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E-Book

Selbstrufmord

Geschichten, die man eigentlich nicht erzählen sollte

AutorMartin Tietjen
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783104905211
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Sich wegschmeißen, fremdschämen und sich wiedererkennen. Martin Tietjen lässt sprichwörtlich die Hosen runter und redet Klartext übers Leben, über die Liebe und was dabei alles schief gehen kann. »Am frühen Morgen machten wir uns auf den Weg nach Hause, ich saß im Nachtbus und erstarrte plötzlich vor Schreck. Ach du Scheiße! Ich hatte meinen Schal bei der Prostituierten im Zimmer vergessen, und mir fiel ein, dass meine Mutter uns Kindern immer den kompletten Namen in die Klamotten stickte, damit wir sie auf Klassenfahrten nicht mit anderen verwechseln konnten. Und so mischte sich das beschwingte Gefühl, endlich keine Jungfrau mehr zu sein, mit der Angst, dass jemand aus dem Paradise Point of Sex bei meiner Mutter zu Hause anruft, weil mein Schal gefunden wurde. Aber - und viel wichtiger noch - auch mit der Erkenntnis, dass Frauen vielleicht doch nicht das Richtige für mich sind und ich mich endlich zu dem bekennen sollte, der ich eigentlich war.«

Martin Tietjen (geboren 1985) ist halb deutsch und halb schwedisch. ?Sein Vater sah ihn als Konzernchef, seine Oma wollte ihn mit dem schwedischen Königshaus verheiraten. Doch Martin Tietjen hat seine eigenen Pläne, an denen er regelmäßig unterhaltsam scheitert. Seine Karriere startete er als Moderator beim Musiksender VIVA, er stand für den Norddeutschen Rundfunk vor der Kamera und ist zur Zeit Backstagemoderator bei RTL (DSDS, Let's Dance, Ninja Warrior).

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Leseprobe

Kapitel 2 Schwuli, Schwuli


»Der wird es einmal einfach in der Schule haben.« Freunde und Bekannte meiner Eltern waren sich bei meiner Zukunft ziemlich sicher. Ich konnte schon sehr früh sprechen, das auch noch sehr viel, stellte ständig Fragen, und wenn ich nicht gerade am Reden war, saß ich irgendwo rum und sang textsicher jedes Kinderlied von Rolf Zuckowski mit. Bestärkt durch die Meinung der anderen, lehnten sich meine Eltern entspannt zurück und freuten sich auf eine sorgenfreie Schulzeit ihres zweiten Kindes. Absolut zu früh gefreut!

 

Die Probleme fingen am ersten Schultag an, als ich mich mit Christian um den besten Platz im Klassenzimmer kloppte. Ab dann wurde es auch nicht wirklich besser. Ich war faul, frech, laut, viel zu ehrlich und hatte ein großes Problem mit Autoritäten. Das alles wäre ja noch verkraftbar gewesen, wenn meine Schulnoten gestimmt hätten. Aber du kannst es dir einfach nicht leisten, aufmüpfig zu sein, wenn du gleichzeitig auch noch dumm bist. Schule war für mich der absolute Horror. Ich habe sie gehasst und einfach nie begriffen: Warum soll ich Sinus, Kosinus und Tangens lernen? Wo wird mir das in meinem späteren Leben irgendwann mal weiterhelfen? Und ja, aus heutiger Sicht kann ich bestätigen, dass ich in keiner meiner Moderationen beim Fernsehen jemals mein gelerntes Wissen über Kurvendiskussionen anwenden konnte. Aber darum geht es ja auch nicht. In den seltensten Fällen lernen wir in der Schule ganz spezifische Dinge für unseren späteren Beruf. Man lernt eher fürs große Ganze. Nur leider habe ich das erst nach meiner Schulzeit begriffen. Damals sah ich nur einen riesigen Berg Arbeit und einen strengen Lehrer vor mir, von dem ich mir nichts sagen lassen wollte.

Vielleicht hätte mir einfach mal einer sagen sollen, dass ich Mathe lerne, um schnell im Kopf zu werden, dass ich in Deutsch aufpassen muss, um schlau und schlagfertig zu sein, und dass ich beim Sport mitmachen soll, um Teamgeist zu entwickeln und um auf dem Dating-Markt später bessere Chancen zu haben. »Du machst das jetzt, weil ich dir das sage« – hat bei mir noch nie wirklich funktioniert.

 

Das letzte Mal, dass ich den großen, tristen Betonplatz meiner Schule betreten habe, ist schon verdammt lange her. Dennoch reicht allein der Gedanke an ihn aus, um bei mir auch heute noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend auszulösen. Denn nicht nur die Schulstunden waren nie so wirklich meins, sondern auch die Pausen. Dort herrschte Krieg. Die Pausenklingel war wie der Startgong eines zwanzigminütigen Boxkampfes ohne Regelwerk und Schiedsrichter, bei dem es hauptsächlich um Klassenerhalt ging. Standing war alles.

Ich war nie der Coole, ich war nie der Loser, ich war irgendetwas dazwischen. Aber allein dieses mittelmäßige Standing zu halten, bedurfte einiges an Arbeit und Voraussicht. Denn die Gefahr, dich mit nur einem falschen Move ins gesellschaftliche Aus zu schießen, war enorm. Setz dich einmal mit ’ner hellen Hose in eine Milchschnitte, und die Ratingagenturen des Schulhofes verpassen dir für die nächsten zwei Monate ein D.

Finde dann noch die falsche Band cool oder kauf dir Fishbone-Sneakers, obwohl Fishbone schon längst durch ist, und du wirst gesellschaftlich so geächtet, dass die Wahrscheinlichkeit, Naddel steigt zum A-Promi auf, größer ist, als dass du auf Klassenfahrt mit den coolen Kids ins selbe Zimmer darfst.

Zwar hatte ich immer ein genaues Auge, was herumliegende Milchschnitten und andere Fettnäpfchen anging, aber dies schützte mich leider nicht davor, auf einer Klassenreise an den Plöner See alleine im Zelt schlafen zu müssen.

Ich war in der achten Klasse und, sagen wir mal so, vom Beliebtheitsfaktor knapp vor ausgelaufener Milch im Schulranzen und Tafeldienst. Es war nicht nur so, dass mich die coolen Kids nicht in ihrem Zelt haben wollten, es fand sich noch nicht mal ein Zelt, in dem ich alleine schlafen konnte. Mein Vater hatte eine top ausgestattete Campingausrüstung zu Hause im Keller liegen, aber er wollte mir sein Zelt nicht leihen. »Das machst du nur wieder kaputt!« Zwar erinnere ich mich nicht, jemals als aggressiver Zeltzerstörer in Erscheinung getreten zu sein, aber mein Papa ließ sich durch nichts umstimmen. War das ein Omen für mein Leben? Obdachlosigkeit und keiner, der neben mir aufwachen wollte?

Meine Rettung war mein Klassenlehrer Herr Meyer, der eines der Probleme lösen konnte. Die Obdachlosigkeit. Er hatte bei sich zu Hause noch ein Zelt und versprach, es mir auf die Klassenfahrt mitzubringen. Ich schmiedete den Plan, das geilste Zelt des Campingplatzes zu haben, und wollte alle neidisch machen. Meine Klassenkameraden sollten es bitter bereuen, nicht mit mir ins Zelt zu wollen. Während alle anderen nur eine dünne Isomatte zum Schlafen mitnahmen, packte ich ein großes, aufblasbares Schlafbett ein. Ich stopfte sogar meine richtige Bettwäsche in den Rucksack, weil ich keinen Bock darauf hatte, in einem Schlafsack zu schlafen. Für die Verpflegung kaufte ich die besten Süßigkeiten, die der Penny hergab, und brachte zur Unterhaltung einen tragbaren CD-Player mit. Aktion Neid war gestartet.

Ich hatte also einiges zu schleppen, und da ich damals noch unsportlicher war, als ich es heute bin, machte mir der lange Fußmarsch vom Plöner Bahnhof bis zum Campingplatz ganz schön zu schaffen. Der Abstand zur Gruppe wurde immer größer, und als ich endlich auf dem Zeltplatz eintraf, hatten alle anderen schon angefangen, ihre Zelte auf einer kleinen Lichtung aufzuschlagen. Die Ansage des Lehrers lautete: »Bitte alle Zelte in einem großen Kreis aufbauen.« Das Problem für mich als schwerbeladener Nachzügler: Der Kreis war leider schon geschlossen. Die Zelte standen dicht an dicht, und ich hätte mein Luftbett vielleicht mal gerade hochkant dazwischenquetschen können. Für mein Zelt gab es keinen Platz mehr. Hinter mir hörte ich Stangen auf den Boden fallen. Herr Meyer stand im Kreis, ließ den Sack mit meinem Zelt auf den Boden plumpsen und sagte nur trocken: »Dann baut der Prinz halt sein Zelt hier in der Mitte auf.«

Mir missfiel der Adelstitel, die Mitte des Kreises sagte mir auch nicht zu, und das, was ich aus dem Zeltsack zog, trieb mir schlagartig den Panikschweiß auf die Stirn und erzeugte Krämpfe in der Magengegend.

Schon längere Zeit hatte ich hart gegen »Schwuli-Schwuli«-Rufe gearbeitet und versuchte mit allen Mitteln, nicht das Image des ängstlichen, verweichlichten und sonderbaren Typen zu bedienen, aber es gibt einfach Dinge, die das Schicksal für dich entscheidet. Aus dem Sack rutschte ein kleines, schlankes Einmannzelt, das seine Übersichtlichkeit wohl mit seiner schrill pinken Farbe auszugleichen versuchte. Doch es gab keinen Ausweg. Eine Woche lang schlief ich nun in dem Barbiemobil unter den Zelten, und das auch noch auf dem Boden, denn meine Luftmatratze passte noch nicht mal ansatzweise in das Zelt. Und die »Schwuli-Schwuli«-Rufe erlebten einen neuen Aufschwung.

 

Unter solchen Umständen war es natürlich fast unmöglich, irgendwann mal zum »Coolkid« zu werden. Es gab zwar hin und wieder kleine Möglichkeiten und Chancen des Aufstiegs, aber Coolkid zu sein ist ähnlich wie royale Thronfolge: Es wird einem in die Wiege gelegt.

Meine Sitznachbarin Inka und ich litten damals beide unter dieser Vorbestimmtheit, wollten aber dennoch nichts unversucht lassen, um vielleicht doch irgendwann einmal König und Königin des Schulhofes zu werden. Um diesem Ziel etwas näher zu kommen, besorgten wir uns eine Flatrate fürs Sonnenstudio. Warum auch immer. Vielleicht weil wir dachten, dass eine gute Bräune schon mal ein erster Schritt in Richtung Coolness wäre. Doch während ich in regelmäßigen Abständen mit grellroter Haut von der Sonnenbank fiel, bekam es Inka mit der Angst zu tun. Sie hatte wohl eine ziemlich krasse Pigmentstörung und rannte nach drei Besonnungen besorgt zum Hautarzt. Dieser konnte zwar die Pigmentstörung nicht bestätigen, war aber auch irritiert darüber, dass Inka auf ihrer Rückseite gut gebräunt war, vorne aber nicht; sprich, von hinten sah sie aus wie drei Wochen Malibu, Gesicht und Bauch ließen aber auf eine isländische Staatsbürgerschaft deuten.

Inka und ich gaben dem Solarium noch ein paar Chancen, doch weder mein Sonnenbrand noch ihre Vorderblässe wandelten sich in Sonnenbräune. Bis Inka plötzlich strahlend und gleichzeitig etwas beschämt aus ihrer Kabine stürzte. Ich sah eine leichte Rötung ihres Gesichts, war mir aber nicht sicher, ob das von der Besonnung kam oder einfach nur Scham war. Denn Inka hatte jetzt gerade erst die korrekte Handhabung eines Solariums verstanden: Die Klappe der Sonnenbank muss während der Benutzung geschlossen werden.

 

Es gab dann aber doch einige kurze Momente, in denen mir das Schicksal meine 15-Minuten-Schulhof-Fame schenkte, ohne dass ich dafür etwas tun musste. Allerdings war es lediglich der Kontakt zur Verkäuferin des Milch-und-Brötchen-Standes, der mich kurzfristig populär machte. Die Verkäuferin war meine Mutter. Sie war eine sogenannte Milchmama, die gelegentlich ehrenamtlich aushalf und mir Vorteile verschaffte, die man sich heutzutage vom Türsteher eines angesagten Clubs erhofft: nicht Schlange stehen und nichts zahlen müssen. An manchen Tagen hielt sie sogar für mich und meine plötzlich vielen Freunde die begehrten Schinken-Käse-Stangen zurück, wenn wir mal etwas zu spät aus dem Unterricht kamen.

Aber diese Popularität war genauso unverdient wie die, die ich für die Beleidigung einer Mitschülerin bekam. Vor der versammelten siebten Klasse machte ich einen Spruch über die damals...

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