Kapitel 1
Was bleibt von Österreich?
TRAUTL BRANDSTALLER
Verfolgt man die Tagespolitik in Österreich, könnte man den Eindruck gewinnen, das Land bestehe nur aus seinen Bundesländern, der Bund sei in Auflösung, die Bundesregierung sei nur eine Schattenregierung, de facto werde das Land von den Landeshauptleuten oder der »Landeshauptleute-Konferenz« regiert, einem Gremium, das nirgendwo in der Verfassung aufscheint.
Dieser Eindruck ist nicht nur auf personelle Konstellationen zurückzuführen. Wie immer muss man in die Geschichte zurückgehen, in die Geschichte von Institutionen und Mentalitäten, die »histoire de longue durée«, für die Fernand Braudel in Österreich ein schönes Forschungsfeld, ein Spezialkapitel der Nationsbildung, vorgefunden hätte. Österreich ist bekanntlich eine »verspätete Nation«, eine Nation, die sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts unter schwierigsten Bedingungen entwickelt hat.
Zwischen Föderalismus, Identitätsproblemen
und europäischer Verfassung
»Das, was bleibt, ist Österreich«, formulierte zynisch George Clémenceau. Österreich-Ungarn, eine europäische Großmacht, war von 60 Millionen Einwohnern auf sechs Millionen geschrumpft zu einem Kleinstaat. Und diese Republik glaubte von Anfang an nicht an ihre eigene Lebensfähigkeit, sie wollte sich an Deutschland anschließen, was ihr die Siegermächte des Ersten Weltkriegs aber ausdrücklich verboten hatten.
Die Republik, die sich eine bundesstaatliche Verfassung gab, drohte gleich zu Beginn zu zerfallen. Vorarlberg wollte zur Schweiz (manche sehen auch heute noch ihr Heil im Nachbarland, dem sie mental durchaus verwandt sind). Tirol konnte den Verlust von Südtirol nicht verschmerzen und empfand wenig Solidarität mit der Wiener Zentrale, die keine Volksabstimmung durchgesetzt hatte, Salzburg, bis 1803 ein eigenständiges, von Fürst-Erzbischöfen regiertes Land, zwischen 1810 und 1816 zu Bayern gehörig, wäre am liebsten in ein Bündnis mit dem Nachbarn Bayern eingetreten. Und auch die Oberösterreicher empfanden starke Sympathien für die Bayern. In Kärnten beanspruchte das neugegründete Königreich Jugoslawien den südlichen, slowenisch dominierten Teil des Landes, was zu einem blutigen Abwehrkampf führte, der noch für Jahrzehnte die Stellung der slowenischen Minderheit belasten sollte. Im Osten kam es zu einer Volksabstimmung, die den größten Teil Deutsch-Westungarns als neugebildetes Bundesland »Burgenland« zu Österreich brachte. Nur die Steiermark zeigte keine Abspaltungstendenzen. Das Kernland blieb Niederösterreich, das mit der ehemaligen Reichshaupt- und Residenzstadt Wien bis 1922 ein gemeinsames Bundesland bildete.
Der Föderalismus war also realpolitisch eine schwere Geburt. Dem entsprach die noch schwierigere Geburt der Verfassung. Karl Renner, als Staatskanzler und führender Sozialdemokrat, trat für einen zentralistischen Einheitsstaat ein, sein christlich-soziales Gegenüber, Vizekanzler Jodok Fink aus Vorarlberg, plädierte für einen starken Föderalismus und eine schwache Zentralregierung.
Hinter diesen Fronten steckten natürlich die massiven ideologischen Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen. Wien war die »Hochburg der Roten«, die Länder waren mehrheitlich »schwarz«, ursprünglich auch das neu erworbene Burgenland, eine Ausnahme bildete Kärnten. In Kärnten gab es eine vorwiegend protestantische Bevölkerung, die aufgrund ihrer Abneigung gegen das katholische Herrscherhaus der Habsburger schon immer großdeutsch eingestellt war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der »Kampf um die österreichische Identität« (Friedrich Heer 1981) in neuer Form. Hitler hatte, wie ein deutscher Sozialdemokrat aus dem Widerstand formulierte, den Österreichern die Liebe zu Deutschland endgültig ausgetrieben. Der Streit um die »österreichische Nation« trennte erneut die politischen Lager. Die Konstruktion des »Österreich-Mythos« nahm ihren Anfang.
Führend waren die Konservativen, Österreichs Beginn wurde bis in die Zeit der Babenberger, ins Jahr 976, zurückverlegt, der »homo austriacus« als besonders edles Exemplar der menschlichen Spezies vorgeführt, eine richtige Österreich-Mythologie entstand.
Die Sozialdemokraten standen dieser Mythenkonstruktion eher skeptisch, wenn nicht aggressiv gegenüber. Man erinnere sich an Friedrich Adlers Zitat von der österreichischen Nation als »widerlicher reaktionärer Utopie«, das lange von den wahren »Linken« in der SPÖ verteidigt und später von Jörg Haider genüsslich zitiert wurde. Auch einer Einbindung der Habsburger in die österreichische Geschichte stand die Sozialdemokratie lange ablehnend gegenüber, was Günther Nenning treffend unter »Habsburg-Kannibalismus« rubrizierte. Zahlreiche Bücher versuchten über die Jahre die Befindlichkeit der »österreichischen Seele« (Erwin Ringel 1984) – von Friedrich Heer im Jahr 1958 mit »Land im Strom der Zeit« bis zu Robert Menasses »Land ohne Eigenschaften« 1992 – zu erkunden.
Jedes Jahrzehnt setzte neue Schwerpunkte in dieser Analyse der nationalen Befindlichkeit: Heer wollte ein österreichisches Langzeitmotiv in der Vermittlung zwischen dem Osten und dem Westen Europas erkennen, Ringel analysierte die tiefsitzenden autoritären Strukturen des Landes, verkörpert in Kaiser Franz Joseph und dessen autoritärem Regierungsstil, und Robert Menasse bezog sich auf den Opfermythos und dessen Verlogenheit.
Es waren vor allem die ersten Jahre der Zweiten Republik, die von diesen ideologischen Kämpfen geprägt, aber schließlich durch ein gemeinsames Bekenntnis zur österreichischen Nation beendet wurden (auch wenn das »dritte Lager«, von VdU bis FPÖ, bis zuletzt eine solche Nation ablehnte und sich als Teil der deutschen Kulturgemeinschaft verstand). Dennoch waren die politischen »Lager«, wie sie damals noch genannt wurden, geeint im Kampf für den Wiederaufbau des Landes und für die Erringung der völkerrechtlichen Souveränität durch den Staatsvertrag.
Der Staatsvertrag und die mit ihm verbundene Neutralität stellten eine tiefe Zäsur in der kollektiven Seelenlage der jungen Nation dar. Die Neutralität entwickelte sich zur neuen Staatsideologie, die auch die lange dominierenden Länderinteressen und föderalen Egoismen überdeckte und überwand. »Zwischen den Blöcken«, »Mittler zwischen Ost und West«, »Friedensstifter« – diese Schlagworte füllten die Sonntagsreden der Politiker, auch wenn sie nur selten von realen politischen Aktionen gedeckt waren. Dass es diese sehr wohl auch gab, soll in einem anderen Kapitel ausführlich behandelt werden.
Hier geht es eher um die Ideologie der Neutralität, die von vielen Bürgern und Bürgerinnen als Aufforderung zur Nichteinmischung und als Ausstieg aus der Geschichte missverstanden wurde.
Die Neutralität wurde zu einem Baugesetz der Republik, zu einer der zentralen Säulen der österreichischen Verfassung, zum Kernstück der österreichischen Identität. Wer immer daran rüttelte, weckte den Unmut der Bevölkerung. Als spätere Bundeskanzler einen Beitritt Österreichs zur NATO in Erwägung zogen bzw. hinter den Kulissen bereits Gespräche führten, stürzten sie in den Umfragen ab. Wolfgang Schüssel ließ die heiße Kartoffel NATO-Beitritt daher schnell wieder fallen.
Das »annus mirabilis« 1989 brachte etliche Säulen der Republik ins Wanken. Die Neutralität schien plötzlich ihren Sinn verloren zu haben. Der gleichzeitige Machtverfall der ehemals großen Parteien und der Aufstieg einer neuen Rechten schwächten den Zusammenhalt der Republik und stärkten die Autonomie der Länder – noch ehe der Beitritt zur Europäischen Union das verfassungsrechtliche Gefüge durcheinanderbrachte.
Hans Kelsen, der von Karl Renner damals berufene Jurist für die Ausarbeitung der neuen Bundesverfassung, sollte einen Kompromiss aus den verschiedenen, von den Parteien vorgelegten Vorschlägen formulieren. So vorbildlich die Grundstruktur dieser Verfassung noch heute ist, sosehr sie durchaus als Vorlage für einen modernen Rechtsstaat (Gewaltenteilung, Stufenbau der Rechtsordnung, Höchstgerichte) gelten kann, sosehr sind viele Kompetenzfragen zwischen Bund und Ländern unbefriedigend gelöst. An vielen dieser Kompromisse leidet die Republik heute. Eklatantestes Beispiel: die seit Jahrzehnten ungelöste Schulfrage, an deren Blockade beide ehemals großen Parteien beteiligt waren und sind.
Viele Politikfelder, die sich seit 1920 neu entwickelt haben – vom Sozialstaat bis zur Umweltfrage, von Forschung und Universitäten bis zu öffentlichen Investitionen, vom Gesundheitssystem bis zur Verkehrsinfrastruktur, von der Gemeindeautonomie bis zur europäischen Integration – erfordern eine Neu- und Umverteilung der Kompetenzen.
Die Realpolitik hat sich bislang bei jeder umstrittenen Frage, die nicht durch die Verfassung gelöst werden konnte, darauf geeinigt, einfache Gesetze in den Verfassungsrang zu heben – was nicht nur zum Missbrauch der Verfassung, sondern auch zu einer so anschwellenden Menge von Verfassungsbestimmungen geführt hat, dass sie heute kaum noch ein Jurist überblicken kann.
Verfassungsrechtler sprechen von einem Verfassungslabyrinth. Und keine Ariadne ist in Sicht, die, mit rotem Faden ausgestattet, aus dem Labyrinth herausfindet.
Eine neue Verfassung braucht das Land
[1] Viele Faktoren sprechen für einen Gesamtumbau der Verfassung – entsprechend dem Gesetz der Subsidiarität. Die schwarz-blaue Regierung von Wolfgang Schüssel startete im Jahr 2003 einen groß angelegten Versuch, einen solchen Gesamtumbau auf den Weg zu bringen, den sogenannten »Österreich-Konvent«. Das Resultat der fast zwei Jahre tagenden Runde von...