Krümel
Es ist abends, irgendwas nach 21 Uhr. Emma ist endlich eingeschlafen, wer hätte gedacht, dass ein sechs Monate altes Baby solch starke Bauchschmerzen haben kann? Ich zumindest nicht.
Es ist Oktober, der Kalender zeigt das Jahr 2008. Meine Tochter und ich wohnen in einer kleinen Altbauwohnung, nahe dem Zentrum von Berlin. Wir wohnen allein, da Emmas Papa und ich schon zu Beginn der Schwangerschaft feststellten, dass unsere Vorstellungen vom Leben zu weit auseinanderklaffen. Ich bin 24 Jahre alt und beschwere mich bei guten Freunden anscheinend zu häufig darüber, dass mein Zug nun abgefahren sei. Ich jammere, dass es fast unmöglich zu sein scheine, »den einzig Wahren«, den »Mann fürs Leben« zu finden. Irgendwann können sie es nicht mehr hören und melden mich auf einer Single-Plattform im Internet an. Ich belächele das und nehme es nicht ernst. Das alles ist mir zu neumodisch, und es treiben sich mit Sicherheit ausschließlich merkwürdige Menschen dort rum.
An diesem Abend bekomme ich das dritte Mal eine E-Mail von einem Mann, der ähnlich verzweifelt sein muss wie ich. Er ist auf derselben Plattform angemeldet und nennt sich Smallcrumb. Ich frage mich, welcher Mann, der eine Frau sucht, sich tatsächlich und voller Ernst »Krümel» nennt. In seinem Profil habe ich gelesen, dass er später einmal keine Kinder möchte. Ich schaue zu Emma, die eingekuschelt in ihrem Babybett liegt und an ihrem Schnuffeltuch nuckelt. Krümels Lebensplan sieht also andere Dinge vor als meiner. Ich ignoriere seine Nachricht – wie schon die beiden davor.
Am nächsten Tag schreibt mir der Mann mit dem seltsamen Namen erneut. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich sehe mir sein Profil noch mal genauer an. Er hat verschiedene Fotos hochgeladen, durch die ich mich hindurchklicke. An einem bleibe ich hängen, und obwohl ich es mir nicht eingestehen will – das Bild ist wirklich nett, sehr nett. Ich gucke es immer wieder an. Krümel trägt eine blaue Jacke, einen Ohrring und hat verwuschelte Haare. In der Hand eine riesige Kaffeetasse und im Gesicht ein Lächeln, ein wahnsinnig schönes Lächeln, das Seinesgleichen sucht.
Ich antworte ihm und erzähle ihm gleich, dass ich eine wundervolle Tochter habe, die anscheinend Brokkoli nicht verträgt und nun Bauchweh hat. Ich klicke auf »Senden« und rechne nicht mit einer Antwort. Krümel schreibt trotzdem recht schnell zurück und wünscht gute Besserung. Er benutzt die üblichen Floskeln, fragt, wie es mir geht, und meint, dass er sich freue, dass ich mich zurückgemeldet hätte. In den nächsten Tagen schreiben wir hin und her, um uns am Ende sogar zu verabreden. Ich kann’s nicht fassen!
Wir treffen uns an einem Sonntagnachmittag. Eine gute Freundin passt derweil auf Emma auf. Eigentlich wollen wir in den Park gehen, das Wetter hat allerdings andere Pläne. Es ist grau, es regnet und kalt ist es sowieso.
Ich stehe an unserem Treffpunkt und warte. Zwanzig Minuten später warte ich immer noch. Weitere zwanzig Minuten ebenfalls. Ich habe keine Ahnung, was mich dazu veranlasst, so lange auf einen Mann zu warten, den ich gar nicht kenne.
Irgendwann schreibt mir Krümel, der eigentlich Simon heißt, dass er sich etwas verspäten werde (ach was!), die Straßen seien voll. Zum Glück bin ich überzeugte S-Bahnnutzerin. Dann sehe ich ihn. Meine Befürchtung, Simon eventuell nicht zu erkennen, erübrigt sich. Er kommt lächelnd auf mich zu, gibt mir seine Hand und sagt »Hallo«. Die Haare sind genauso strubbelig wie auf seinem Foto, die Regentropfen rollen über sein Gesicht, und sein Lächeln ist genau jenes, das mich auf seinem Bild so fasziniert hat. So warm und so schön. Seine Zähne sind weiß, er trägt eine graue Hose und Sneaker, die er anscheinend sehr liebt – sie sind abgetragen und verschrammt und spiegeln wider, dass er lebt. Sehr sympathisch.
Wir gehen in ein Café. Simon fragt nach Emma, erzählt von seinen Hobbys – Motorradfahren, Superhelden, Star Wars, Lesen und – ja, wirklich! – Shoppen. Ich mache einen Witz darüber, weil ich shoppen nicht leiden kann. Es wird nicht still, wir reden über die verschiedensten Dinge. Es ist fast so, als würden wir uns bereits seit Ewigkeiten kennen.
Als der Regen vor dem Fenster nachlässt und es nur noch nieselt, gehen wir doch noch in den Park, an eine Stelle, an der zwei riesige Schaukeln stehen. Ich will unbedingt schaukeln, Simon nicht. Er stellt sich daneben, breitbeinig und mit verschränkten Armen. Er hat in diesem Moment etwas von einem Bodyguard, der darauf aufpasst, dass ich nicht von der nassen Schaukel rutsche, und der mich auffängt, falls doch. Jedes Mal, wenn ich etwas höher schaukele, zuckt er. Er guckt mich ununterbrochen an und lächelt immerzu dieses Lächeln, das ich so toll finde.
Der Regen wird wieder stärker, aber ich möchte diesen Moment nicht verlassen. Simon anscheinend auch nicht. Ich schaukele und er lächelt tapfer weiter. Erst als wir nass bis auf die Haut sind, gehen wir in ein weiteres Café. Triefend und zitternd vor Kälte tropfe ich den Boden voll. Simon gibt mir seine blaue Jacke, obwohl sie genauso nass ist wie der Rest. Macht nichts.
Als zwei dampfende Tassen vor uns stehen, frage ich ihn, warum er keine Kinder haben will. Simon wirft mir einen langen Blick zu, bevor er sagt: »Ich fühle mich nicht bereit dafür, die Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen.«
Wow, das ist ehrlich!
»Du weißt, dass zu Hause meine Tochter auf mich wartet? Emma? Das Kind, das keinen Brokkoli verträgt.«
Er nickt.
»Warum hast du mir trotzdem geschrieben?«
Simon zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung«, meint er. »Irgendwas in mir sagte, dass ich es tun sollte.«
Es ist ein tolles Date, dennoch denke ich auf dem Nachhauseweg, dass ich ihn nicht wiedersehen will. Ein Mann, der keine Verantwortung übernehmen möchte und sich keine Kinder vorstellen kann, kollidiert zu sehr mit meinem Leben. Trotzdem telefonieren wir jeden Tag, um uns schon eine Woche später erneut zu treffen. Ich mag die ungezwungene Stimmung zwischen uns. An eine Beziehung denke ich nicht, Simon ebenso wenig.
Irgendwann treffen wir uns im Kino. Während des Films wandert seine Hand immer näher zu meiner, bis sie sich berühren. Obwohl ich es eigentlich vermeiden will, kriege ich eine Gänsehaut. Vom Film bekomme ich nicht mehr viel mit, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, mir zu sagen, dass der Mann, der sich Krümel nennt, nicht derjenige sein kann, den ich suche.
Später wollen wir tanzen gehen. Beneidenswerterweise sehe ich jünger aus, als mein Personalausweis nahelegt. Um in einen Club zu kommen, muss ich mich regelmäßig ausweisen. Allerdings liegt mein Ausweis zu Hause, und Simon denkt, dass das nur eine Ausrede sei, um das Date zu beenden. Bevor er enttäuscht von dannen ziehen kann, sende ich einen Hilferuf an eine Freundin, die einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Entweder hat sie Mitleid oder Angst, dass mein Jammern sonst bald wieder losgeht; ich weiß es nicht genau. Zumindest treffen wir uns auf der Hälfte des Weges zwischen meiner Wohnung und dem Club und sie schwenkt schon von Weitem meinen Perso durch die Luft.
»Danke, du bist die Beste!«
Sie winkt ab und grinst. »Los, seht zu, dass ihr endlich in den Club kommt!«
Das machen wir! Simon scheint die Die Ärzte zu mögen und tanzt so gar nicht wie ein Smallcrumb beim Song Monsterparty. Ich muss mir eingestehen, dass ich nicht mithalten kann.
Wir tanzen die ganze Nacht, wenngleich ich genau weiß, dass ich es am nächsten Tag bereuen werde. Emma ist es nämlich egal, wann ich ins Bett gegangen bin; wenn sie wach ist, ist sie wach. Aber das ist in diesem Moment nebensächlich. Und dann passiert, was passieren muss: Zack … Wir küssen uns. Natürlich nicht nur einmal.
Seine Lippen sind so weich, wie sie auf dem Foto aussehen. Grandios, ich habe angefangen, einen Mann anzuhimmeln, der eigentlich so gar nicht in mein Leben passt.
Am frühen Morgen bin ich zu Hause und löse meinen armen Babysitter ab. Eine Stunde später wacht Emma auf. Geschlafen habe ich nicht. Ich erzähle meiner Tochter von Simon und dass ich keine Ahnung habe, warum er sich Krümel nennt. Ich erzähle ihr, dass er ein toller Kerl ist, der sich ehrenamtlich beim DRK engagiert. Er hilft anderen Menschen, das ist etwas, das nicht selbstverständlich ist. Emma gluckst mich an, als habe sie verstanden, was ich zu ihr sage.
Simon und ich treffen uns weiterhin. Irgendwann schläft Emma bei ihrem Papa, und ich habe über Nacht frei, das erste Mal. Ich verabrede mich mit Simon, wir wollen bei ihm zu Hause etwas kochen. Zuvor stehe ich elend lang vor meinem Kleiderschrank und kann mich für nichts entscheiden. Ich möchte gut aussehen, ohne dass es so aussieht, als hätte ich beabsichtigt, gut auszusehen.
Als ich Stunden späte endlich bei ihm klingele, öffnet Simon mir die Tür. Ich trete in eine Wohnung ein, die nach Waschmittel riecht. Alles ist aufgeräumt, jede Menge Aktenordner und Bücher stehen in den Regalen. An der apfelgrünen Küchenwand kleben Wandtattoos – sehr kitschige, schwarze Blumenranken. Simon trägt Hausschuhe.
Ich bin da eher der chaotische Mensch. Bücher besitze ich auch, Aktenordner nicht. Die Wand in meiner Küche ist weiß mit Kürbisbreiflecken über dem Herd. An meiner Wand hängt ein Poster von Che Guevara. Noch vor einem Jahr wohnte ich in einer Studenten-WG, die am Wochenende manchmal mehr lebte als die Bewohner. Mein Bein zieren bunte Bilder, ich studierte Politik, um danach zu beschließen, dass ich doch lieber Erzieherin werden will.
Simon dagegen...