Der Mensch ist nach Auffassung von Alfred A. Tomatis (Professor für Audio-Psycho-Phonologie und Psycholinguistik in Paris) von Anfang an auf das Hören, genauer gesagt auf das Horchen hin ausgelegt.[1] Durch das Hören nimmt der Mensch die Laute aus seiner Umwelt auf, die sich auf sein physisches und psychisches Befinden auswirken, denn durch das Ohr wird das Gehirn ungefähr zu 90 Prozent mit Energie versorgt und beeinflusst so die „geistige Wachheit, aber auch Vitalität und Kreativität“.[2] Doch wenn der Mensch nicht nur hört, sondern zum Horchenden wird, dann hat er den Wunsch, „die Laute zu empfangen, sie zu sammeln, sie miteinander zu verknüpfen, sie zu speichern, sie zu integrieren“. Horchen ist eine Fähigkeit, „die über die organische Funktion des Ohres weit hinausreicht“[3] und schon im Mutterleib im Menschen grundgelegt ist. Der Fötus ist schon mit viereinhalb Monaten in der Lage, auf Geräusche zu reagieren, auf sie zu horchen.[4] Dieses Horchen ist „eine willkürliche, aktive Handlung, die den Menschen für alles öffnet, für den anderen ebenso wie für sich selbst“,[5] es richtet sich auf das Leben.
Tomatis spricht auch vom „Klang des Lebens“, den der Mensch hört, wenn er ganz zur Ruhe und zum Schweigen kommt. Diesen Klang beschreibt er mit einem gleichmäßigen Rauschen, das durch mikroskopisch feine Schwingungen im Ohr entsteht und mit dem der Mensch von Anfang an vertraut ist.[6] Im Schweigen und Hören auf diesen Urklang des Lebens findet der Mensch, so Tomatis, ein inneres Erfülltsein, Ruhe und Heiterkeit – er hört sich sozusagen selbst leben.[7]
Ebenso entwickelt sich durch das Horchen die Sprache und ist somit für wahre Kommunikation grundlegend. „Kommunikation heißt nicht nur, eine bestimmte Sprache im Umgang mit dem anderen zu verwenden, sondern vor allem, sich diesem anderen ganz zu öffnen. Das ist das Horchen. Den Dialog annehmen und ermöglichen. Mit dem anderen einen Einklang herstellen, der von Verständnis und Liebe getragen ist.“[8] Solch ein Hinhören verlangt aber, eigene Prioritäten zurückzustellen, darauf zu verzichten, gleich die eigene Meinung zu sagen, und sich „damit begnügen, gleichsam ein aufnahmebereites Gefäß für die Worte des anderen zu sein“.[9] Dieses Hinhören setzt aber voraus, dass der Mensch, der zuhört, schweigt, denn so lange er selbst redet, kann er nicht hören. Wer zuhören will, muss lernen zu schweigen[10] und muss Zeit haben für sein Gegenüber.
Insofern ist das Schweigen und Hören wesentlich für tragfähige Beziehungen, nach denen der Mensch ein grundlegendes Bedürfnis hat; diese Haltungen sind demnach für das Menschsein von großer Bedeutung.[11] „Solches Zuhören“ im oben genannten Sinn, „festigt einerseits unsere Beziehungen mit anderen, und zwar durch die Intensität der Kommunikation, die dabei stattfindet; andererseits bestätigt sie uns in unserem Selbstwertgefühl“.[12] Ein Mensch, dem so zugehört wird, fühlt sich verstanden, bestätigt und akzeptiert – es wird ihm durch das Zuhören Wert gegeben und der Mensch kann sich dadurch selbst-wert-fühlen.[13] Umgekehrt bedeutet das Hörenkönnen für den, der zuhört, „sich öffnen, um zu empfangen; es ist eine Fähigkeit, in der Liebe zum Ausdruck kommt. Wer nicht mehr hören kann, isoliert sich; er bleibt eingeschlossen im engen Kreis seiner eigenen Gedanken; sein Leben wird steril und unfruchtbar“.[14]
Auch wo Menschen nur miteinander schweigen, kann ein gegenseitiges Verstehen auf einer anderen Ebene stattfinden: z.B. gibt es „für zwei Menschen, die sich lieben, die sich vorbehaltlos vertrauen, … kaum etwas Schöneres und Tieferes als das Erleben der gemeinsamen Stille und des Schweigens. Dieses Stillschweigen miteinander, …, strahlt Vertrauen, Geborgenheit und Verstandensein aus“.[15]
So ist das schweigende Zuhören und in sich Hineinhören, das Miteinanderschweigen und auch das Gehörtwerden für das Menschsein von großer Bedeutung.
1.2 Die „Schweige- und Hörfähigkeit“ des heutigen Menschen
Beim erwachsenen Menschen ist laut Tomatis die Gefahr groß, dass die ursprüngliche Verbindung zum Leben, die ihm durch das Schweigen und Hören (genauer: im Horchen) möglich ist, allmählich abreißt und er sein Leben „noch nicht einmal im Inneren zu spüren vermag“.[16] Denn die Sorgen und Probleme „die die oft schwierigen Anforderungen des Alltags hervorrufen“ und mit denen sich der Mensch auseinandersetzen muss, „lassen die Fähigkeit zu horchen verkümmern“.[17] So horchen viele Menschen kaum noch in dem oben genannten Sinn, sie hören allenfalls noch.[18] Hinzu kommt, dass die Zwänge der heutigen Zeit „leider unsere Aufmerksamkeitsspanne schrumpfen lassen und die Intensität des Zuhörens in unserem Leben verringert. Wir leben in Hetze, laufen unseren zahlreichen Verpflichtungen hinterher oder davon und schotten uns von der Außenwelt ab“.[19] Karlheinz A. Geißler spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Simultanten’ – dem Menschen, der aus der Not heraus, so vielen Tätigkeiten nachkommen zu müssen meint, mehrere Dinge gleichzeitig tut, aber selten mit voller Aufmerksamkeit bei einer Sache ist. Dieses Verhalten wird z.T. auch durch die Arbeitsstrukturen in unserer heutigen Wirtschaft gefördert, die sich dahingehend verändert haben, „dass die vorhandene Arbeit auf immer weniger Schultern verteilt wird“[20] und so der Mensch zwangsläufig immer mehr in die ihm vorhandene Zeit ‚hineinpacken’ muss. Simultanten, von denen es heute viele gibt,[21] kommen so also kaum zu der Ruhe, die für das Hören, das wirkliche Zuhören, dem Horchen nötig wäre.
Solch ein Aktionismus verhindert auch, dass der Mensch sich selbst hört – es ist auch eine Flucht vor der Begegnung mit sich selbst, welche geschehen kann, wenn der Mensch zur Ruhe, in die Stille kommt. In der Stille kann den Menschen die Angst befallen, in ‚ein Loch’ zu fallen und womöglich das eigene Leben als sinnentleert zu erfahren, sich selbst nicht mehr zu spüren. Diese Stille scheut der Mensch und versucht deshalb, sich selbst zu entkommen und Erfüllung und Lebenssinn in verschiedensten Freizeitbeschäftigungen zu finden:[22] „In unserer Freizeit wollen wir uns spüren. Der Flow gibt uns Authentizität, das Einssein mit der Welt. … Hinter der Freizeit steht eigentlich die Frage nach dem Sinn des Lebens“.[23]
Doch mit dem verlernten Horchen hat der Mensch auch verlernt, in wirkliche Beziehung, in Kommunikation mit anderen Menschen zu treten: „Viele Konflikte in unserem Leben (sind) durch den einfachen, aber unglückseligen Umstand zu erklären …: Wir hören einander überhaupt nicht zu.“[24] Aus solchen Beziehungsstörungen heraus entsteht dann das ‚eisige Schweigen’, bzw. die ‚bedrückende Stille’, was als unangenehm und bedrohlich empfunden wird und vor dem die Menschen gerne fliehen. Dass dieses Problem in unserer Gesellschaft viele Menschen betrifft, zeigt schon allein das große Angebot auch von kirchlicher Seite an Kommunikationstrainingsseminaren und auch die große Auswahl an Büchern zu diesem Thema. Die Sehnsucht des Menschen ist groß, angehört und verstanden zu werden,[25] doch selbst einem anderen zuzuhören, ist schwer, denn wirkliches Zuhören bedeutet ja, die eigenen Bedürfnisse zurückzustecken und ganz beim anderen zu sein und es entsteht die Angst, sich dabei vielleicht selbst zu verlieren oder mit seinen eigenen Bedürfnissen zu kurz zu kommen.[26]
In diesem Zusammenhang seien auch die sogenannten ‚Vielredner’ erwähnt, die ohne Punkt und Komma reden, „ohne dem Gegenüber die Möglichkeit zu lassen, irgendwo nachhaltig einzuhaken“.[27] Nach Friedemann Schulz von Thun vermeidet er mit dieser ‚Strategie’ – meist unbewusst -, „dass Themen, Gedanken und Gefühle aufkommen, auf die er gar nicht ‚gefasst’ war, dass vielleicht Fragen gestellt oder Punkte angesprochen werden, die ein inneres Tabu berühren. Wer davor große Angst hat, spricht am besten nur selbst: so behält er das Geschehen vollständig in der Hand“.[28] Für diese Menschen sind Gesprächspausen äußerst unangenehm und peinlich und sie versuchen dann krampfhaft, die Stille zu ‚füllen’, indem sie irgendetwas erzählen und damit den anderen ‚totreden’. Schulz von Thun...