Gegen Abend erreichten wir ein Camp mitten im Busch. Man führte mich zu einer Schaumstoffmatratze, die am Fuß einer brüchigen Felswand auf dem roten Sand lag. Mit meinen verschlissenen Kleidern muss ich wie eine Vogelscheuche ausgesehen haben. Mir war schwindlig und ich konnte kaum etwas sehen, dennoch erkannte ich weitere Geiseln und noch mehr bewaffnete Männer.
In unserem Rücken ging allmählich die Sonne unter. Da wir aus dieser Richtung gekommen waren, schloss ich, dass wir uns östlich von Galkayo befinden mussten. Soweit ich das mitbekommen hatte, waren wir auf dem Weg hierher kaum in südliche oder nördliche Richtungen gefahren. Damit mussten wir nach meiner Schätzung im nordöstlichen Teil Galmudugs gelandet sein – mitten im Territorium des Sa’ad-Klans.
„Okay, Michael?“
Ein junger Mann mit ernstem Gesicht unter einem Turban hatte sich vor mir aufgebaut. Scherenschnittartig hoben sich sein Kopf und seine Kalaschnikow gegen den rötlichen Himmel in der Dämmerung ab.
„Nein“, antwortete ich nach einer Weile.
Bei jedem Wächter, der mir begegnete, kniff ich die Augen zusammen. Ich wollte wissen, ob sich einer unserer Leibwächter meinen Entführern angeschlossen hatte. Anscheinend nicht. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht. Ich war offensichtlich in der Gewalt des Sa’ad-Klans, desselben Klans, der eigentlich für meine Sicherheit sorgen wollte. Meine Gastgeber hatten mich verraten.
Das Team, das mich im Land Rover hierhergebracht hatte, hatte sich inzwischen unter die Piraten im Lager gemischt. Einer von ihnen stolzierte, die Munitionsweste lässig über den Schultern, mit wutverzerrtem Gesicht zwischen uns Gefangenen umher. Er hatte faulende Zähne und blutunterlaufene Augen. Die anderen nannten ihn „Ahmed Dirie“.
Und noch einen Namen sollte ich immer wieder zu hören bekommen: Abdinuur. Er wurde meist voller Ehrfurcht ausgesprochen.
Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper und sorgte mich dennoch vor allem um meinen Rucksack. Noch war ich nicht lange genug Geisel, noch hoffte ich meine Angelegenheiten selbst regeln zu können. Ich hatte die Kontrolle verloren und wollte sie wieder zurück.
„Wo ist mein Rucksack?“, rief ich einem der jungen Wächter zu. „Ein brauner Rucksack, mit meiner Kamera, kannst du sie fragen, wo er ist?“
„Deine Kamera wurde gestohlen?“
„Ja!“
„Diese Verbrecher!“, platzte es aus ihm heraus.
Ich sah ihn fragend an.
Ein dürrer Somali mit tiefschwarzer Haut hockte sich neben mich und gab mir Wasser in einer Flasche, etwas Thunfisch aus der Dose und zwei dünne Scheiben Brot. Ich versuchte ein wenig zu essen. Doch überall an meinen Händen, meinem Shirt und in meinen Haaren war Blut. Mein Handgelenk pochte schmerzhaft. Vorsichtig drückte ich auf die Schwellung und konnte einzelne, lose Knochensplitter fühlen.
Im Camp herrschte eine wachsame Stille. In mir tobte dagegen der Wunsch, mich aus dieser Situation zu befreien. Alles hier stand im krassen Widerspruch zu den Dingen, von denen ich bis dahin geglaubt hatte, sie machten mich aus. Es widersprach meinen Gewohnheiten, meinen Bedürfnissen und allem, was ich zu sein und zu besitzen glaubte. „Ihr dürft das nicht!“, wollte ich meine Entführer anschreien. Nur, was hätte das geändert?
Ohne meine Brille konnte ich selbst bei Licht nur verschwommen sehen. Jetzt war die Sonne untergegangen und wir saßen in völliger Dunkelheit am Fuß des Steilhangs. Von oben rieselte ab und zu Sand auf uns herab. Ich saß immer noch blinzelnd auf meiner Schaumstoffmatratze und versuchte etwas zu erkennen. Meine Entführer forderten mich auf, endlich zu schlafen. Ein Pirat zu meiner Rechten leuchtete mir mit seiner Taschenlampe mitten ins Gesicht. Er bedeutete mir, mich hinzulegen. Offenbar wollte er sich ungestört mit Ahmed Dirie zu meiner Linken unterhalten.
„Sleeping! Sleeping!“, befahl er mir. Im Schutz der Dunkelheit zeigte ich ihm den Mittelfinger. Lasst mich frei, wenn ich euch störe, dachte ich mir.
Unser Lager befand sich inmitten eines trockenen Savannenabschnitts, einer heißen, dürren Übergangszone zwischen Küste und Ogadenwüste, die sich von hier nach Norden und Westen bis nach Äthiopien erstreckt. Jedes Geräusch wurde von der Landschaft geschluckt. Die Stille begann mich zu quälen, genauso wie die äußeren Umstände meiner Geiselhaft. Der Gedanke, welche Aufregung und Sorge meine Entführung für meine Familie und meine Freunde in Los Angeles und Berlin bedeuten musste, nagte ständig an mir. Ich war Gefangener im Dunkel einer Unterwelt, aus der bestenfalls Gerüchte aufstiegen, als Geflüster von Geistern für alle, die dort drüben in der wirklichen Welt lebten. Ob Ashwin bereits zu Hause angerufen hatte? Sollte Gerlach am Leben und frei sein, hatte er sicher zuallererst Ashwin in Mogadischu informiert. Ashwin hatte die Telefonnummer meiner Mutter in Los Angeles.
Doch war Gerlach wirklich auf freiem Fuß? Und was war mit Hamid passiert?
Gab es jetzt einen Klankrieg zwischen den einzelnen Sa’ad-Familien?
Oder hatten mich am Ende meine Kontaktleute in Somalia selbst verraten?
Irgendwann schlief ich ein. Gleich nach Sonnenaufgang packten mich die Piraten und verfrachteten mich zu zwei weiteren Geiseln auf die Rückbank eines wartenden Autos. Die beiden anderen waren um die 60. Afrikaner der eine, der andere mit der kakaobraunen Haut der pazifischen Inselbewohner. Hinter seinen Ohren standen zwei graue Haarbüschel hervor. Es war Rolly Tambara, wir sollten bald gute Freunde werden.
Neben uns quetschten sich bewaffnete Piraten auf die Rückbank und banden uns drei an den Armen zusammen. Vom Beifahrersitz aus bellte Ahmed Dirie seine Befehle nach hinten. In seinem Gesicht mit dem verfaulenden Gebiss spielte wieder jener Zug unverhohlener Wut und Verachtung. Wir saßen in demselben Auto, mit dem ich am Vortag hierhergebracht worden war. Ich erkannte den Blutfleck wieder, den meine Kopfwunde an der Deckenverkleidung hinterlassen hatte.
Etwa eine Stunde lang schaukelten wir die Pirate Road entlang, bis uns ein anderes Auto überholte. Auf einem Stück mit weichem weißem Sand hielten wir schließlich an.
„Go, go, go, go!“, herrschten uns die Piraten an und warteten darauf, dass wir in das andere Auto umstiegen. Wir waren verwirrt. Ein groß gewachsener Somali mit eindrucksvollem Silberblick, der aus dem anderen Auto gestiegen war, trieb uns an: „Come on! Come on!“ Gerade als wir in den zweiten Wagen eingestiegen waren, schlug er mir mitten ins Gesicht.
„No!“, schrie er, als hätte ich irgendetwas falsch gemacht. „No! No!“
„Fucking hell!“, fluchte ich.
Sein Kopf tauchte im Seitenfenster auf. „Wir wissen genau, was du hier treibst. Du bist Journalist!“, sagte er auf Englisch. „Macht nichts. Wenn du das Lösegeld bezahlen kannst, lassen wir dich frei.“
Er stieg in den Land Cruiser, mit dem wir hierhergekommen waren, und brauste in einer Staubwolke davon.
Wir rumpelten danach fast eine Stunde lang weiter in südlicher Richtung, bis wir auf ein eingezäuntes Gelände mit einem heruntergekommenen Haus stießen. Die Entführer brachten die beiden anderen Geiseln in das Haus. Mich drängten sie in einen Anbau daneben. Der Boden bestand aus blau gestrichenem Beton, die Fenster waren verriegelt, sonst gab es dort nichts.
Ich setzte mich auf den Boden. Ich wusste nicht, wo ich mich befand. Das Haus lag wohl am Stadtrand der ersten Stadt, die wir auf unserem Weg über die Pirate Road passiert hatten. Wir waren also entweder in Hobyo oder in Harardhere. Ich hatte zuvor gehört, wie einer der Wärter etwas wie „Harardhere“ in sein Handy gebrüllt hatte. Ich kniff die Augen fest zusammen und versuchte das Gelände vor dem Haus zu erkennen. Mindestens 20 Somalis mit Kalaschnikows und Maschinengewehren hatten sich auf dem Betonplatz in der Sonne versammelt und kauten Khat.
Um den Eingang zu meinem Zimmer schwirrten die Fliegen.
Die Fliegen kamen mir aus Hobyo bekannt vor, also war ich wohl dorthin zurückgekehrt.
Ahmed Dirie wuchtete eine Matratze in mein Zimmer. Andere brachten Thermoskannen voll Tee und ein paar Dosen Thunfisch. Jemand drückte mir ein Sieb und ein Päckchen löslichen Kaffee in die Hand. „Caffè!“, strahlte er mich an.
Ich liebte guten Kaffee, trank zur Not auch schlechten Kaffee und hatte mich noch nie über einen Kaffee beschwert – selbst in Somalia nicht. Auf meinen Reisen schluckte ich jede noch so trübe Brühe, ich wusste ja, dass zu Hause wieder ordentlicher Kaffee auf mich wartete. Denn wenn ich auch keinen Fernseher, kein Auto oder teure Möbel besaß und mir sonst keinen großen Luxus leistete, in meiner Berliner Wohnung stand eine richtige Siebträgermaschine, die mit jeder Tasse, die sie zubereitete, die Wohnung nach frisch gebrühtem Espresso duften ließ.
Mein Gegenüber hier jedoch bedeutete mir, ich solle den Tee durch das Sieb gießen. So ansteckend seine Begeisterung dabei war, ich verstand nicht, was das mit Kaffee zu tun haben sollte. Guten Kaffee habe ich in Somalia vermisst, nicht gleich vom ersten Tag an, aber nachdem ich als Geisel unter Piraten geraten war.
Irgendjemand schob mir über den Betonboden eine Schüssel gekochter Bohnen zu. Ich hatte Hunger, obwohl meine neuen Lebensumstände mich buchstäblich anekelten. Ein Pirat reichte mir einen Löffel und ich aß wortlos, während um mich herum die Fliegen schwirrten.
Auf dem Hof hatte ich neben ein paar alten Autoreifen einen Brunnen gesehen. Mein Essen verströmte denselben Geruch nach Exkrementen oder abgestandenem Wasser, der...