffentliche Auseinandersetzung stand als Chiffre für die eigene Kultur. Die Debatte um das moderne Leben reichte von Rationalisierungseuphorie bis Zivilisationskritik.[150] Mitte der 1920er lebte die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr auf dem Land und die Großstadt galt als Lebensraum und -traum schlechthin.
Es war symbolträchtig, dass die Reichshauptstadt durch den Zusammenschluss zu „Groß-Berlin“ 1920 mit 4,3 Millionen Einwohnern, nach New York und London, zur drittgrößten Stadt der Welt wurde. Auf dem Boden des befreiten Lebensgefühls errichtete sich eine Großstadtkritik, die soziale Kälte, Verfremdung, Vereinsamung und massenhaften Schematismus thematisierte.[151] Ihrerseits definierte sich die Provinz in der Abgrenzung zu den Metropolen. Im Veränderungskontext der industriekapitalistischen Moderne sowie den damit verbundenen sozialen Phänomenen und Prozessen äußerte Lang: „Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war für Deutschland eine Zeit der tiefsten Verzweiflung, der Hysterie, des Zynismus, des ungezügelten Lasters. Entsetzliche Armut war neben großem und neuem Reichtum.“[152]
Unweigerlich führte das Milieu der Weimarer Republik zu entscheidenden Veränderungen in der Filmlandschaft. Mit Kriegsausbruch verlor der französische und italienische Film seine weltbeherrschende Vormachtstellung. Während des Krieges genoss der skandinavische Film einen kurzen Höhepunkt, mit dem Kriegsende jedoch, wurde er vom deutschen Film völlig aufgesogen.[153] Nach Holger Jörg ist der englische Film von geringer Relevanz, da er weder vor noch während oder nach dem Krieg, von sich reden machte.[154] Dem deutschen und dem amerikanischen Film gelang hingegen die Aufnahme einer eigenständigen Neugestaltung und daher auch die Emanzipation von anderen, filmschaffenden Nationen.
Diese Entwicklung markiert bis 1928/29 die Hochkultur des Stummfilms. Bis zur Machtergreifung Hitlers stieg Deutschland europaweit zum führenden Filmland auf.[155]
Sabine Hake fasst zusammen, dass in der Filmforschung das Weimarer Kino regulär in drei Phasen unterteilt wird. Der Zeitraum von 1919 bis 1924 gilt als der Auftakt des expressionistischen Films. Der Abschnitt von 1924 bis 1929 steht im Stil der Neuen Sachlichkeit. Die nationalsozialistische Positionierung und Machtübernahme bilden den Epochenabschluss der sich - ganz im Zeichen des Tonfilms - von 1929 bis 1933 erstreckte.[156]
Seit Mitte der 1910er Jahre wuchs die Bedeutung des Kinos als kulturelle Praxis zunehmend an. Die Filmästhetik dieser Jahre ähnelt einer statisch abgefilmten Theateraufführung und zeichnet sich insbesondere durch lange, halbnahe Kameraeinstellungen aus. Aus heutiger Sicht wirken die schauspielerischen Inszenierungen theatralisch, die Dramaturgien einfach und die Zwischentitel umständlich.
Der Nachkriegsfilm zeichnet sich durch wesentlich komplexere Montagestrategien und Kamerabewegungen aus. Eine neue Einstellungsvielfalt paart sich mit verhältnismäßig rasanten Orts- und Zeitwechseln. Das Setzen der Zwischentitel erfolgte wesentlich subtiler, die schauspielerische Inszenierung fand zu einer filmgerechten Darstellungsweise.[157] Simultan verstand man es einen eigenen dramaturgischen Stil zu entwickeln, dessen Besonderheiten sich speziell in der Sujet- und Themenauswahl niederschlugen.[158] Das Filmmedium galt nicht länger als eine reine Jahrmarktsattraktion.[159]
Sein Erfolg ließ sich anhand der wachsenden Anzahl der Kinobesucher, aus allen gesellschaftlichen Schichten, belegen[160]. Siegfried Kracauer kommt zu folgender Einschätzung:
„Im Gefolge dieses stürmischen Aufbruchs schwanden die letzten Vorurteile gegen das Kino dahin. Noch wichtiger war, daß [sic!] der Film schöpferische Energien an sich zog, die auf eine Gelegenheit erpicht waren, die neuen Hoffnungen und Ängste, mit denen die Ära erfüllt war, angemessen auszudrücken. Kaum aus dem Krieg heimgekehrt drängte es die jungen Schriftsteller und Maler – wie ihre ganze Generation von dem Wunsch beseelt, mit dem Volk zu kommunizieren – in die Filmstudios.“[161]
Diesem Gedankengang folgend, resümiert Jörg, dass ohne dieses enorme Potential an schöpferischen Kräften und Begabungen, der deutsche Stummfilm niemals Weltformat hätte erreichen können.[162]
Die 1920er standen ganz im Zeichen des fantastischen Films, der sogenannten „Tendenz Méliès“. Sie versteht sich als Abgrenzung von der realistischen, dokumentarischen Weltabbildung der Vorjahre, der...