Herkunft, Geburt und Kindheit
Alster und Michel in Hamburg kennt jeder. Die Kontorhäuser in der Innenstadt, das Hotel »Vier Jahreszeiten« und die Flaniermeile am Jungfernstieg erfreuen Stadtbewohner wie Besucher. Wer hier steht, hat den Eindruck einer schönen und reichen Stadt. Vor hundert Jahren war das nicht anders. Durch umfangreiche Abriss- und Stadtsanierungsmaßnahmen waren gerade die Mönckebergstraße und mit ihr ein neues Stadtzentrum entstanden, die neue und gigantische Speicherstadt wurde 1914 endgültig fertiggestellt. Allerdings stieß man nur wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt auf die ärmlichen Wohnviertel der Arbeiterfamilien in der Neustadt und in Hafennähe. In einem dieser Arbeiterviertel, in Hammerbrook, östlich der Alster gelegen, erblickte Hannelore Glaser, später bekannt als Loki Schmidt, am 3. März des Jahres 1919, »nachmittags um neuneinhalb Uhr«, wie es in der Geburtsurkunde heißt[1] , das Licht der Welt.
Die Geburt verlief ohne Komplikationen, Eltern und Großeltern waren überglücklich. Die Zeiten, in die Hannelore Glaser hineingeboren wurde, waren allerdings stürmisch und bewegt. Der Erste Weltkrieg war beendet, mit der Novemberrevolution von 1918 war die alte Ordnung der Kaiserzeit zerbrochen, und in welche Richtung die am 9. November in Berlin ausgerufene Republik sich entwickeln würde, war völlig ungewiss. In Hamburg beanspruchte seit dem 6. November 1918 unter der Führung der USPD ein Arbeiter- und Soldatenrat die Macht, hatte aber bereits nach wenigen Wochen einen unverkennbaren Autoritätsverfall hinnehmen müssen. An Hannelores Geburtstag wehte zwar noch die von den Revolutionären am Rathaus Mitte November aufgezogene rote Fahne, bei den Bürgerschaftswahlen am 13. März 1919 aber zeigte sich, dass die Revolutionäre kaum Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Mit über 50 Prozent der Stimmen siegte die Mehrheits-SPD, die USPD kam auf knapp acht Prozent. Die rote Fahne wurde eingeholt, eine gedeihliche Entwicklung der Republik aber war damit keineswegs sichergestellt.
Wohnhäuser in der Schleusenstraße, um 1920
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In dieser politisch und gesellschaftlich ungewissen Situation hatte die Familie Martens offenbar beschlossen, zumindest in der eigenen Lebenswelt für ein wenig Sicherheit zu sorgen, und war als Großfamilie im Februar 1919 in eine neue, größere Wohnung in der Schleusenstraße 11 gezogen. Hier fanden nicht nur Agnes und August Martens, eine schon seit längerem bei ihnen wohnende Pflegetochter und zwei ihrer erwachsenen Töchter, sondern auch die älteste und hochschwangere Tochter Gertrud mit Schwiegersohn Hermann Glaser und dem ersten, bald erwarteten Enkelkind Platz. Das junge Paar erhielt zwei ineinander gehende Räume, ausgestattet mit alten und einigen von Hermann selbst gezimmerten neuen Möbelstücken. Auch für das Baby hatte der geschickte Handwerker Hermann Glaser bereits ein Bettchen gebaut.
Wer hier wohnte, war von dem Wohlstand und der politischen Teilhabe in der reichen Hafen- und Handelsmetropole bis 1918 faktisch ausgeschlossen gewesen. Hier lebte das städtische Proletariat, die in enger Bebauung entstandenen Wohnhäuser waren in der rasanten Wachstumsphase der Stadt – zwischen 1880 und 1914 hatte sich die Einwohnerzahl von knapp unter 300000 auf eine Million erhöht – schnell hochgezogen worden. Wegen der Nähe zum Hafen und seinen Werften, den Hauptarbeitgebern in der Hansestadt, war dieses Wohngebiet bei den Arbeitern sehr gefragt. Die meisten von ihnen bewältigten den Weg zum Arbeitsplatz aus finanziellen Gründen zu Fuß, und da galt bei Arbeitszeiten von zehn bis zwölf Stunden pro Tag ein kurzer Weg zur Arbeit als ein hohes Gut. Dunkelheit und Enge, baumlose Straßen, wie Loki Schmidt sich an die Umgebung ihres Geburtshauses erinnert, wurden daher – wenn auch nicht klaglos – akzeptiert und hingenommen.
Von dem tatsächlichen Aussehen dieses proletarischen Wohngebiets der Stadt kann man sich heute keinen unmittelbaren Eindruck mehr verschaffen. Wie die allermeisten der hier einst stehenden Häuser existiert das Geburtshaus von Loki Schmidt nicht mehr, nicht einmal die Straße gibt es noch auf dem Stadtplan. Durch die schweren Bombardierungen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg ist dieser hafennahe Stadtteil fast völlig ausradiert worden, und nach 1945 siedelten sich hier vor allem Kleingewerbe und Kleinindustrie an. Geblieben ist allerdings damals wie heute, dass, wer hier wohnt, nicht zu den begüterten Bewohnern der Freien und Hansestadt gehört.
Am 2. März 1919, einem Sonntag, gab es in der Schleusenstraße 11 bei der Großfamilie Martens/Glaser eine kleine Einweihungsfeier mit Freunden und Verwandten. »Das Kind wird noch brauchen«, war die Meinung an diesem Abend im Familienkreis, doch bereits am nächsten Tag, am 3. März, einem kalten Märzmontag, war es so weit. Natürlich wurde Hannelore nicht in einem Krankenhaus, sondern, wie in proletarischen Familien damals üblich, in der eigenen Wohnung geboren. Unterstützt wurde Mutter Gertrud bei der Geburt ihrer ersten Tochter von einer Hebamme. Diese half später auch zwei der drei nachfolgenden Kinder der Glasers zur Welt zu bringen: Christoph 1920 und Linde 1922. Die Schwester Rose kam als Nachzüglerin erst 1929 zur Welt. Bei ihrer Geburt war eine andere Hebamme aus dem Verwandtenkreis dabei, Loki durfte unmittelbar nach der Geburt ihre kleine Schwester auf dem Bauch der Mutter sehen. Natürlich kannte Loki Schmidt den Namen ihrer Hebamme Backhaus noch 90 Jahre später, denn Frau Backhaus war nicht nur Hebamme, sondern blieb, wie für andere Frauen im Viertel auch, eine Vertraute für die Mutter. Der Beruf der Hebamme war in jenen Jahren und vor allem im damaligen Arbeitermilieu sehr angesehen, ihr Können war für die Menschen damals im Wortsinne lebenswichtig.
Über ihre Herkunft und Kindheit hat Loki Schmidt, als prominente Zeitzeugin häufig nach Ihrer Lebensgeschichte befragt, verschiedentlich Auskunft gegeben.[2] Neben einigen Details – wie der Beschreibung des als dunkel empfundenen Viertels oder dem Fehlen von jeglichem Grün in der Straße – nehmen die Bezugspunkte »Arbeitermilieu« und »Großfamilie« in ihrer Erinnerung eine zentrale Rolle ein. Verbunden sind damit eine politisch eher sozialistische Einstellung der Eltern, bescheidene wirtschaftliche Verhältnisse, ja zum Teil bittere Armut, aber auch reiche soziale und kulturelle Prägungen durch die eigene Großfamilie, vor allem aber auch durch die von den Eltern rege wahrgenommenen Angebote der Arbeiterbildung der Weimarer Republik. Das ungekrönte Oberhaupt der Großfamilie Martens war die Großmutter. Sie hielt alles zusammen, ihr Wort zählte sowohl im Haus als auch in der »Sippe«, wie Loki die Verwandtschaft zu nennen pflegte.
Die Großeltern und Eltern von Hannelore Glaser hatten allesamt Arbeiterberufe erlernt. Die Großmutter Agnes war Köchin und betreute neben ihrem eigenen den Haushalt der jüdischen Kaufmannsfamilie Mendel. Großvater August hatte eine Ausbildung als Maler und Polsterer, arbeitete später aber als Kontorbote und Krankenbesucher für die Ortskrankenkasse. Beide waren Jahrgang 1869, also gerade fünfzig Jahre alt, als Loki geboren wurde.
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Wie die Großeltern Martens hatten auch alle vier Töchter Lehrberufe erlernt. Lokis Mutter Gertrud, die älteste und 1894 geboren, war Schneiderin geworden, ihre drei Schwestern Kontoristinnen.[3] Vor ihrer Lehre hatte Gertrud eineinhalb Jahre in einem Haushalt gearbeitet. Der Vater, Hermann Glaser, war 1892 geboren, in dem Jahr also, als in Hamburg wegen der schlechten Wasserversorgung die Cholera wütete. Seine Eltern wohnten im proletarischen und dichtbesiedelten Gängeviertel um die Steinstraße. Auch sie hatten sich mit Cholerabakterien infiziert, konnten aber nach ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Hermann Glaser eine Lehre als Elektriker, war von 1912 bis 1918 Matrose der kaiserlichen Marine, und danach in seinem erlernten Beruf bei verschiedenen Arbeitgebern tätig, u.a. als Betriebselektriker beim Arbeitsamt. Solange man Arbeit hatte, konnte man in der Weimarer Republik mit dem Verdienst eines Arbeiters ein bescheidenes, aber eigenständiges Leben führen; wurde man allerdings arbeitslos, war bittere Armut die unausweichliche Folge.
Kennengelernt hatten sich Lokis Eltern bei Wochenendaufenthalten in Neugraben, das auf der anderen Seite der Elbe auf der Strecke von Harburg nach Stade liegt. Als Hermann sich im April 1912 für drei Jahre bei der Marine verpflichtete, sahen sich die beiden nur noch selten: bei Heimataufenthalten oder gelegentlichen Besuchen von Gertrud in Kiel und später Wilhelmshaven, den Standorten des Matrosen Glaser. Inzwischen hatte sich Gertrud in den Kriegsjahren politisiert. In einem handgeschriebenen Bericht für ihre Kinder und Enkelkinder aus dem Jahre 1965 berichtet sie davon. So hatte sie durch eine der Töchter der Mendel-Familie, bei der...