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Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

AutorLena Schönwälder
VerlagNarr Francke Attempto
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl315 Seiten
ISBN9783823301080
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis62,40 EUR
Die vorliegende Studie erforscht am Beispiel skandalöser Texte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts systematisch literarische Schreibweisen, die beim Rezipienten einen Schockeffekt produzieren. Die untersuchten Werke (der Autoren G. Flaubert, O. Mirbeau, Sade und P. P. Pasolini, A. Nove und N. Ammaniti sowie Michel Houellebecq) werden nicht allein in Hinblick auf ihre formale Beschaffenheit befragt, sondern auch auf etwaige ethische Implikationen. Wirkungsmechanismen literarischer Provokation werden damit aufgezeigt und die Funktion einer Schockästhetik im gesellschaftlichen Diskurs offengelegt.

Lena Schönwälder hat an der Philipps-Universität Marburg und der Université Nancy II Romanistik und Anglistik studiert. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität Frankfurt. 2016 hat sie sich mit ihrer Dissertation Böses schreiben böses Schreiben: Schockästhetik von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq promoviert.

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Leseprobe

1 Theoretische Vorüberlegungen


1.1 Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik


1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie


Die Literatur des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts scheint den sich vollziehenden Umwertungsprozess der Kategorie des Bösen zu belegen: Die Tatsache, dass sich Gattungen wie die des Schauerromans besonderer Beliebtheit erfreuen, bescheinigt den Reiz am Abseitigen. Darüber hinaus erfährt das Böse in den Werken einflussreicher und viel disku­tierter Autoren wie de Sade, Choderlos de Laclos, Lautréamont, Baudelaire, Flaubert oder Huysmans unbestreitbar eine fundamentale Radikalisierung – und Positi­vierung. Der Titel von Baudelaires skandal­trächtigem Gedichtband Les Fleurs du mal vermag bereits exem­plarisch die zunehmende Annäherung der Kategorie des Schönen und der des Bösen zu veran­schaulichen. Hinzu kommt, dass – wie Peter-André Alt vermerkt – ein »Wechsel im Register der Darstellung« zu beobachten ist: eine Herauslösung des Bösen aus dem metaphysischen Gefüge und eine Verlagerung in die Innerlichkeit, in die Psyche des Menschen. Es

vollzieht sich eine Anreicherung der Kategorie des Bösen, die durch den Vorgang der Inklusion dichter als zuvor in ein Netzwerk von Nachbarbegriffen – Trieb, Gewalt, Häßlichkeit – integriert wird. Das Böse gewinnt über seine Einschließung in einer seelischen Topographie eine Vielfalt von Merkmalen und Qualitäten, die es auf neue Weise ubiquitär werden läßt. Die Omnipräsenz des Bösen ist fortan nicht mehr jene des Teufels, sondern die der Eigenschaften des Individuums.1

Die Psychologisierung und die damit einhergehende »Invisibilisierung«2 des Bösen offenbart scheinbar vollkommen neue Potentialitäten einer ›bösen Kunst‹, die sich den traditionellen Funktionalisierungs- und Darstellungsverfahren ver­weigert und das Böse so auf neue Art und Weise ästhetisch erfahrbar macht.

Karl Heinz Bohrer nahm die im Vergleich zu anderen europäischen Literaturen deutlich radikalere Entwicklung der französischen Literatur zum Anlass, das Phänomen des Bösen in der Kunst einer Revision zu unterziehen. In den Aufsätzen »Das Böse – eine ästhetische Kategorie?« (1985)3 und »Die Ästhetik des Bösen: Oder gibt es eine böse Kunst?« (2007)4 argumentiert er auf Basis einer Konzeption des Bösen, die es weniger als ethisches denn als ästhetisches Phänomen fasst. Es geht ihm dabei zuvorderst um eine Ablösung der Kategorie des Bösen vom ›Stigma‹ des Ethischen, welches verhindere, dass die Tendenzen der literarischen Moderne in ihrem vollen Potential erfasst werden könnten.

Bohrer bemüht sich zunächst um die Klärung der Frage, warum ein an sich missfälliger Gegenstand einen Reiz ausübt. Dabei bezieht er sich zunächst u.a. auf Schillers Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792),5 um die Verwandt­schaft der Kategorie des Bösen zu jener des Tragischen herauszustellen und so die rezeptions- und produktionsästhetischen Qual­itäten des Bösen hervorzuheben, da sich auch bei der Betrachtung des bösen Gegenstands das Gefühl der Erhabenheit über den Schrecken oder auch der Reiz des Erschreckens einstellen könne. Eben diese Qualitäten seien auf der inhaltlichen Ebene nicht zu finden, d.h. allein die provokante Beschreibung eines bösen Inhalts könne nicht die eigentümliche Faszinationskraft des Bösen erklären. Vielmehr sei der Ursprung des Gefallens am Bösen im Reiz der Stimmung, der Atmo­sphäre zu lokalisieren; es handele sich um

die Herstellung einer Atmosphäre, einer Stimmung des Unerklärbaren, des außerhalb sozialer Koordinaten Seienden. Die Herstellung des Bösen qua Phantasie des Unendlich-Vagen. Das ist unser eigentliches Thema: die mögliche Beteiligung der künstlerischen Phantasie am Bösen, nicht bloß das nicht leugbare Faktum böser Inhalte in der Literatur.6

Es geht also um die Schaffung eines – wie Bohrer es mit Rekurs auf Kierkegaard formu­liert – Zustands »radikalästhetischer Stimmung«,7 in dem moralisch-ethische Werte abwesend sind und das Böse allein durch seine schiere Präsenz die Phantasie vereinnahmt. Dies veranschaulicht er anhand einer Passage aus E.A. Poes The Imp of the Perverse, die in besonderer Weise die präsentische Wirkmacht des Reizes am Bösen illustriere:

We stand upon the brink of a precipice. We peer into the abyss – we grow sick and dizzy. Our first impulse is to shrink from the danger. Unaccountably we remain. By slow degrees the sickness and dizziness and horror become merged in a cloud of unnamable feeling. By gradations, still more imperceptible, the cloud assumes shape, as did the vapour from the bottle out of which arose the genius in the Arabian Nights. But out of this our cloud upon the precipice’s edge, there grows into palpability a shape, far more terrible than any genius or any demon of a tale, and yet it is but a thought, although a fearful one, and one which chills the very marrow of our bones with the fierceness of the delight of its horror. It is merely the idea of what would be our sensations during the sweeping precipitancy of a fall from such a height. And this fall – this rushing annihilation – for the very reason that it involves that one most ghastly and loathsome of all the most ghastly and loathsome images of death and suffering which have ever presented themselves to our imagination – for this very cause we do now the most vividly desire it. 8

Die Leistung des Künstlers bestehe nun in der Generierung einer Stimmung, welche Resultat der Imagination sei. Die Literatur produziere dann ein ästhetisches Böses, wenn sie – wie in Poes Darlegung der Gedanke des Absturzes, »this rushing annihilation« – das eigentümlich lustvolle Gefühl der Entgrenzung ermöglicht, den Leser also in eben einen solchen Zustand zu versetzen vermag: Und es sei erst die Verfasstheit des Textes, die Sprechweise, die jenes ästhetische Böse kreiert, das jeglichen Zeitbezug sprenge und in seiner Plötzlichkeit jene Vorstellung des »Unendlich-Vagen« auslöse, die laut Bohrer charakte­ristisch für es sei. Halten wir also fest: Das ästhetisch Böse zeichnet sich durch das Vorherr­schen einer besonderen Stimmung, seine Momenthaftigkeit, die Absenz jeglicher ethischen Bezüge, die Möglichkeit der Bewusstseinsentgrenzung aus. Es handelt sich dabei nicht um einen Inhalt, der per se als »böse« zu bezeichnen wäre, sondern um eine Imagination, die erst durch ihre besondere semantische Organisation, d.h. ihre Ver­fasst­heit, generiert werde.9

Dieser Konzeption des Bösen liegt damit also ein Ästhetikbegriff zugrunde, der gemäß dem Prinzip der aisthesis, d.h. der sinnlichen »Wahrnehmung«, den Akzent auf die Erlebnisqualitäten, d.i. die Intensität und Plötzlichkeit, des Phänomens verlegt. Es wird damit die ästhetische Dimension betont, d.h. eine Lektüre befördert, die den Text zuvor­derst als Kunstwerk begreift, das außerhalb des lebenspraktischen Bezugs rezipiert wird. Damit trägt er der Auffassung von »Ästhetik [als] Theorie reiner Anschauung des ästhe­tischen Gegenstandes, der keiner Nützlichkeitsbeziehung, sondern in erster Linie um der Anschauung selbst willen gegeben ist«,10 Rechnung. Dabei vollzieht sich für den Leser, was Martin Seel in Bezug auf die Wahrnehmung des Naturschönen neben der korresponsiven und imaginativen als »kontemplative ästhetische Erfahrung« beschreibt: Der Wahrneh­mende distan­ziert sich im Moment der Kontemplation vom wahrge­nom­menen Gegenstand, der ihm nun­mehr ohne Referenz und (Zeit-)Bezug zur Außenwelt in all seiner ›Materia­li­tät‹ erscheint.11 Es wird also ein Effekt erzielt, den man mit Gumbrecht auch »präsentisch« nennen könnte.12

Das Böse ist also insofern als eine ästhetische Kategorie beschreibbar, als es im Kunstwerk der ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht wird. Und diese hat »eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erleb­nis­weisen und Empfindungsqualitäten konfrontiert«.13 Doch damit sich ein solcher Präsenz­effekt einstellt, muss der wahrgenommene Gegenstand bzw. das rezipierte Werk von einer bestimmten Beschaffenheit sein. Konkret in Bezug auf den literarischen Text als Kunst­werk bedeutet dies: Es muss bestimmte Schreibweisen geben, Techniken der literari­schen Praxis – oder um mit Bohrer zu sprechen: »semantische Organisationen« von sprach­lichen Zeichen –, die das böse Sujet inkommensurabel machen. »Inkommen­surabel« insofern, als es nicht mehr als Komplementärkraft des Guten verstanden werden kann und so im Kontext des Gesamtwerks durch eine ethisch positivierende Interpretation aufhebbar wäre.

Mit Bohrers Theorie des Bösen als ästhetischer Kategorie wird der Fokus also auf die Darstellungsebene gelegt, was zunächst eine von ethischen Aspekten unvorbelastete Perspektive eröffnen soll. Dieser Versuch, das Böse aus einem ethisch-moralisch und meta­­physisch konstruierten Bezugssystem herauszulösen und im Rahmen der Ästhetik theore­tisch neu zu begründen, ist jedoch...

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