FEUERWERK FÜR GRAUE ZELLEN
DIE NEUROBIOLOGIE DES SPIELENS
»Der Mensch«, notierte Friedrich Schiller, »spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«3 Man spürt sogleich die Wucht, die diesen Worten innewohnt. Gewichtiges ist hier gesagt: über den Menschen und über das Spiel, da beider Wesen hier aufs Innigste verwoben werden. »Menschsein« – so will es scheinen – wird hier mit »Spielen« gleichgesetzt. Oder genauer: Eigentliches Menschsein, voll entfaltetes Menschsein, erblühtes Menschsein, lebendiges Menschsein ereignet sich im Spiel. Das heißt: Wenn wir verstehen wollen, was es heißt, ein Mensch zu sein – ja mehr noch: wenn uns daran gelegen ist, im eigentlichen Sinne Mensch zu sein –, dann sind wir offenbar gut beraten, uns zu fragen, was es mit dem Spiel auf sich hat. Dann müssen wir verstehen, was mit uns geschieht, wenn wir spielen.
Kann es sein, dass das Spiel eine Dimension unseres Lebens ist, an der wir immer dann teilhaben, wenn wir spielen? Und dass wir uns deshalb, wenn wir spielen, auf eine intensive, auf eine echte Weise lebendig fühlen? Dann wäre Spielen etwas völlig anderes als bloßer Zeitvertreib. Dann hieße Spielen: die eigene Lebendigkeit erfahren, Verbundenheit erleben, die eigenen Möglichkeiten erkunden und unser kreatives Potenzial entfalten. Dann würden wir immer dann, wenn wir spielen, diesen besonderen Raum betreten, in dem wir uns als aktive, lustvolle und kreative Entdecker und Gestalter unserer Möglichkeiten erfahren. Das muss es sein, was Friedrich Schiller und – wie wir später noch sehen werden – eine ganze Reihe großartiger Denker auch schon vor ihm erspürt und erkannt haben: dass der Mensch nur dann seinem Wesen gerecht wird, wenn es ihm zumindest vorübergehend gelingt, die Begrenzungen seines alltäglichen Lebens zu überwinden und ein Tor aus der Welt des Notwendigen und Zweckdienlichen in die Welt des Möglichen zu öffnen – im Spiel.
Was zu Schillers Zeiten und auf der Grundlage geisteswissenschaftlicher Ansätze noch nicht so genau fassbar und beschreibbar war, lässt sich inzwischen aber auch mithilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse weiter untermauern und präzisieren. Vor allem die Befunde, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten dank moderner bildgebender Verfahren im Bereich der Neurowissenschaften zutage gefördert werden konnten, machen es heute möglich, recht detailliert zu beschreiben, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir es nicht mehr primär zur Organisation des Alltages, zum Erreichen irgendwelcher Ziele oder zur Verfolgung bestimmter Zwecke einsetzen. Wenn es uns also gelingt, den Raum zu betreten, in dem wir frei und unbekümmert denken und handeln, wahrnehmen und erkennen und dabei Neues entdecken und das Spektrum unserer Möglichkeiten erkunden können.
Was die Hirnforscher dann, beispielsweise mittels funktioneller Kernspintomografie, im Gehirn eines in dieser Weise spielenden Menschen messen können, ist eine Verringerung des Sauerstoffverbrauchs aufgrund einer verminderten Aktivität der Nervenzellverbände im Bereich der Amygdala. Das ist diejenige Hirnregion, die immer dann besonders aktiv wird, wenn wir Angst haben.
Im Spiel verlieren wir also unsere Angst. Gleichzeitig kommt es zu einer verstärkten Aktivierung all jener neuronalen Netzwerke, die gebraucht werden, um die jeweiligen Herausforderungen des betreffenden Spiels zu meistern. Je komplexer das Spiel ist, desto mehr solcher regionalen Netzwerke werden gleichzeitig aktiviert. Genau das ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir durch neuartige Verknüpfungen der in diesen regionalen Netzwerken verankerten Wissensinhalte neue kreative Einfälle und Ideen entwickeln können. Schließlich lässt sich bei jedem gelungenen Zug, bei jeder gut bewältigten Aufgabe auch noch beobachten, dass bestimmte Neuronenverbände im Mittelhirn, die als »Belohnungszentren« bezeichnet werden, verstärkt zu feuern beginnen. Das damit einhergehende Gefühl erleben wir als Freude, als Lust, manchmal sogar als Begeisterung. Spielen stärkt also unsere Lebensfreude.
Allein diese drei wichtigen Erkenntnisse der Neurobiologie bringen uns einer Antwort auf die Frage, welche Bedeutung das Spiel für uns hat und was mit uns geschieht, wenn wir spielen, deutlich näher. Immer dann, wenn wir zu spielen beginnen, öffnet sich für uns eine Welt, in der all das verschwindet, was uns im alltäglichen Zusammenleben daran hindert, die in uns angelegten Potenziale zu entdecken und zu entfalten. Wenn wir wirklich spielen, erleben wir auch keinen Druck und keinen Zwang mehr, und wenn es nichts mehr gibt, was uns bedrängt, verschwindet auch die Angst. Deshalb fühlen wir uns immer dann, wenn wir spielen, lustvoll und frei.
Die befreiende und verbindende Kraft des Spielens
Nur dann, wenn wir nicht mehr auf die vielfältigen Bedrängnisse und Notwendigkeiten reagieren müssen, die das Leben außerhalb des Spiels ständig für uns bereithält, sind wir in der Lage, wirklich frei zu denken und zu handeln. Dann erst können wir unbekümmert und ohne Angst erkunden und erproben, was alles möglich ist. Kinder spielen noch genau so und finden dabei selbst heraus, was alles geht, aber auch, was nicht funktioniert. Sie hören sofort auf zu spielen, wenn sie unter Druck geraten (beispielsweise wenn sie spüren, dass sie beobachtet werden) oder wenn es ihnen nicht gut geht (weil sie krank sind oder ein Problem sie belastet). Und – es gibt kaum einen besseren Indikator dafür – wenn sie sich verunsichert fühlen und Angst haben.
Sobald sie mit anderen zusammen zu spielen beginnen, erkennen Kinder recht schnell, dass es mehr Freude macht, wenn das, was spielerisch alles möglich ist, durch bestimmte Regeln begrenzt wird. Und spätestens als Erwachsene haben wir dann alle meist recht gut gelernt, diese Spielregeln einzuhalten. Wir halten uns dann an das, was innerhalb der Spielzeit und auf dem »Spielplatz« als Regelwerk von uns als Voraussetzung dafür erkannt worden ist, damit das Spiel ein Spiel bleibt. Es muss jedem Einzelnen die Möglichkeit bieten, sich innerhalb der Spielregeln frei zu fühlen, seine kreativen Potenziale zu entfalten, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vervollkommnen, sein Wissen und Können zu erweitern, sich also spielerisch weiterzuentwickeln.
Das geht zur Not auch allein, aber deutlich mehr Freude erleben wir, wenn wir mit anderen zusammen spielen. Auch hier brauchen wir bestimmte Regeln, auf die wir uns einigen, damit das Zusammenspiel gelingen kann. Und wenn es gelingt, fühlen wir uns mit unseren Mitspielern in einer Spielgemeinschaft verbunden.
Diese beiden Erfahrungen – Freiheit und Autonomie einerseits und Verbundenheit und Gemeinschaft andererseits – sind neben der Angstfreiheit die entscheidenden Gründe dafür, weshalb wir Menschen so gerne spielen. Am Anfang unseres Lebens, zum Teil sogar schon im Mutterleib, haben wir alle die grundlegende Erfahrung gemacht, dass Wachstum, eigene Weiterentwicklung und später auch Autonomie und Freiheit in engster Verbundenheit mit anderen, zumindest einer Mutter oder einem Vater, möglich sind. Diese frühe Erfahrung ist tief in unserem Gehirn verankert, und zeitlebens suchen wir alle nach einer Art des Zusammenlebens mit anderen Personen, die es uns erlaubt, uns gleichzeitig so frei und so verbunden wie möglich zu fühlen. In Freiheit und Verbundenheit leben zu können, ist deshalb ein Grundbedürfnis von uns Menschen. Es lässt sich nicht immer – und bei manchen Personen auch nur sehr selten – stillen. Sehr leicht kann es dazu kommen, dass sich statt Verbundenheit klebrige, jede Autonomie unterdrückende Abhängigkeitsbeziehungen herausbilden. Und wenn dann das Bedürfnis nach Freiheit unstillbar wird, versuchen auch schon Kinder, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihre Autonomie zurückzugewinnen.
Aber im Spiel, im Zusammenspiel mit anderen (und unter Einhaltung der Spielregeln) können wir genau das wiedererleben, was draußen, in der Welt der Notwendigkeit und Zwecke, so selten zu finden ist: dass es geht! Dass es möglich ist, sich mit anderen – und sei es auch nur für die Dauer des gemeinsamen Spiels – gleichzeitig verbunden und frei zu fühlen.
Deshalb hat das gemeinsame Spiel solch eine enorme Anziehungskraft. Deshalb erscheint es so, als wäre es ein uns Menschen angeborenes Bedürfnis. Und deshalb lässt es sich auch nicht unterdrücken – vorübergehend vielleicht, aber niemals dauerhaft. Damit Menschen aufhören zu spielen, müssten sie ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Verbundenheit ebenso verloren haben wie ihr Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie.
Bisweilen, etwa im Verlauf besonders leidvoller Phasen der Menschheitsgeschichte, werden die Gelegenheiten zum spielerischen Ausprobieren dessen, was alles möglich ist, sehr eingeschränkt. Und manchmal wird unser Hang zum Spielen auch von geschäftstüchtigen und gewinnorientierten Personen missbraucht. Aber dauerhaft unterdrücken lässt sich das Spielbedürfnis von uns Menschen offenbar nicht. Es kommt immer wieder hoch und bricht sich Bahn. Sogar in den Vernichtungslagern des NS-Regimes, von Auschwitz bis Buchenwald, gab es Todgeweihte, die bis zuletzt nicht aufgehört haben, ihr Leben erträglicher zu machen, indem sie spielten. Beispielsweise in Form von Theateraufführungen für ihre Mithäftlinge.
Dieses dem Menschen eigene Spielbedürfnis scheint also tief in unseren Gehirnen verankert zu sein. Diese Vermutung ist naheliegend und auch zutreffend. Aber bevor wir uns nun gleich allzu schnell mit motivationssteuernden Netzwerken und Belohnungssystemen im Gehirn beschäftigen, mit »Glückshormonen« und mit dem, was sonst noch alles dort oben aktiviert wird,...