Ist Feminismus von gestern?
»Die Vision des Feminismus ist nicht eine ›weibliche Zukunft‹. Es ist eine menschliche Zukunft. Ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und Gewaltverhältnisse, ohne Männerbündelei und Weiblichkeitswahn.«
Johanna Dohnal,
österreichische Feministin und Politikerin
Ist Feminismus also von gestern? Nein! Denn alles, was Johanna Dohnal in diesen drei Sätzen ausspricht, gibt es noch – auch in Deutschland. Doch weshalb bezeichnen sich Frauen meiner Generation dann nicht mehr als Feministinnen? Lohnt es sich nicht mehr, für Gleichberechtigung, Menschenwürde und Selbstbestimmung von Frauen sowie für das Ende aller Formen von Sexismus aufzubegehren? Sind die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen bereits so verändert, dass es keine Nachrangigkeit mehr von Frauen gibt? Oder können wir Frauen um die 30 uns so wenig mit dieser Bewegung, durch die auch für uns so viel erreicht wurde, identifizieren, weil wir sie in Deutschland beinahe nur noch mit einer Frau verbinden: Alice Schwarzer? Einer Frau, die mittlerweile über 70 Jahre alt ist, also älter als unsere Mütter, und die das Thema dominiert. Auf eine Weise, die sich offenbar in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat. In einer Gesellschaft, die sich stetig verändert und in der die Gleichberechtigung der Frauen in viel höherem Maße erreicht wurde (auch und vor allem durch die Frauenbewegung um Alice Schwarzer). Hier und da werden sicherlich Frauen immer noch benachteiligt, doch es genügen die einfachen Antworten aus den Siebzigerjahren nicht mehr, die zugespitzt lauten: »Männer sind Täter. Frauen sind Opfer.«
Wir Frauen der Jahrgänge um 1980 sehen uns nicht als Opfer, wenn wir beruflich nicht schnell genug vorankommen, und wir betrachten nicht jeden Mann als potenziellen Täter. Männer sind Menschen, genauso wie Frauen. Und unter allen Menschen gibt es welche, die zu Tätern und zu Opfern werden.
Wenn sich jemand 2014 an Themen wie einer Verschwörung des Patriarchats, die Frau als durchweg sexuelles Opfer des Mannes, Ablehnung der Prostitution und die Schädlichkeit von Pornos abarbeitet, kommt uns das antiquiert und fremd vor, denn das sind nicht unsere Themen. Wir Frauen um die 30 scheinen in dieser Feminismus-Debatte nicht vorzukommen. Es geht uns nicht mehr nur um Täter oder Opfer, Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß. Es geht um die Grautöne. Wir fühlen uns als Frauen frei, doch haben wir wirklich alle Chancen? Und sind wir in der Lage, sie zu erkennen und zu nutzen? Sind wir selbst in der Lage dazu? Es geht nicht mehr um uns Frauen als unterdrücktes Geschlecht, doch es geht nach wie vor um Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. »Es geht nicht mehr um den Kampf um die Befreiung der Frau. Aber es geht um den Kampf der Frauen um Einfluss, Geltung und Geld«, sagt die Journalistin Tissy Bruns. Einfluss, Geltung und Geld, die bis vor Jahren vor allem Männern vorbehalten waren. Und ja, vielleicht können wir Frauen um die 30 so wenig mit einer Bewegung wie der des Feminismus aus den Siebzigerjahren anfangen, weil es uns schwerfällt, uns Gruppen anzuschließen, deren Ziele so schwer zu definieren und auf so wenige einfache Formeln herunterzubrechen sind. Oder weil wir heute jede für uns einzeln kämpfen wollen, gegen die Widerstände, die man uns entgegenbringt? Und oft genug, weil wir gegen uns selbst kämpfen, bis wir auf gutem Weg zur Teilhabe an Einfluss, Geltung und Geld sind.
Mit dem Begriff Feminismus verbinden viele heute etwas Negatives. Vor allem die, die sich niemals ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt haben und darunter vor allem männerfeindliche Frauen verstehen. Man muss den Skeptikern allerdings zugestehen, dass die reine Definition im Duden einfach nicht mehr zeitgemäß wirkt: »Richtung der Frauenbewegung, die, von den Bedürfnissen der Frau ausgehend, eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Normen (z. B. der traditionellen Rollenverteilung) und der patriarchalischen Kultur anstrebt«. Verstehen Sie mich nicht falsch: Meine Generation der Frauen hat all denen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert für die Rechte der Frauen einsetzten, wirklich unglaublich viel zu verdanken. Nur durch sie können wir heute sein, was wir sind, all das tun, was wir tun, und all das verwirklichen, was wir noch vorhaben. Es wäre trotzdem dringend notwendig einen ganz neuen Begriff mit einem moderneren Verständnis zu implementieren.
Der Feminismus in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Facetten trat eigentlich immer für ein Gesellschaftsverhältnis ein, das durch Ebenbürtigkeit geprägt ist.
Olympe de Gouges forderte im 18. Jahrhundert: »Wenn die Frau das Recht hat, das Schafott zu besteigen, muss sie auch das Recht haben, die (Redner-)Tribüne zu besteigen.«
Die deutsche Sozialistin Clara Zetkin forderte 1910 für Frauen: »Keine Sonderrechte, sondern Menschenrechte«.
Damals hatten nur in Finnland Frauen das Wahlrecht. In Deutschland durften Frauen erst ab 1919 flächendeckend wählen.
Frauenwahlrecht und politische Teilhabe wurden zentrale Themen – feministische Themen. Kaum zu glauben, dass erst 1976 in Deutschland die ersten Frauenhäuser gegründet wurden, weil man nicht mehr länger unter den Teppich kehren konnte, dass es Frauen gab, die von ihren Männern so schlecht behandelt wurden, dass sie unter Schutz gestellt werden mussten. Erst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland strafbar! Dass Frauen keine Genehmigung vom Ehemann mehr benötigten, wenn sie einen Beruf ausüben wollten, ist ebenfalls noch nicht lange her (1977).
Ohne Ehe und Mutterschaft auszuschließen, sah beispielsweise die US-Amerikanerin Betty Friedan die Ursache für große Zufriedenheit und Unzufriedenheit vieler Frauen der Mittelschicht darin, dass sie zu wenig ihren eigenen Bedürfnissen zum Beispiel in Sachen Berufstätigkeit nachgehen durften: »Wie für einen Mann führt auch für eine Frau der einzige Weg zu sich selbst über schöpferische Arbeit.«
Wir, die um 1980 Geborenen, leben zugegebenermaßen mit vielen der großen Errungenschaften der mutigen Frauen des Feminismus, als seien sie etwas Normales. Wir wurden in diese neue Zeit für Frauen hineingeboren und schätzen sehr, was wir vorgefunden haben. Wir benutzen den Feminismus-Begriff allerdings kaum noch, weil er schlicht nicht mehr zu uns passt. Wir glauben, dass wir fast alles erreichen können, wenn wir nur wollen, weil uns, zumindest gesetzlich, nichts mehr im Wege steht, nur weil wir Frauen sind. Thea Dorn schrieb in ihrem Buch »Die neue F-Klasse«, dass die heutigen Frauen in der Lage seien, »sich mit Energie, Disziplin, Selbstbewusstsein und Mut in einer Gesellschaft wie unserer durchzusetzen«. Davon sind die meisten Frauen meiner Generation überzeugt. Ich auch!
Eine Freundin geriet darüber mit einer älteren Kollegin in eine Diskussion. Die ältere Kollegin hielt dagegen, dass es heute vielleicht nicht mehr um Gewalt gegen Frauen gehe, und wenn doch, dass die wenigstens geahndet werde. Doch es herrsche heute zwischen vielen Männern und Frauen immer noch ein subtiles Machtgefüge. Meine Freundin solle einen einfachen Test durchführen und auf der Straße mal direkt auf einen Mann zugehen, um festzustellen, ob sie oder der Mann letztendlich ausweiche. Oder sie solle sich im Flugzeug zwischen zwei Männer setzen und erleben, wer die Armlehnen in Anspruch nehme. Meine Freundin lachte die Kollegin aus. Und machte die Tests. Sie verlor jedes Mal. Sie saß eingeklemmt zwischen zwei Männern, die demonstrativ die Arme auf den Lehnen ablegten. Die einzige Ausnahme war ein besonders höflicher Sitznachbar oder einer, der mit ihr flirten wollte. Auf der Straße wurde sie angerempelt, als sie nicht auswich. Glauben wir vielleicht nur, in fast allen Lebensbereichen gleiche Chancen wie Männer zu haben? Gleich behandelt werden wir leider oft immer noch nicht.
Doch wir wollen nicht verzweifeln an Männern, die immer noch in Rollenklischees denken und nach ihnen handeln. An Männern, die Frauen von vornherein schlechtere Gehälter oder Löhne zugestehen als Männern. Eine Bekannte mit zwei Kindern erlebte kürzlich, also im Jahr 2013 (!), Folgendes am Ende einer recht schwierigen Verhandlung über die Höhe ihres Gehaltes für eine gehobene Position. Als sich beide Parteien geeinigt hatten, sagte der Personalleiter zu meiner Bekannten: »Kein schlechtes Gehalt für eine Frau und Mutter.«
Wir wollen uns auch nicht mehr über unsere männlichen Lebenspartner ärgern, die nicht ertragen können, wenn wir mehr verdienen als sie. Und wir wollen mit keinem zusammen sein, der von vornherein voraussetzt, dass wir Frauen es sind, die ihren geliebten Beruf aufgeben, wenn wir und unser Mann gemeinsame Kinder bekommen. Wir wollen das alles gemeinsam gut hinbekommen. Ohne Schuldgefühle, eine »Rabenmutter«, eine »schlechte Ehefrau« oder was auch immer zu sein, wenn wir auf das Betreuungsgeld anstatt auf unsere Arbeit verzichten.
Wir können versuchen, uns viele unserer Wünsche im Leben zu erfüllen: Ehe, Familie, Beruf, sogar Karriere. Doch dafür brauchen wir ihn weiterhin: den Feminismus. Denn obwohl Frauen angeblich fast alle Türen offen stehen, hat sich repräsentativen Umfragen zufolge die subjektive Zufriedenheit von Frauen im Vergleich zu Männern vermindert. Woran liegt das? Sind die Erwartungen der Frauen an das Glück, das einsetzen soll, wenn so vieles möglich ist, vielleicht zu hoch? Setzt das große Gefühl der Befriedigung dann nicht so wie erhofft ein? Fühlen wir uns unter Druck gesetzt? Oder verlangen Frauen sich durch die vielen Möglichkeiten eventuell zu viel ab, wenn sie Kinder und Karriere vereinbaren wollen? Unterschätzen wir 30-Jährige die Belastungen,...