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E-Book

Schluss mit der Sozialromantik!

Ein Jugendrichter zieht Bilanz

AutorAndreas Müller
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451800535
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Seit fast 20 Jahren arbeitet Andreas Müller als Richter. Vor seiner Richterbank landen viele harte Fälle: S-Bahn-Überfälle, Gewaltausbrüche, sexueller Missbrauch. Auch drei Jahre nach dem Tod von Kirsten Heisig, einer engen Weggefährtin Müllers, kann Müller keine Besserung der Zustände erkennen: Im Bereich des Jugendstrafrechts soll eingespart werden, das Neuköllner Modell gerät in Vergessenheit, gleichzeitig werden die jungen Intensivtäter immer brutaler. Das kann Müller nicht hinnehmen - jetzt ist die Zeit für Veränderung.

Andreas Müller ist Jugendrichter am Amtsgericht Bernau und war ein langjähriger Freund von Kirsten Heisig. Viele seiner Urteile sind ungewöhnlich kreativ, so manche bis zum heutigen Tag legendär und einige hatten landesweite Signalwirkung. Seit über zehn Jahren wird Müller in den Medien immer wieder als Experte zum Thema Jugendstrafrecht befragt.

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Leseprobe

Mit dem ersten Fall sofort in medias res
Das Dolgenbrodt-Verfahren


Der Ruf eines Quertreibers eilte mir voraus. Wie mir später der damalige Präsident des Landgerichtes Münster erzählte, wurde über kaum einen neuen Proberichter vom abgebenden Gericht mit dem aufnehmenden so lange und intensiv telefoniert wie über mich.

Ich wurde unter anderem Mitglied der Schwurgerichtskammer und der Jugendkammer, war also von Beginn an mit ausreichend Arbeit versorgt und wurde außerdem gleichzeitig von verschiedenen Vorsitzenden beäugt. Das Verfahren, von dem ich oben sprach, war das sogenannte Dolgenbrodt-Verfahren, das ich als sogenannter Berichterstatter für das Gericht, das mit zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt war, vorbereiten musste. Dieses Verfahren beeinflusste meinen weiteren beruflichen Werdegang enorm.

Zunächst einmal fühlte ich mich erschlagen. 1200 Seiten waren bereits mit diversen Vorgängen gefüllt worden, 1200 Seiten, die bei mir auf dem Tisch lagen und durchgearbeitet werden wollten. Nach dem ersten Ohnmachtsgefühl setzte ich mich also hin und las und las und las.

Mir wurde schnell klar, wie viel Aufmerksamkeit diese Geschichte bereits erzeugt hatte und noch erzeugen würde; sie passte gut in die Zeit des explodierenden Rechtsradikalismus in den ostdeutschen Bundesländern. Zwar gab es zum Glück keine Opfer, die an Leib und Leben Schaden genommen hatten, deutlich wurde aber, dass genau das zu erwarten war, wenn man dem Treiben nicht sofort Einhalt gebieten würde.

Worum ging es? Der Angeklagte war beschuldigt, am 1.11.1992 gegen Bezahlung durch einige Dorfbewohner ein Asylbewerberheim im kleinen brandenburgischen Ort Dolgenbrodt mit einem Molotow-Cocktail in Brand gesteckt zu haben, und zwar einen Tag bevor dort Asyl suchende Menschen untergebracht werden sollten. Es war damals die Hochzeit der Brandanschläge, Rostock hatte bereits Angriffe des braunen Mobs erlebt, die verheerenden Brandanschläge in Mölln und Solingen sollten noch folgen. Da es erhebliche Zweifel am Freispruch im ersten Urteil gab, hatte der Bundesgerichtshof dieses aufgehoben, und das Verfahren musste neu aufgerollt werden. Und jetzt lag es vor mir.

Wie nach dem Umfang des Materials zu erwarten, hatten wir einen Marathon vor uns. 25 Verhandlungstage, das Ganze zog sich über Monate und war letztlich ein reines Indizienverfahren. Das zu erwähnen ist nicht ganz unwichtig, da wir Unmengen an Zeugen hörten, über 50 Leute sind es sicherlich gewesen. Man fühlte sich, als ob das halbe Dorf im Gerichtssaal erschienen wäre, um jeweils die eigene Version der Tat zum Besten zu geben. Der eine widersprach dem anderen, zusätzlich war der Angeklagte in einem Fernsehinterview aufgetreten und hatte in der scheinbaren Gewissheit, wieder einen Freispruch zu bekommen, frech in die Kamera gesagt, »vielleicht« sei er ja »dabei gewesen, vielleicht aber auch nicht«. Er verhöhnte also noch im Nachhinein die Menschen, die auf Grund solcher Taten Angst davor haben mussten, dieses Land überhaupt zu betreten. Denn das war die eigentliche Ansage, die hinter dem scheinbar vernachlässigenswerten Anschlag auf ein leer stehendes Haus steckte: »Wir wollen diese Ausländer nicht, und wenn sie trotzdem kommen, werden wir sie kriegen.«

So stützten wir uns also auf wenige wirklich gute Indizien, hatten allerdings gleichzeitig doch einen Zeugen, bei dem sich erhöhte Aufmerksamkeit lohnte.

Wie aus dem Nichts präsentierte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft plötzlich einen Kronzeugen: Carsten S., von dem im ganzen Verfahren bis zu jenem Zeitpunkt nie die Rede gewesen war, belastete den Angeklagten, und es schien endlich eine Möglichkeit gefunden, mit der das Gericht die Schuld feststellen und ein entsprechendes Urteil fällen konnte. Im Grunde spürte ich sofort, dass das zu schön war, um wahr zu sein.

S. war ein harter Fall, rechtsradikal bis ins Mark, tief in der Szene verwurzelt. Zum Zeitpunkt des Dolgenbrodt-Prozesses saß er selbst ein. Einige Jahre zuvor hatte er mit ein paar seiner rechtsradikalen Kameraden versucht, einen Nigerianer zu töten. Unter »Schlagt den Neger tot«-Rufen von S. war der Mann in einer Diskothek brutal zusammengetreten und anschließend bewusstlos in einen See geworfen worden. Nur der mutigen Rettungstat eines Türstehers, der ihn aus dem Wasser zog, war es zu verdanken gewesen, dass der Mann überlebte.

Das hatte S. eine achtjährige Haftstrafe wegen versuchten Mordes eingebracht, und eben jener Mann lief nun plötzlich als Hauptbelastungszeuge in unserem Verfahren auf. Von Anfang an stank hier etwas zum Himmel, so dass veranlasst wurde, S.’ Besuchslisten im Gefängnis zu den Akten zu reichen. Hieraus war bereits einiges zu entnehmen, insbesondere, mit wem er Kontakt pflegte. Auch räumte die als Zeugin gehörte Staatsanwältin ein, dass ein anderes Verfahren, in dem es um eine weitere Freiheitsstrafe von einem Jahr ging, plötzlich eingestellt worden war. Außerdem hatte sie den Zeugen auf eigene Faust und ohne das Gericht zu unterrichten im Knast besucht.

Das Ergebnis der Recherche: Der Kronzeuge stand, so muste ich denken, wohl auf der Lohnliste des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Einer der sogenannten V-Männer, von denen auch heutzutage wieder so oft die Rede ist.

Es war ein Dilemma, wie es schlimmer kaum kommen kann. Auf der einen Seite konnte man ziemlich sicher sein, dass der Angeklagte die Tat begangen hatte und verurteilt werden musste. Mir war auch zu jenem Zeitpunkt schon klar, dass ein solches Urteil Signalwirkung haben würde. Die rechte Szene sollte ruhig wissen, dass auch ein Anschlag auf ein leeres Asylbewerberheim nicht als Kavaliersdelikt durchgehen würde, sondern als Anzeichen für schlimmere Taten gewertet werden musste, die unweigerlich folgen würden. Auf der anderen Seite war der Zeuge S. vor dem Hintergrund meiner Vermutungen im Grunde nicht zu gebrauchen.

Mir persönlich bereitete diese Situation buchstäblich schlaflose Nächte. Ich saß daheim in meiner Küche und brütete über diesem Fall. Als Berichterstatter war ich auch derjenige, der den Gang des Verfahrens bestimmte und jeweils die weitere Vorgehensweise vorzuschlagen hatte. Für einen jungen Proberichter ohne große Erfahrung eine enorme Belastung!

Spontan wäre ich am liebsten zur Staatsanwältin gegangen und hätte sie gefragt, ob meine Vermutung richtig sei und mit welchem Recht sie uns zum Narren halte. Ich malte mir mehr als einmal aus, wie ich ihr ins Gesicht sagen würde, dass ich annähme, dass sie das Gericht verarsche – eine mildere Formulierung fiel mir kaum ein. Hinsichtlich des Verfahrens selbst haderte ich mit der durchaus gegebenen Möglichkeit, vorzuschlagen, das Verfahren aus rechtsstaatlichen Gründen einzustellen.

Doch das machte ich nicht, und wie es manchmal im Leben so ist, kam Hilfe von unerwarteter Seite. Am Tatort waren Fasern einer Hose gefunden worden, die als Indizien eine Rolle spielten. Was in Deutschland zu jener Zeit nicht möglich war, schaffte in einem Akt von Amtshilfe das amerikanische FBI: Es konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei der Faser um einen seltenen Stoff handelte, der in Deutschland kaum gängig war. Der Angeklagte jedoch besaß eine Hose aus genau diesem Stoff, und es hätte schon ein enormer Zufall sein müssen, dass jemand anderes mit genau einer solchen Hose an jenem Abend vor Ort gewesen wäre. Damit brauchte das Gericht auch die Aussage des Kronzeugen S. nicht.

Von diesem Zeitpunkt an nahm das unglaublich anstrengende Verfahren für mich eine positive Wende. Da die betreffende Staatsanwältin zuvor als Zeugin ausgesagt hatte, hielt nicht sie das Schlussplädoyer, sondern musste dieses einem jungen Kollegen überlassen, der sie gut vertrat.

Doch was wir vor allem schafften, war, dass wir den Angeklagten für die ihm zur Last gelegte Tat allein aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Indizien verurteilen konnten. Der Zeuge S. wurde in der sage und schreibe 75 Seiten starken Urteilsbegründung mit keinem Wort erwähnt. In der mündlichen Urteilsbegründung wurde er lediglich kurz als unglaubwürdig beurteilt. Dass das Gericht ihn tatsächlich nicht brauchte, um die Entscheidung rechtskräftig werden zu lassen, erfuhr ich endgültig am 24. Oktober 1996, als bekannt wurde, dass der Bundesgerichtshof das Urteil in der Revision gehalten hatte.

Das war eine solch enorme Bestätigung für meine Arbeit und auf meinem gerade erst begonnenen Weg als Richter, dass ich wie so oft in den entscheidenden Momenten meines Lebens den Tränen nahe war. Später sollte sich herausstellen, dass der Zeuge tatsächlich ein V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen war. Noch lange nach diesem Verfahren stellte ich mir die Frage, ob der Zeuge nicht bereits früher hätte enttarnt werden müssen, und ich hatte wohl irgendwie darauf gehofft, dass dies schon allein aufgrund der Nichtbeachtung im Urteil durch die zuständigen Stellen geschehen würde. Im Grunde schäme ich mich heute dafür, dass ich persönlich das Thema nicht offen angesprochen habe. Heute würde ich anders reagieren.

Dolgenbrodt und die Folgen


Dieser Prozess war aus heutiger Sicht betrachtet nicht nur der unglaublich schwere Auftakt meiner brandenburgischen Richterkarriere, er wirkte auch in die Zukunft nach, und selbst bis in die heutige Zeit gibt es eine Verbindungslinie.

Zunächst bekam der Staat die allgemeinen Auswirkungen beim ersten NPD-Verbotsverfahren zu spüren. Ich konnte mich ohne Probleme sofort in die Köpfe der zuständigen Verfassungsrichter hineinversetzen und wusste, dass der Verbotsantrag scheitern würde. Der Spiegel hatte zudem im Juli...

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