Der Refrain der Zeit
Helmut Schmidt und Siegfried Lenz, Mai 2007
Eine Freundschaft, die länger dauert als ein halbes Jahrhundert, entzieht sich in ihren Einzelheiten der Erinnerung. Was sich wann ereignet hat, ist im Rückblick nur schwer zu bestimmen. Jahreszahlen sind unzuverlässige Zeugen, und manches, was einmal wichtig war, ist längst ins Vergessen versunken. Gespräche sind nicht haltbar, sie gehören ganz dem Augenblick und lassen sich in ihrer lebendigen Bewegung Jahrzehnte später nicht mehr heraufbeschwören. Und doch setzt hier die Arbeit der Erinnerung ein. Sie stellt Stimmungen und Ahnungen bereit, die empfänglich machen. Da reift hier eine Empfindung, dort ein Gedanke, und es wächst ein sicheres Gefühl: In all der Zeit, die seither vergangen ist, hat sich die Gewissheit verfestigt, dass dieser Freundschaft unbedingt zu vertrauen ist. Sie ist mit den Jahren gewachsen und wurde zu einer verlässlichen Größe. Sie ist mit den Freunden alt geworden, so alt, dass die beiden sich heute nicht ganz ohne Rührung begegnen können. So viel Vergangenheit! Es ist, als wären sie selbst am meisten erstaunt darüber, immer noch am Leben zu sein und den Freund noch einmal zu sehen: Auch er ein Überlebender der Zeiten.
Siegfried Lenz geht es an diesem Tag nicht gut.[1] Er hat mit seiner zweiten Frau Ulla ein Apartment in der Nähe der Elbe bezogen, seinem Fluss, über den er so viel geschrieben hat. Aber von dieser Nachbarschaft hat er nicht mehr viel. Er schafft es nur mit Mühe vom Schlafzimmer in die Wohnräume hinüber, benutzt dafür den Rollator, setzt sorgsam Fuß vor Fuß, bis er endlich in einem mit Lammfell ausgeschlagenen Korbstuhl Platz findet, den er in den folgenden Stunden nicht wieder verlässt. Immer diese Schmerzen, sie hören niemals auf. Aber er gibt ihnen nicht nach. Seine unbedingte Freundlichkeit ist unbeschadet geblieben. Dass diese Begegnung heute zustande kommt, erfüllt ihn mit tiefer Dankbarkeit. Das sagt er auch gleich, als wäre es gar nicht er selbst, um den es dabei geht, als müsste er sich tatsächlich für die Gelegenheit bedanken wie für ein Geschenk. Bescheidenheit ist neben der enormen Menschenfreundschaft seine zweite, große Tugend. Er ist ein Virtuose der Nachsicht und der Einfühlungskunst. »Ach ja«, sagt er leise. Und: »Mein Gott, ja.« Denn eines ist gewiss: Alles, was war, ist lange her, auch dann, wenn es noch in die Gegenwart hineinragt.
»Alter ist keine Zumutung, es ist vielmehr eine alltägliche Auferlegung, ist ein Refrain der Zeit, und der Verfall ist kein Makel, sondern gegeben: das Leben nimmt sich mit Gewalt, was es einst dem Menschen zuerkannt hat«, schrieb Lenz in einem Essay über das Alter, als er selbst mit einundsiebzig Jahren noch vergleichsweise jung gewesen war. Den Text trug er damals der Freitagsgesellschaft im Haus von Helmut Schmidt vor, einer die Jahrzehnte überdauernden Gesprächsrunde, der das Alter naturgemäß zum Thema werden musste. Dass die Literatur sich immer wieder des Alters annimmt, erschien ihm unvermeidlich. Wenn der Mensch vor dem Ende und vor dem Nichts steht, dann kommt er endlich zu sich selbst. Literatur, so Lenz, habe es sich schon immer zur Aufgabe gemacht, »vor Augen zu führen, was es heißt, befristet in der Welt zu sein«.[2]
Helmut Schmidt lässt noch ein wenig auf sich warten. Die Verkehrslage in Hamburg, katastrophal, lässt er telefonisch melden, sogar der Tunnel am Hauptbahnhof verstopft. Aber dann ist er auch schon mitten im Raum und gleich ganz da und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Weil das Gehen so mühsam ist, wird er von seinem Chauffeur im Rollstuhl an den Tisch geschoben, keine weiteren Präliminarien, kurze Begrüßung: »Gebt mir mal ’nen Kaffee.« Seine Gefährtin Ruth Loah, die seit dem Tod von Loki Schmidt an seiner Seite ist, begleitet ihn. Sie zieht sich mit Ulla Lenz ins Nebenzimmer zurück; das Gespräch der Männer wollen sie nicht stören. Lenz haucht: »Helmut, ich freu mich!«, und reicht ihm beide Hände. Schmidt deutet auf sein Ohr und das Hörgerät und dann auf die Häppchen, die den ganzen Tisch bedecken, sodass kaum noch Platz für Papiere und Aufnahmegerät bleibt. »Das sieht hier aus wie in einem guten Restaurant. Wie geht es Ihnen, Siggi?«
Lenz will kein Krankengespräch führen. Nichts schlimmer als alte Leute, die über ihre Gebrechlichkeit klagen. Aber wenn er gefragt wird, dann gibt er Auskunft, bedauernd zwar, doch der Gesundheitszustand gehört nun mal zur Bestimmung der Lage. »Seit diesen Operationen, Wirbelsäule und Nackenwirbel, aber das haben mir diese hervorragenden Ärzte vorausgesagt, haben die Schmerzen nicht nachgelassen. Ich kann sie genau lokalisieren, die Schmerzen, wo sie auftreten, hier an der Wirbelsäule, quer rüber, und hier von der linken Stirnhälfte runter in den linken Arm. Es ist wie ein Schuss. Ich muss versuchen, mich damit abzufinden. Ulla achtet darauf, dass ich meine Tabletten nehme. Jeden Morgen vier, manchmal fünf. Je nach Laune und nach Abschätzung meines Zustandes erhöht sie die Dosis.«
Schmidt sagt, er nehme acht verschiedene Tabletten pro Tag. Und das schon seit Jahren. Dass er fast nichts mehr höre, sei schlimm, dass er keine Musik mehr hören könne eine wirkliche Tragödie. Da, wo einmal Töne waren, sei nur noch Krach, ein technisches Geräusch wie das Dröhnen eines Flugzeugs.
»Das ist natürlich eine Selbstentdeckung, die man nur mit größter Anteilnahme hören kann«, flüstert Lenz, der weiß, welche Bedeutung die Musik – Bach! – und das Klavierspiel für seinen Freund immer hatten.
Schmidt: Ich bin auch ein Stück älter als Sie, Siggi. Wann sind Sie geboren?
Lenz: 1926.
Schmidt: Und ich 1918.
Lenz: Das weiß ich.
Schmidt: Uralt, und verkalkt hier oben.
Lenz: Ich weiß es nicht, ob man von Ihnen als verkalkt sprechen kann.
Schmidt: Schreiben Sie noch was?
Lenz: Schreiben ist, ganz schlicht gesagt, eine von mir entdeckte Selbsttherapie. Wenn ich am Abend oder am nächsten Tag entdecke, dass eine oder zwei, drei Seiten – Gott geb’s! – geschrieben sind, fühle ich mich besser. Vielleicht ist das illusionär, ich weiß es nicht, aber das allgemeine Befinden bessert sich, wenn ich auf die geschriebenen Seiten blicke, und Ulla vorlese, und an ihrem zustimmenden Lächeln, an ihrem zustimmenden Nicken merke, da hast du was getroffen. Ja. Das hilft.
Schmidt sagt, er wolle keine Bücher mehr veröffentlichen, das gehe nun nicht mehr. Das sagt er seit Jahren, doch seine Produktivität ist trotzdem ungebrochen. Politische Anlässe, die ihn immer wieder zu Wortmeldungen herausfordern, gibt es genug. Nur »dieses hier«, über die Freundschaft mit Siegfried Lenz, wolle er noch machen, sagt er jetzt, aber da habe er ja »nichts mit zu tun, abgesehen von dem Gespräch, das wir hier angeblich führen wollen«. Kalkuliertes Understatement zeichnet ihn aus. Dabei war er es, der den Plan, über die Geschichte seiner Freundschaft mit Siegfried Lenz zu schreiben, von Anfang an entschlossen unterstützte. Die Idee habe ihn sofort »elektrisiert«, sagte er da. Ohne sein Engagement wäre auch das Gespräch zwischen den Freunden, das nun beginnt, nicht realisierbar gewesen. Er legt ein Päckchen Reyno vor sich auf den Tisch und zündet gleich eine Zigarette an, um sich auf Betriebstemperatur zu bringen. Lenz greift, sich mehrmals entschuldigend, zur Pfeife, saugt und pafft, dass es klingt wie der sanft gurgelnde Blasebalg eines Beatmungsgerätes. Erst dann, wenn die Rauchschwaden sich über dem Tisch treffen, kann es losgehen. Erinnerungen sind in den Rauch hinein zu sprechen; sie sind Schall und Rauch. Alle Geschichtsschreibung, auch die in eigener Sache, geschieht a posteriori, aus zeitlichem Abstand. Auf Erinnerungen kann man sich nicht einfach berufen. Sie müssen hervorgelockt und neu geschaffen werden wie alle Vorstellungen.
Wann alles begann? Da gehen die Ansichten auseinander, nach mehr als fünfzig Jahren. Schmidt weiß, dass er Lenz in Bramstedt im Krankenhaus besuchte, 1962 muss das gewesen sein, »Reha-Klinik würde man heute sagen«, meint er, »aber das Wort gab es damals noch nicht«. Doch warum er ihn besuchte – schließlich kann Lenz da schon kein ganz Fremder mehr gewesen sein –, daran erinnert er sich nicht. Vielleicht, weil die beiden sich aus dem Vorstand der Hamburger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit kannten? »Ja, das stimmt«, sagt Lenz. Oder war es, nachdem Schmidt als Hamburger Innensenator den Schriftsteller zu einem Nachmittagstee eingeladen hatte, um mit ihm über dessen Theaterstück »Zeit der Schuldlosen« zu sprechen? Im September 1961, Gustav Gründgens war damals Intendant, wurde das Stück am Deutschen Schauspielhaus inszeniert und sorgte in Hamburg und weit darüber hinaus für heftige Diskussionen. Ohne den Nationalsozialismus und die deutsche Vergangenheit konkret zu benennen, behandelte es das Problem des politischen Widerstandes in einer Despotie, das Schuldigwerden durch Untätigkeit oder durch den Versuch, zuerst einmal sich selbst in Sicherheit zu bringen. Lenz fühlte sich geehrt durch die Einladung des Senators, durch dessen Interesse und wissbegierige Fragen.
Lenz: Das ist eine Kunst, die er damals schon virtuos beherrscht hat, die entscheidenden Fragen zu stellen.
Schmidt: Können Sie sich...