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Sag es keinem weiter

Warum wir Geheimnisse brauchen

AutorThorsten Havener
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644400740
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Thorsten Havener taucht ein in die faszinierende Welt der Geheimnisse. Ein Plädoyer für die Wichtigkeit von Geheimnissen. Verraten Sie niemandem, was in diesem Buch steht. Und? Neugierig geworden? Nur wenig ist reizvoller als die Aussicht, Mitwisser eines Geheimnisses zu werden. Ob Bankgeheimnis, ärztliche Schweigepflicht oder eine verdächtige SMS - wir sind umgeben von Geheimnissen. Aber was ist das überhaupt, ein Geheimnis? Wie kann man es bewahren, und warum gelingt uns das häufig nicht? Thorsten Havener ist als Zauberkünstler Experte für das Geheimnisvolle. Er erklärt, wie Geheimnisse uns prägen, wie sie uns belasten oder unser Leben spannender machen, wie die Aufdeckung uns befreien oder in Schwierigkeiten bringen kann. Nicht zuletzt stellt er eindrucksvoll dar, warum wir Geheimnisse brauchen - gerade in Zeiten von Big Data, Facebook und Co.

Thorsten Havener absolvierte ein Studium zum Diplom-Übersetzer für Englisch und Französisch an den Universitäten Saarbrücken und Monterey, Kalifornien. Seine Bestseller erreichen ein Millionenpublikum und wurden in 16 Sprachen übersetzt. Er ist einer der bekanntesten Entertainer Deutschlands. Zurzeit ist er mit seinem Bühnenprogramm «Feuerprobe» auf Tour. Außerdem hält er Vorträge und gibt Seminare. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von München.

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Leseprobe

Die dunkle Seite des Mondes


Ich möchte zwar die positiven Seiten von Geheimnissen in den Fokus stellen, will aber von den dunklen Seiten nicht schweigen.

Als ich zum Beispiel Geheimnisforen für Jugendliche im Internet besuchte, in denen sie anonym ihr Geheimnis posten können, war ich ziemlich schockiert über die zum Teil heftigen Sachen, die ich dort las. Klar, einige Geheimnisse kamen mir vor, als wären sie erfunden worden, aber viele, davon war ich überzeugt, hatten einen wahren Kern. So berichtete ein dreizehnjähriges Mädchen, dass niemand wisse, «wie scheiße es mir eigentlich geht. Ich spiele immer das glückliche Mädchen, doch innerlich sterbe ich.» Oder eine Sechzehnjährige, dass ihr Vater unheilbaren Krebs habe und sie sich deswegen heimlich ritze.

Ich möchte hier in diesem Zusammenhang kurz die Geschichte von Jennifer Teege erzählen. Sie ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers und wuchs in einem Kinderheim und in einer Adoptivfamilie auf. Über ihre Herkunft wusste sie nichts. 2008, da war sie achtunddreißig Jahre alt, erfuhr sie zufällig, wer ihr Großvater war: Amon Göth. Die meisten kennen ihn spätestens seit Schindlers Liste, Göth war Kommandant des KZ Plaszow. Er war ein sadistischer Nazi und wurde 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet. Dieses Wissen veränderte Jennifer Teeges Leben. Sie bezeichnete die Erkenntnis als «Explosion». Jennifer Teege konnte davon ausgehen, dass ihr Großvater sie schon aufgrund ihrer Hautfarbe als «nicht lebenswert» angesehen und wahrscheinlich getötet hätte. Aus diesem Grund nannte sie ihr Buch, in dem sie ihre Erfahrungen festhielt, auch Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen.

Die Geschichte von Teege ist ein typisches dunkles Familiengeheimnis. Und davon gibt es viele. Ein Freund von mir erfuhr erst als Jugendlicher, dass sein Vater in Wirklichkeit gar nicht sein Vater ist. Seinen leiblichen Vater hat er bis heute nicht kennengelernt. Jack Nicholson wuchs in dem Glauben auf, seine Mutter June sei seine ältere Schwester. Er erfuhr die Wahrheit über seine wahren Familienverhältnisse erst 1974, als ein Reporter des Time Magazine entsprechende Recherchen anstellte. Nicholsons Großmutter Ethel May gab sich als seine Mutter aus, um dem Ansehen ihrer minderjährigen Tochter nicht zu schaden. Der Flugpionier Charles Lindbergh führte ein Doppelleben und hatte neben seiner Familie in den USA noch einige andere Eisen im Feuer. Er war zur selben Zeit nicht nur mit der Münchner Hutmacherin Brigitte Hesshaimer liiert, sondern auch mit deren Schwester Marietta und mit seiner deutschen Privatsekretärin. Lindbergh hatte demnach kein Doppel-, sondern gleich ein Vierfachleben. Inklusive sieben unehelicher Kinder. Sein Geheimnis wurde erst 2003 gelüftet. Weder seine Ehefrau noch seine Biographen wussten darüber Bescheid. Seine Kinder erfuhren erst als Erwachsene davon. Auch beruflich umgab Lindbergh sich mit Geheimnissen: Er war für den amerikanischen Nachrichtendienst tätig und spionierte in Deutschland die Luftfahrt und Raketenforschung aus. Moralisch fragwürdig, das gebe ich zu, aber logistisch und unter dem Aspekt der Geheimhaltung eine Meisterleistung.

Bei den dunklen Geheimnissen gehören Familiengeheimnisse ganz klar zu den Top Ten. Meist beginnt ein Familiengeheimnis damit, dass ein einzelnes Familienmitglied etwas unter Verschluss halten möchte. Sein Geheimnis wird aber irgendwann entdeckt. Doch statt es anzusprechen, übernehmen die anderen Familienmitglieder die Heimlichtuerei. Dadurch fühlt der Geheimnisträger sich bestätigt, das Geheimnis kann wachsen und zu einem Teil der Familie werden. Das Stillschweigen signalisiert Duldung und damit Zustimmung.

Das Thema Sucht ist ein weiteres «dunkles» Geheimnis. Der Suchtkranke bemüht sich häufig, seine Abhängigkeit nach außen hin geheim zu halten und sie vor der Familie, vor Arbeitgebern, Nachbarn und Freunden zu verbergen. Das kann bizarre Züge annehmen. Der US-amerikanische Autor Stephen King trank vor dem Schlafengehen sogar alkoholhaltiges Mundwasser, um seine Alkoholsucht – unbemerkt von der Familie – befriedigen zu können.

Vielfach fliegt die Sucht dann irgendwann doch auf, denn je nach dem Stadium gelingt die Geheimhaltung immer schwerer. Wenn Angehörige die Sucht ihres Partners oder des Elternteils dann aber ebenfalls verheimlichen und für ihn lügen, unterstützen sie die Abhängigkeit oft unbeabsichtigt. Der Wunsch, anonym zu bleiben, liegt daran, dass in der Gesellschaft Sucht noch immer nicht als Krankheit akzeptiert ist, sondern als Schwäche und mangelnde Selbstdisziplin ausgelegt wird.

Abhängige versuchen ihre Sucht aber nicht nur vor der Außenwelt zu verheimlichen, sondern vor allem vor sich selbst: «Ich habe doch alles im Griff. Ich kann jederzeit damit aufhören.» Oft genug gesagt, glaubt derjenige das irgendwann selbst. Deshalb besteht der erste Schritt der Anonymen Alkoholiker im Eingestehen vor sich selbst: «Ich heiße … und ich bin Alkoholiker.»

Ich bin ja ein großer Verfechter des Geheimnisvollen. Im Fall von unheilvollen Familiengeheimnissen stehe ich der Sache aber ein wenig anders gegenüber. Hier ist es meist besser, sich der Wahrheit zu stellen und das Geheimnis offen anzusprechen. Alleine schon deshalb, weil niemand dann mehr Mundwasser trinken muss. Stillschweigen signalisiert Zustimmung.

Gerade Kinder leiden schwer unter solchen Familiengeheimnissen, sie spüren instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie können nicht sagen, was es ist, aber sie wissen, dass da irgendetwas ist. Das bestätigte auch Jennifer Teege, die nach der Aufdeckung ihrer Abstammung endlich eine Erklärung für ihre Depressionen hatte, die danach dann verschwanden. Auf einmal war die Ungewissheit weg. Teege sagte in einem Interview: «Ich bin dankbar, dass ich diese Wahrheit in meinem Leben gefunden habe. Nun stimmt das Grundgerüst. Eine Jacke, die Sie falsch zuknöpfen, wird nie richtig sitzen. Wer im Leben vor Problemen davonläuft, macht sie nur noch größer.»

Schon 1985 untersuchte Dan Wegner, Professor für Psychologie an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, inwieweit sich Geheimnisse und unterdrückte Gedanken auf unsere Psyche auswirken. Inspiriert wurde Wegner durch eine Geschichte, die Leo Tolstoi einmal erzählt hatte. Sein älterer Bruder hatte es dem kleinen Leo zur Aufgabe gemacht, so lange in einer Ecke der Wohnung sitzen zu bleiben, bis er nicht mehr an einen Eisbären denken würde: «Denke bitte nicht an einen Eisbären!» Als der Bruder nach längerer Zeit zurückkehrte, stellte er erstaunt fest, dass Leo noch immer in der Ecke saß, unfähig, den untersagten Gedanken aus dem Kopf zu bekommen.

Wegner, der Psychologie-Professor, stellte diese Szene mit seinen Studenten nach. Die Anweisung lautete schlicht: «Versuchen Sie in den nächsten fünf Minuten nicht an einen Eisbären zu denken.» Der Versuch bewies: Denkverbote bewirken das Gegenteil. Sie sind paradox. Versuchen Sie mal, die nächsten zehn Sekunden nicht an Hawaii zu denken. Oder an eine Pizza. Oder an einen blauen Elefanten. Oder oder oder …

Allein der Versuch, nicht an etwas Bestimmtes zu denken, sorgt dafür, dass Sie sogar mehr an das Verbotene denken! Wir kennen das alle: Je mehr wir es uns wünschen, endlich einzuschlafen, desto weniger gelingt es uns, und wir wälzen uns schlaflos von einer Seite auf die andere. Je stärker wir auf unsere Ernährung achten, desto freundlicher lacht uns das Nutella-Glas im Supermarkt an. Und je angestrengter wir versuchen, Ängste wegzudenken, desto größer werden sie oft.

Am schwierigsten wird es, wenn wir müde, gestresst oder abgelenkt sind. Wegner nannte das «Ironic Rebound Effect» – den Effekt des ironischen Rückschlags. Und damit schließt sich der Kreis zum Geheimnis. Wegner verglich Geheimnisse mit diesen unerwünschten und aktiv unterdrückten Gedanken. Ihm zufolge können sich negative Geheimnisse zu einem gefährlichen Sog entwickeln, denn sie erfordern große kognitive Anstrengungen, wenn wir unsere mit ihnen verbundenen Gedanken und Gefühle unterdrücken wollen. Eine Zeitlang mag uns das gelingen, aber nicht auf Dauer. Irgendwann kommt alles mit noch größerer Wucht zurück. Ein Kreislauf beginnt, ein thought rebound. Das Geheimnis nimmt einen zentralen Stellenwert ein, und alles in unserem Kopf dreht sich nur noch darum, die errichtete Scheinwelt aufrechtzuerhalten. Mit der Folge: Es macht uns fertig.

Der Sozialpsychologe glaubte zwar auch, dass Geheimnisse wichtig sind, eine eigene Individualität zu entwickeln und ein Gefühl dafür, selbst bestimmen zu können, was man von sich preisgibt und was nicht. Allerdings, so Wegner, seien Geheimnisse auch problematisch. Sie suggerieren nämlich, dass ein Teil der eigenen Person sozial unerwünscht ist. Je nachdem, wie unangenehm die Lüftung des schönen Scheins wäre, wird viel Zeit und Mühe investiert, um das Geheimnis zu schützen. Der thought rebound wird dadurch in Gang gesetzt. Und je mehr es zu verlieren gibt, desto größer ist der Wert des Geheimnisses. Dann sind Kreativität und Organisationstalent gefragt, um den Überblick zu behalten, darüber, wem man wann welche Version der Wahrheit aufgetischt hat. Das Geheimnis oder das geheime Leben wird man am Ende nicht so schnell wieder los. Es haftet an einem wie eine Klette.

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