Der ägyptische Schriftsteller Sonallah Ibrahim wollte nie Schriftsteller werden, sondern ein politischer Aktivist. Doch während eines Gefängnisaufenthaltes „faßte er den Entschluß, Schriftsteller zu werden“. „I never intended to be a writer. I wanted to become a political activist. […] I had imagined that literature was a waste of time […] Ironically it was in prison, under the worst possible circumstances, that I realised the compulsion to write.“[33] Er musste jedoch seinen Wunsch, politisch tätig zu sein, nicht für die Schriftstellerei aufgeben, da die arabische Literatur einem keine Wahl lasse, die Politik zu umgehen: „The problem with Arabic literature in general is that it is thoroughly bound up with politics because politics is ever-present in Arab lives.“[34]
Sonallah Ibrahim wurde 1937 in Kairo geboren. Seine Mutter war eine aus armen Verhältnissen stammende Krankenschwester und sein Vater ein hoher Beamter aus der oberen Mittelschicht.[35] 1952 nahm er das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität von Kairo auf, das er nach vier Jahren ohne Abschluss beendete. Anstatt auf das Studium konzentrierte sich Ibrahim vielmehr auf journalistische und vor allem politische Aktivitäten und wurde 1959 aufgrund seiner kommunistischen Einstellung im Rahmen einer Anti-Links-Kampagne des Präsidenten Nasser von einem Militärgericht zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nach fünfeinhalb Jahren wurde er aber zusammen mit vielen anderen Inhaftierten dank einer Generalamnestie entlassen.[36] In einem Alter von zweiundzwanzig Jahren im Gefängnis zu sitzen sei eine grausame aber reiche Erfahrung gewesen, erzählte Ibrahim in einem Interview.[37] Nach der Entlassung verdiente er sich zuerst seinen Lebensunterhalt als Übersetzer und Buchhändler.[38] Im Jahr 1966 begann Ibrahim als Korrespondent für die ägyptische Nachrichtenagentur MENA (Middle East News Agency) zu arbeiten und sein erstes Buch The smell of it wurde veröffentlicht.[39] Ende der 60er Jahre wechselte er nach einem kurzen Aufenthalt in Beirut in die staatliche Nachrichtenagentur der DDR nach Ost- Berlin. In dieser Zeit hörte er die Musik von Johann Sebastian Bach, die ihn von einer schweren Depression geheilt habe, wie er Samir Nasr in einem Gespräch anvertraute.[40] Drei Jahre später erhielt Ibrahim ein Stipendium, das ihm ermöglichte, an der Filmhochschule in Moskau Kinematographie zu studieren.[41] 1974 kehrte Ibrahim nach Kairo zurück und heiratete. Er arbeitete noch eine kurze Zeit für einen Verlag und widmete sich dann ausschließlich dem Schreiben. Seine Satire Der Prüfungsausschuss, die Grundlage der vorliegenden Arbeit, erschien 1981. 1998 lebte Ibrahim sieben Monate in den USA und unterrichtete Literatur an der Universität Berkeley in Kalifornien.[42] Auf der Grundlage seiner dort gemachten Erfahrungen verfasste Ibrahim den Roman Amrikanli, der 2003 veröffentlicht wurde. In demselben Jahr lehnte er „den (hochdotierten) Preis des ägyptischen Kultusministeriums für den besten arabischen Roman“[43] ab, da „ [d]er Regierung […] die Glaubwürdigkeit zur Verleihung eines solchen Preises in Anbetracht der Tatsache [fehle], daß sie das amerikanische Hegemoniestreben in der Region […], und Korruption und Verschlechterung des Lebensstandards in Ägypten toleriere.“[44] Damit wurde Ibrahim zum Symbol des Widerstands gegen das Mubarak-Regime. Als ein Jahr später die arabischen Länder als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert wurden, wurde Ibrahim mit dem Ibn-Rushd-Preis ausgezeichnet. In diesem Rahmen hielt er eine Rede am Goethe-Institut in Berlin,[45] in der er Stellung zu internationalen Konzernen, der Globalisierung und darüber, „wie die Weltmacht Amerika ihre Hand auf Iraks Öl [legt] während das palästinensische Volk in aller Öffentlichkeit weiter vernichtet wird“[46] nahm. Auch im Prüfungsausschuss setzt er den Ich-Erzähler einer Konfrontation mit der Weltmacht USA, der Globalisierung und Großkonzernen aus.
Ibrahims Biographie enthält keine Hinweise darauf, dass er vor dem Verfassen der Satire Der Prüfungsausschuss in den USA war. Somit fällt ein Aufenthalt in den USA als direkte Quelle weg. Es kann hingegen angenommen werden, dass Ibrahim seinen Roman basierend auf politischen Ereignissen in Ägypten und anderen arabischen Ländern sowie indirekten Quellen wie von Ibrahim rezipierte sowie übersetzte amerikanische Literatur verfasste. Kann Ibrahims Vorgehensweise also mit derjenigen von Karl May verglichen werden? Nein. Während Karl May seine Repräsentationen von den Amerikanern ausschließlich auf der Basis von Recherchen entwarf, verfügte Ibrahim auch über direkte Quellen, da er Amerika in seinem Land in den Medien, auf Werbetafeln, als Wirtschaftsunternehmen, Personen und Produkte deutlich vor sich sah. Denn er erlebte die schwere Wirtschaftskrise in Ägypten Ende der 60er Jahre und die damit verbundene politische Umorientierung, die Anwar al-Sadat vornahm: Ägypten sollte sich an den Westen und besonders an die USA anschließen, was 1974 durch ein Gesetz ermöglicht wurde, das zur Öffnung des Landes „für den Weltmarkt, zur Liberalisierung des Handels und Förderung ausländischer Investitionen“[47] führte. Durch die sogenannte Infitah-Politik[48] erfolgte eine Konzentration auf materielle Werte sowie billigen Konsum. Westliche Unternehmen eröffneten Niederlassungen und gründeten Joint Ventures mit lokalen Unternehmen. Doch nur ein kleiner Teil der Oberschicht, zu denen Spitzenfunktionäre und Geschäftsleute zählten, profitierte davon.[49] Durch die steigende Inflation verschlechterte sich die Situation der Mittelschicht und es entstand eine immer größere Differenz zwischen arm und reich.[50]
Der Prüfungsausschuss gehört somit der Infitah-Literatur[51] an und die „negativen Auswirkungen der Sadatschen Wirtschaftspolitik, wie Korruption, Ausbeutung und wachsender amerikanischer Einfluß“[52] werden später anhand der Repräsentationen aufgezeigt. Zuvor soll ein Einblick in das Ägypten der Infitah-Ära gegeben werden, das Ibrahim durch den Ich-Erzähler skizzieren lässt und das als direkte Quelle für die Repräsentationen betrachtet werden kann, da der Autor selbst darin lebte und dessen Alltag ihn prägte.[53]
Der Roman zeichnet ein Bild von Ägypten als „armes kleines Land“ (S. 34)[54] voller Kontraste, das unter der Infitah-Politik leide.[55] Die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung fahre in maroden Bussen, trinke verschmutztes Leitungswasser und besitze kein funktionierendes Telefon während andere in Palästen wohnen, in denen das Wasser gefiltert wird und teure Autos, ausgestattet mit Mobiltelefonen, fahren.[56] Es ist ein Land, das von Kriegen heimgesucht wurde (vgl. S. 56) und kein Selbstbewusstsein besitzt, das mit dem Pyramidenbau, bei dem die Ägypter ausländischer Hilfe bedurften, da sie nicht ausreichend über „architektonische Kenntnisse und […] schöpferische Fähigkeiten“ (S. 38) verfügten, angedeutet wird. Die Strom- und Wasserversorgung sowie die Transportmittel fielen regelmäßig aus und in den Medien wurden fortlaufend die gleichen Nachrichten und Bilder gezeigt (vgl. S. 63). Durch Import wurden die einheimische Fabriken und Produkte verdrängt und die Menschen ausgebeutet.[57] Die vom Ich-Erzähler beschriebenen und von Guth zusammengefassten Phänomene können noch weiter fortgesetzt werden.
Die Repräsentationen der USA können weiterhin nur unter Einbeziehung der schriftstellerischen Situation gedeutet werden. Guth macht darauf aufmerksam, dass Schriftsteller der Infitah-Ära, die früher zu den oppositionellen Linksintellektuellen gehörten, zu denen Ibrahim zählt, zwar unter Nasser verhaftet wurden, aber auch von staatlichen Förderungen profitierten, die unter Sadat entfielen. Durch die Öffnungspolitik wurden Verlage privatisiert und nebenberufliche Tätigkeiten beim Staat erschwert, wodurch die Schriftsteller in soziale Nöte kamen.[58]
In der Rede[59], die Ibrahim 2004 am Goethe-Institut in Berlin hielt, nannte er zahlreiche Autoren, die er im Gefängnis gelesen hat. Davon sollen hier nur die Schriftsteller genannt werden, die als indirekte Quellen für die Repräsentationen der USA relevant sein könnten. Wie für den ägyptischen Schriftsteller Al Aswany war Ernest Hemingway auch für Ibrahim ein Vorbild. Kritische Einblicke in amerikanische Verhältnisse könnte er durch Erskin Caldwell, Jewuschenko, der mit dem amerikanischen Walt-Whitman-Preis ausgezeichnet...