463. KAPITEL
REFLEKTIERTE KRISENWAHRNEHMUNG – AMBIVALENZ UND KONTINGENZ
Zwangsläufiger Abstieg oder behebbare Fehlentwicklung?
Das soeben skizzierte Krisenpanorama ist keine Diagnose, die unzweideutig Abstieg und Verfall des westlichen Gesellschaftsmodells belegt. Es ist ein erstes Angebot, bestimmte Fehlentwicklungen vielleicht schärfer wahrzunehmen als das üblich ist, jedenfalls aber in einem größeren Zusammenhang. Wer den Westen in der Krise sieht, sollte das reflektiert und informiert begründen, vor allem tatsächliche Krisenindikatoren und tagespolitischen Alarmismus kritisch unterscheiden. Um Aufmerksamkeit zu erringen, arbeiten manche Autoren mit plakativen Untergangszenarien und pflegen damit eine sich selbst verstärkende pessimistische Grundstimmung oder nähern sich den einfachen Erklärungen von Verschwörungstheorien. Steter Alarmismus stumpft ab und leitet inhaltlich auf falsche Fährten. Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch eine gegenläufige Neigung zum Wegschauen und technischen Kleinreden von Entwicklungen, die in Wirklichkeit Symptome einer Umwälzung sind.
Der Westen ist nach wie vor stark und er sollte von keinem Gegner unterschätzt werden. Aber ökonomische, wissenschaftlich-kognitive und technisch-militärische Kraft kann sich auf Dauer nur entfalten, 47wenn sie auf einer starken ideellen und sittlichen Grundlage beruht. Die sittliche Grundlage wiederum hängt von einer angemessenen Identität ab, sowohl in persönlicher Hinsicht als auch die sozialen Kollektive betreffend. Es geht darum, ob eine Gesellschaft weiß, wer sie ist, und wie sie ihre Mittel einzusetzen hat, damit ihre Identität gewahrt und wirksam verteidigt wird. Hieran fehlt es dem Westen inzwischen. Vieles deutet sogar darauf hin, dass Europa und Nordamerika intellektuell fehlprogrammiert sind, dass die einstmals so kraftvollen selbstexpansiven Tugenden der Persönlichkeitsentfaltung46 nicht mehr hinreichend gepflegt, dass ihre durchdachten Institutionen vernachlässigt werden, die Alltagskultur sich vom Identitätsfundament abgekoppelt und deformiert zeigt.
Der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto hat in der französischen Zeitschrift „Le Point“47 zu den Thesen Thomas Pikettys zur Ungleichverteilung von Kapital48 ganz bemerkenswerte Einwände formuliert. Für ihn ist europäische Wirtschaftswissenschaft und die der amerikanischen Ostküste im Stile Pikettys eine mitunter ideologisch geprägte Veranstaltung gutmeinender Menschen, ohne ausreichende empirisch valide Basis, die nicht genug weiß von Lebensverhältnissen in Ländern wie Ägypten mit ihrer geradezu dominanten Schattenwirtschaft, die mit gängigen Datensätzen statistisch nicht erschließbar ist. Am bemerkenswertesten aber ist de Sotos Identifizierung „des Westens“ mit alten antikapitalistischen Klischees: „Für die meisten von uns, welche nicht in der Denkweise des Westens und in europäischen Kategorisierungen gefangen sind, sind Kapital und Arbeit nicht natürliche Feinde, sondern miteinander verbundene Facetten ein und desselben Kontinuums.“
Warum steht in dieser Sichtweise die Meinung Pikettys für den europäisch-nordamerikanischen Westen und warum nicht die Einwände de Sotos, der sich viel deutlicher am neuzeitlich westlichen Weltbild orientiert? Hat der Westen sich in seinen Kernregionen vielleicht selbst entwestlicht?
48Starker oder schwacher Westen?
Die westliche Welt sollte ihren scharfen Blick bewahren, sonst verpasst sie die Ungleichzeitigkeiten fragmentierter Weltwahrnehmungen, die einen Zeiten- und Epochenumbruch ankündigen. Jenseits des westlichen Wertesystems, das jeden einzelnen Menschen mit seiner angeborenen Würde und Befähigung zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit in die Mitte der legitimen Ordnung rückt, enden Aufklärung und Zivilisation. In der globalisierten, in der einen Welt ist der Westen scheinbar überall49 – allgegenwärtig und unwiderstehlich. Doch in Wirklichkeit ist er ebenso erfolgreich wie gefährdet. Für die eine Seite stehen die protestierenden Menschen in Hongkong im Licht ihrer Mobiltelefone, die moderne Jugend in Istanbul oder in Djakarta, nicht nur die in New York oder London. Auf der anderen Seite steht ein von außen kommendes und von innen herrührendes Bedrohungsszenario. Der starke Westen ist inzwischen beinah überall herausgefordert und bedroht, durch seine Gegner und durch seine eigenen Fehler. Doch Fehler lassen sich korrigieren. Wenn die Einsicht in den Wert der eigenen Ordnung wächst, wird auch der neuzeitliche Westen wieder aufsteigen und sich zugleich verwandeln in die universale Perspektive der Zivilisation.
Wer beurteilen will, ob der Westen in einer dramatischen Krise steckt oder nach wie vor dominant ist, sollte genauer danach fragen, welcher Raum für die persönliche Selbstentfaltung bleibt. Und er sollte kritisch nachfragen, wie hoch der politische und rechtliche Regulierungsanteil am Sozialleben inzwischen ist. Dabei könnte eine Zunahme von politischen Regelsetzungen allerdings auch Kompensation für soziale Ordnungsverluste sein, die entstehen, wenn außerstaatliche sittliche Standards, eine überspannende Werteordnung allmählich verblassen oder dysfunktional werden.
49Das negative Szenario
Es bieten sich zwei entgegengesetzte, aber letztlich miteinander verschränkte Thesen an. Wählt man ein negatives Szenario, so könnte in Zukunft die Welt heute noch unvorstellbar scheinende Ordnungsverluste erleiden. Es wäre dann vermehrt mit Kriegen und Bürgerkriegen zu rechnen, an die man sich in den Metropolen zu gewöhnen hätte und gewöhnen würde. Die Schusswechsel, die in Michel Houellebecqs Roman „Soumission“ in einem fiktiven Paris alltäglich sind, könnten wirklich Teil des Alltags werden. Es käme zu einer wachsenden sozialen Fragmentierung, also einer Abschließung sozialer Milieus, die jede republikanische Verständigung unterbräche. Der Fragmentierungsgraben müsste keineswegs nur an der Unterscheidung zwischen „Arm und Reich“ verlaufen, es ginge vor allem um die Abschließung von religiös, national oder ideologisch bestimmten Kulturräumen und vielleicht mehr noch um diffuse Alltagswelten, die den Kontakt zu dem, was im politischen, rechtlichen und hochkulturellen Raum diskutiert wird, verlören.
Das zivilisatorische Niveau könnte bei erheblichen Ordnungs- und Orientierungsverlusten dramatisch sinken bis zur Rückkehr eines sanften Analphabetentums und die Ersetzung der individuellen Bildung durch digital vernetzte, an Mechanismen unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung andockende kognitive Techniken. All das würde vermutlich geschehen innerhalb der Matrix von globalisierter Marktwirtschaft, formal fortbestehender Demokratien und Rechtsstaaten. Zivilisationsverluste könnten sich abspielen unter dem Dach einer überstaatlich-internationalisierten Herrschaft vernetzter Regierungen. Sie würde bürokratisch und sozialinstrumentell als transnationale Gubernative agieren, wäre aber im Wesentlichen der Alltags- und Vorstellungswelt der Menschen entwachsen. Wird die Weltfinanzkrise von 2008 vielleicht in künftiger Betrachtung das definitive Ende der Hegemonie des von den USA geführten Westens markieren? Befinden wir uns nicht längst in einem unaufhaltbaren Prozess der Auflösung moderner neuzeitlicher Sozialstrukturen?
50Das positive Szenario: Fortbestehende Dominanz des Westens
Um zu solch einem bruchlosen negativen Szenario zu gelangen, muss man die gegenläufigen Kraftlinien allerdings schon sehr dünn malen. Schaut man auf wirtschaftliche Kennzahlen und militärische Potenziale, so besteht jedenfalls auf den ersten Blick kein Zweifel an der fortbestehenden Dominanz des Westens. Nordamerika, die EU und Japan verfügen auch heute noch über rund 50 % des globalen Bruttoinlandsprodukts, während das mal fasziniert mal argwöhnisch betrachtete, jedenfalls aber als kommende Macht gesehene China sich erst dem Gewicht der USA oder der EU annähert. Staaten wie Indien oder Brasilien gehören eigentlich auch in den G7-Club der führenden Wirtschaftsmächte, sie sind nicht dezidiert antiwestlich eingestellt, weisen aber erhebliche kulturelle Ambivalenzen auf. Russland steuert zur Zeit einen antiwestlichen Kurs, ohne genuin antiwestlich zu sein. Das Land ist wirtschaftlich gesehen eher eine (relativ bedeutende) Mittelmacht mit einseitiger Abhängigkeit vom Rohstoffexport, dessen militärisches Aufrüstungsprogramm bedrohlich ist, aber sehr relativiert würde, wenn der Westen sich (gewiss widerwillig) entschließen sollte, seine Wirtschaftspotenziale verstärkt in Rüstung zu stecken.
Die westlichen Staaten sind in ihrer Dynamik, ihrer Stabilität, in den wissenschaftlichen und technischen Leistungen heute immer noch deutlich führend. Zwar hat das Europa der EU etwas an relativer Bedeutung eingebüßt, besitzt aber gemessen am globalen Bruttoinlandsprodukt wirtschaftlich noch etwa das Gewicht der USA.50 Vor allem aber: Wirtschaftliche Potenziale entfalten sich nach wie vor nur optimal, wenn die entsprechenden soziokulturellen und psychologisch mentalen Bedingungen erfüllt sind. Auch hier hat der Westen weniger Konkurrenz als mancher Kulturpessimismus glauben machen will. Die Erziehung zu Kreativität, selbstbewusster Lebensgestaltung und Eigenwilligkeit harmoniert mit den ausdifferenzierten sozialen Systemen, die mit kollektivistischen sozialen Ordnungen nur unzureichend 51bedient werden können. Allerdings wäre kritisch zu hinterfragen, ob der Westen diese Potenziale...