Kampf der Kulturen oder Verteidigung eines weichen Universalismus
Markus Tiedemann
1 Der Kampf der Kulturen und die Rolle der philosophischen Bildung
Wahrnehmung und Gestaltung der politischen Weltlage sind einem dramatischen Paradigmenwechsel erlegen. Wie sehr der angebliche oder reale Kampf der Kulturen Gemüter und Politik dominiert, zeigt ein Vergleich mit dem optimistischen Zeitgeist der vorangegangenen Epoche. Vor 24 Jahren fand Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« begeisterten Zuspruch bei breiten Schichten von Wissenschaftlern, Bürgern und Politikern (Fukuyama: 1992). Anlässe zum Optimismus gab es genug: Die friedliche Revolution von 1989 führte zum Fall der Berliner Mauer und beendete die Teilung Europas. Der kalte Krieg war Geschichte und die Nachfolgestaaten der UdSSR strebten zur Demokratie. Der Parlamentarismus in der GUS erwies sich als wehrhaft. Nie erhoffte Abrüstungsverträge wurden unterzeichnet. Südafrika überwand die Apartheid, und die Welt feierte Präsidenten wie Nelson Mandela oder Vaclav Havel. Der Nordirlandkonflikt wurde befriedet und in Camp David reichten sich Israelis und Palästinenser die Hand.
Natürlich beruhte diese Deutung der Weltlage auf einer höchst selektiven Wahrnehmung. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, der Völkermord in Ruanda und Burundi, der Jugoslawienkrieg und die Katastrophe von Srebrenica, der Golfkrieg von 1991, die blutigen Konflikte im Kaschmirtal, die Herrschaft der Mudschahedin und Taliban in Afghanistan: all diese Ereignisse mussten entweder ausgeblendet oder als tragische Nachwehen des überwundenen Systemkonflikts umgedeutet werden.
Spätestens mit dem 11. September 2001 war diese Phase beendet. Der bis dahin symbolträchtigste Angriff auf die westliche Lebensform dominierte das kollektive Bewusstsein und verlangte nach Deutung und Kategorisierung. Die passende Konzeption lag bereits auf dem Tisch: Huntingtons Clash of civilisations. Erneut vollzog sich ein Paradigmenwechsel. Der Kampf der Kulturen wurde zum prägenden Interpretationsmuster für nationale und internationale Konflikte. Dramatische politische Fehlentscheidungen und völkerrechtswidrige Kriege waren sowohl Ausdruck als auch Katalysator dieser Entwicklung.
Allein der »Arabische Frühling« unterbrach für kurze Zeit die Verhärtung der Fronten. Auf den Straßen von Tunis, Tripolis oder Kairo wurde mit einer Leidenschaft für Werte wie Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung gestritten, die in der westlichen Welt seit langem nicht beobachtet werden konnte. Kenner der arabischen Welt betonten, dass die Pauschalverurteilung des Westens längst einem differenzierten Bild gewichen sei. Dekadenz, Raubtierkapitalismus und politische Doppelmoral wurden zu Recht kritisiert, die Werte der Aufklärung indes bewundert. »Kant hat mein Leben verändert«, erklärte der junge Ägypter Amr Bargisi der amerikanischen Philosophin Susan Neiman (Neiman 2011, S. 57).
Das Scheitern der arabischen Revolution führte jedoch zu einer Zementierung der realen oder konstruierten Trennlinien zwischen Orient und Okzident sowie einem wachsenden Abgrenzungsbedürfnis. Die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Wenige Äußerungen haben das Denken in kulturellen Gegensätzen stärker belegt als die Weigerung mehrerer europäischer Staaten, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen. Donald Trump forderte wiederholt ein generelles Einreiseverbot für Muslime. Gleichzeitig spitzen sich Konfrontationen zu, die Huntington als »Bruchlinienkonflikte« (Huntington 1996, S. 422 ff) bezeichnet hatte. Zwischen Russland und der Nato droht ein neuer Kalter Krieg, China betreibt eine zunehmend aggressive Expansion, die Teilung des Sudan wurde primär durch den Unterschied zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden begründet, Indien und Pakistan bedrohen einander mit Atomwaffen. Die Liste ist lang. Sodann bewirkt die zunehmende Abschottung gegenüber dem Fremden keineswegs eine verstärkte Kooperation mit dem eigenen Kulturkreis. Die Türkei, der Iran und Ägypten ringen um die Vorherrschaft in der muslimischen Welt und der gesamte arabischpersische Raum versinkt in einer Gewaltspirale, die von Kennern der Region wiederholt mit dem Dreißigjährigen Krieg verglichen wurde (Hermann 2015, S. 110-117).
Auch die politisch gemäßigteren Teile der Welt sind keinesfalls immun gegen kulturelle und nationale Abgrenzungen. Die Präsidentschaft eines Donald Trump taugte vor wenigen Jahren bestenfalls als makaberer Witz einer Comic-Serie. Ähnliche Veränderungen prägen Europa, das lange Zeit als Vorbild für nationenübergreifende Solidarität galt. Belgien, Deutschland, Dänemark, England, Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Österreich, Polen, Schweiz, Schweden, Ungarn: in all diesen Ländern sind entsprechende Parteien in die nationalen oder regionalen Parlamente eingezogen. Längst handelt es sich um keine Minderheiten mehr. Österreich ist nur knapp einer rechtspopulistischen Präsidentschaft entgangen. Italien hat diese Erfahrung bereits gemacht, während in Polen und Ungarn rechtspopulistische Regierung für unantastbar gehaltene Grundwerte wie Gewaltenteilung oder Pressefreiheit verletzen. Tatsächlich steht nicht nur das Wesen, sondern die Existenz der Europäischen Union zur Debatte.
Die Vereinten Nationen, als zur Organisation geronnene Idee einer globalen Völkerverständigung, haben diesen beunruhigenden Entwicklungen wenig entgegenzusetzen. Eine Initiative besteht in dem 2007 gestarteten UNESCO Programm »Philosophy, a school of freedom«. Philosophische Bildung, so das erklärte Ziel des globalen Projekts, soll als Prophylaxe gegen jede Art der Radikalisierung und des Dogmatismus wirken. Angestrebt wird der Citoyen, der mündige Bürger, der die Pluralität nicht als Bedrohung empfindet, sondern durch kritische Urteilskraft an der kollektiven Willensbildung partizipiert. Frederico Mayor hat hierfür die folgenden Worte gefunden:
»Philosophy and Democracy urge each of us to exercise our capacity for judgement, to choose for ourselves the best form of political and social organisation, to find our own values, in short, to become fully what each of us is, a free being. Among so many dangers, we have no other hope.« (Mayor 1995, S. 12)
Doch was vermag philosophische Bildung im zunehmenden Kampf der Kulturen zu bewirken? Um diese Frage zu beantworten ist es zunächst erforderlich, das Verständnis von Philosophie und philosophischer Bildung genauer zu bestimmen. Philosophie ist seit ihrer Entstehung durch eine Doppelstruktur geprägt und beide Seiten der Medaille lassen die Hoffnung der UNESCO durchaus berechtigt erscheinen. Nach Ekkehard Martens und Herbert Schnädelbach lässt sich Philosophie als Wissenschaft durch Objekt- und Ergebnisorientierung charakterisieren, während sie als Aufklärung von Subjekt- und Prozessorientierung geprägt wird.
Das Projekt der Philosophie sofern sie Wissenschaft ist, lehrt sich einem Phänomen vorurteilsfrei zu nähern. Zudem ist Philosophie ohne das Ringen um universelle Gültigkeit nicht zu denken. Dieser Wesenskern machte sie zum Ursprung aller Wissenschaften und begründet zugleich ihre humane und völkerverbindende Kraft. Als Aufklärung war die Philosophie stets darum bemüht, die Autonomie des Individuums gegenüber seinen Traditionen und kulturellen Prägungen zu stärken.
Die folgenden Kapitel sollen drei Leistungen philosophischer Bildung und deren Bedeutung für einen drohenden Kampf der Kulturen verdeutlicht werden.
• Philosophische Bildung als Differenzierung und Kritik
• Philosophische Bildung als Verteidigung des Universalismus
• Philosophische Bildung als Schulung transzendentaler Toleranz.
2 Ein differenziertes Bild vom Kampf der Kulturen
Als Samuel P. Huntington 1993 in der Zeitung Foreign Affairs den Artikel mit dem Titel The Clash of Civilizations? veröffentlichte, löste dieser, nach Angaben der Herausgeber, in den ersten drei Jahren mehr Debatten aus als jeder andere Beitrag, der seit den vierziger Jahren erschienen war (vgl. Huntington 1996, S. 11). Wie einleitend erwähnt, waren seine Thesen spätestens seit dem 11. September 2001 und erneut nach den Pariser Attentaten gegen die Redaktion von Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 in aller Munde. Samuel P. Huntingtons Hauptthese lautet, dass Kohärenz, Desintegration und Konflikt in der Welt nach dem Kalten Krieg und zukünftig nicht mehr...