Einleitung
Unheimlich. Richtig unheimlich ist der Zustand, in dem sich das Land Tirol seit Sommer 2008 befindet. Es ist ein Zustand, in dem der Zynismus der Macht Feste feiert mit seiner Gefährtin Arroganz. Ein Zustand, in dem als unmöglich erkannte Normen kaum gehemmt weiterhin die Maßstäbe der politischen Taten diktieren und der entlarvenden Agrar-Affäre neue Würze geben. Ein Zustand, in dem die ohnehin schon so schwach ausgeprägte Demokratie Gefahr läuft, ihre letzten Anhänger zu verlieren – die letzten Demokraten quasi, deren Hoffnung auf ein reinigendes Gewitter, eine Katharsis für das System Tirol, sich bislang nicht erfüllte. In diesem Zustand, der durch den steten Blick in eine wenig schmeichelhafte Vergangenheit und den Blick in eine nicht schmeichelhaftere Zukunft janusköpfig wirkt, wird Geschichte geschrieben. Und diese Geschichte ist so unheimlich, dass einem der Atem stockt. Sie ist spannend wie ein Krimi und nach wie vor geht es um Macht, um Geld und darum, wem Tirol gehört. Die Gesichter mögen andere sein, doch die Triebfedern sind die gleichen geblieben. Fast brach im Sommer 2008 eine neue Zeitrechnung an. Fast.
Als das Erkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes (VfGH) zur Causa Agrargemeinschaft Mieders veröffentlicht wurde, war die Landtagswahl dieses Jahres bereits geschlagen. Das Agrarthema hatte den Wahlkampf auf weite Strecken beherrscht. Die Nervosität angesichts der nur schwer fassbaren Auswirkungen der so heimtückischen „Enteignung“ so vieler Tiroler Gemeinden zugunsten einer kleinen Minderheit war prickelnd spürbar gewesen. Doch, es bleibt lediglich eine Herausforderung für die Phantasie, sich auszumalen, wie die Wahl wohl ausgegangen wäre, hätten die Höchstrichter der Republik schon vor dem 8. Juni 2008, dem Wahltag, zum wiederholten Mal klargestellt, wem Tirol gehört und immer schon gehörte. Die Wächter über die Verfassung beziehungsweise die Grundlagen des österreichischen Staats- und Rechtssystems waren im Zusammenhang mit der längst abenteuerlich wirkenden Übertragung des Miederer Gemeindegutes an eine Handvoll Bauern zum Schluss gekommen, dass diese „offenkundig verfassungswidrig“ passiert war. Synonyme für offenkundig sind deutlich, augenscheinlich, eklatant, ersichtlich oder handfest, was wiederum den Schluss zulässt, dass die dafür verantwortlichen Politiker sowie die Beamten des Landes genau wussten, dass es Unrecht und aus juristischer Sicht vollkommen undenkbar war, den betroffenen Tiroler Gemeinden weit über 2.000 Quadratkilometer zu nehmen und mit hanebüchenen Begründungen einzelnen Gemeinschaften aus alteingesessenen Bauern zu geben. Was ab den 1950er Jahren passierte, war schon ein starkes Stück und den Akt dieser historischen Eigentumsverschiebung als „kriminell“ zu bezeichnen, war nie arg weit hergeholt.
Dass der „Kriminalfall“ (Zitat Georg Willi) nach 1982, als der Verfassungsgerichtshof dieses Unrecht erstmals erkannt und dementsprechend verbannt hatte, ungehemmt fortgesetzt wurde, verleiht der Tiroler Politik einen besonders schillernden Orden für die damit eindrucksvoll bewiesene Verfassungsignoranz. Dass ebendiese Tradition nicht nur nach 1982, sondern auch nach 2008 fortgesetzt wurde, als handle es sich um eine Sucht, eine Abhängigkeit, von der man sich nicht so schnell lösen kann, macht aus der Causa Agrargemeinschaften ein entscheidendes Kapitel der Tiroler Geschichte im 20. wie auch im 21. Jahrhundert.
Die Landtagswahl 2008 wäre jedenfalls weit spannender geworden, wären all die Einzelheiten des zweiten VfGH-Erkenntnisses zuvor bekannt gewesen beziehungsweise wäre deren Tragweite in der breiten Öffentlichkeit erfasst worden.
Die Wahlschlappe der Tiroler ÖVP wirkte trotzdem historisch – in Zahlen wie in den Auswirkungen. Mit 40,5 Prozent der Stimmen und einem Minus von 9,39 Prozent gegenüber der Wahl des Jahres 2003 hatte die traditionelle Machtpartei des Landes eine bittere Niederlage erfahren. Die Liste des ehemaligen AK-Präsidenten Fritz Dinkhauser (Bürgerforum/Liste Fritz) schaffte auf Anhieb mit 18,35 Prozent den Einzug in den Tiroler Landtag. Koalitionsgespräche zwischen Bürgerforum, SPÖ, Grünen und FPÖ scheiterten, es kam zu einer Fortsetzung der schwarz-roten Koalition, doch die Regierungsriege der Tiroler VP wurde fast komplett ausgetauscht. Fast.
Der Spitzenkandidat der Wahl 2008 und VP-Obmann des Debakels, Alt-Landeshauptmann Herwig van Staa, wurde zum Landtagspräsidenten geadelt. Ex-Minister Günther Platter wurde neuer Landeshauptmann und der einzige aus der alten Riege verbleibende Landesrat sein Stellvertreter. Bauernbundobmann Anton Steixner wurde damit zum roten Faden für die Fortsetzung des „Tiroler Krimis“ und zur Personifizierung für die dabei sichtbar gewordene Tiefe und krakenhafte Ausdehnung der Macht seines Bundes auf oder über alle relevanten Schaltstellen des Landes.
Schon vor der Landtagswahl 2008 war es kein Geheimnis gewesen, dass der Bauernbund – der mehr als tonangebende politische Funktionärsloge betrachtet werden sollte, denn als Interessenvertretung für die schwindende Zahl der Tiroler Landwirte – überproportionalen Einfluss auf die Entscheidungsfindungsprozesse auf allen politischen Ebenen hat. Nach der Wahl 2008 wurde dieser Einfluss zunehmend greifbar – aber auch angreifbar. Die Zeit nach dem Erkenntnis war die Zeit der großen Demaskierung und es überraschte, wie viele Gesichter dem bäuerlichen Machtmonopol zugeschrieben werden mussten. Es erstaunte, wenn Funktionäre des AAB oder des Wirtschaftsbundes keine Lanze für die Gemeinden oder jene bündischen Mitglieder brachen, auf deren Kosten das Unrecht über Jahre passieren durfte. Es erschütterte, dass die Staatsanwaltschaft so viel Zeit verstreichen ließ, um endlich tätig zu werden. Die jungfräuliche Zurückhaltung der Justizbehörden angesichts der im Zusammenhang mit den Agrargemeinschaften so zahlreich auftretenden Verdachtsmomente ist in ihrer Auswirkung nicht zu unterschätzen. Auch die Justizbehörden unterstützen damit auf Umwegen die Haltung der agrarischen Hardliner, die bislang weder Tod noch Teufel fürchten mussten, wenn sie sich dem Gesetz und der Verfassung zum eigenen Wohl und zum Schaden der Gemeinden widersetzen durften. Dass einige Vertreter von Gemeindeguts-Agrargemeinschaften alle rechtlichen Register ziehen, um die Verfügungsgewalt über die Gemeindegrundstücke zu behalten, ist aus deren Sicht nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar bleibt jedoch, dass der Landesgesetzgeber diese Wege nicht kraft seiner Kompetenz und auf Grundlage der höchstgerichtlichen Erkenntnisse abschneidet und die verfahrene Causa in eine verfassungskonforme und „friedliche“ Richtung lenkt.
Die agrarischen Hardliner – und das ist ein entscheidender Punkt in der Debatte – dürfen nicht mit „den Bauern“ bzw. jenem Stand, der aktive Landwirtschaft betreibt und dabei ständig an die Grenzen des Machbaren stößt, gleichgesetzt werden. Die echten Vertreter des Bauernstandes, deren Bild in jeder landwirtschaftlichen Debatte so gerne bedient wird, sind nicht die treibenden Kräfte hinter der Diskussion, die das Land in ein dunkles Licht rückt. Wie die Figuren auf dem Schachbrett müssen sie jedoch als Bollwerk dienen, hinter welchem sich die verantwortlichen Machtpolitiker verschanzen. Dass Kritiker des Agrargemeinschafts-Systems in Windeseile als „Bauernhasser“ bezeichnet werden, ist nicht nur dümmlich, es greift auch zu kurz. Unter anderem, weil knapp zwei Drittel der Mitglieder von Tiroler Gemeindegutsagrargemeinschaften keine Landwirte mehr sind oder gar nie etwas mit Landwirtschaft zu tun hatten.
Das unwürdige Spiel mit den Gemeinden selbst, die vom Land Tirol auf einen unmöglichen Weg geschickt wurden, um vor den verschiedenen Instanzen und Gerichten dafür zu kämpfen, dass sie zurückbekommen, was ihnen ohne jegliche rechtliche Grundlage entzogen worden war, wurde von weiten Teilen der Tiroler ÖVP gedeckt. Immer unheimlicher wurde damit die wachsende Gewissheit darüber, was die Tiroler VP im Inneren zusammenhält.
Gemeindeverbands-Präsident Ernst Schöpf und Arbeiterkammer-Präsident Erwin Zangerl stachen innerhalb der ÖVP als Kämpfer für die Gemeinden heraus und ihre, vom täglichen landespolitischen Trubel oder parteiinternen Auseinandersetzungen unabhängigen Positionen ließen den Schluss zu, dass es für in Landespolitik oder Landes-Ämtern Ehrgeizige nach wie vor nicht ratsam zu sein scheint, sich gegen die Bauernloge zu stellen. Und sei deren Ideologie noch so fragwürdig oder undemokratisch.
Nie ging es in der Diskussion um die Kuh im Stall, nie um die echten beziehungsweise praktizierenden Landwirte, deren ursprüngliche, also an den konkreten Haus- und Gutsbedarf gekoppelte Nutzungsrechte am Gemeindegut auch durch die Umsetzung der verfassungskonformen Grundlagen nicht tangiert würden. Nein, die große Demaskierung, die im Zusammenhang mit den Agrargemeinschaften stattfand, offenbarte schlicht eine Oligarchie, also die Macht einiger weniger, die sich so wenig wie möglich darum scheren, was der Mehrheit zusteht und was die Verfassung verlangt. Dreist wird zugelassen oder gar gefördert, dass die zuständigen Landesbeamten erneut erstaunlich ignorant gegenüber den Gemeinden agieren und erstaunlich günstig für die Agrargemeinschaften entscheiden. Es wird zugelassen, dass Bürgermeister betroffener Gemeinden sich beim Kampf um die jahrzehntelang missbrauchten Grundstücke ihrer Kommunen die Zähne ausbeißen. Es wird zugelassen beziehungsweise sogar gefördert, dass Bürgermeister sich durch Vereinbarungen mit den Gemeindegutsagrargemeinschaften möglicherweise strafrechtlich verfolgbar machen. Es wird zugelassen,...