1Einleitung
Noch bis 1990 befanden sich Ansätze zur therapeutischen Arbeit mit sexuell devianten Jugendlichen eher in den Kinderschuhen. Es existierten einige einzeltherapeutische Vorgehensweisen, die jedoch noch nicht spezialisiert und auf Gruppen, sondern auf den Einzelfall bezogen waren. Solche auf den Einzelfall bezogenen Ansätze gab es z. B. in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Viersen (Alves 1990).
In den Niederlanden entwickelte sich etwa zeitgleich ein eher verhaltenstherapeutisch-kognitiv orientiertes Konzept (Bullens 1993), das sich an Erwachsene als Zielgruppe wandte, erstmalig aber den speziellen gesellschaftlichen Kontext dieser Arbeit berücksichtigte; so wurde dem erhöhten gesellschaftlichen Interesse an erneuten sexuellen Übergriffen der Klienten Rechnung getragen, das oft instabile Arbeitsbündnis berücksichtigt und als Konsequenz daraus die Vor- und Nachteile eines noch zu etablierenden oder bereits existierenden juristischen Kontextes der therapeutischen Arbeit diskutiert.
Etwa zeitgleich wurde die im Vorwort erwähnte therapeutische Arbeit mit sexuell devianten Jungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen (heute LVR-Klinik Viersen) im Rahmen von personellen und institutionellen Umstrukturierungen systematisch zu dem jetzt als »Viersener Modell« bekannten Vorgehen (Gruber 1995; Rotthaus u. Gruber 2005) weiterentwickelt.
Im stationären klinischen Bereich etablierte sich im weiteren Verlauf dann auch im Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm ein ähnliches Vorgehen, das leider inzwischen eingestellt wurde. Zudem begannen zahlreiche Jugendhilfeeinrichtungen, auf der Suche nach Spezialisierungsmöglichkeiten Konzepte zur Betreuung sexuell devianter Jungen zu entwickeln. Diese Konzepte waren und sind deutlich durch modulare Stufen und durch einen eher pädagogischen Fokus gekennzeichnet.
Ebenfalls wurden z. B. in Nordrhein-Westfalen auf Initiative des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter Beratungsstellen initiiert, die in Ergänzung zu bereits bestehenden ambulanten Angeboten in Bochum, Münster und Gelsenkirchen eine bessere ambulante Versorgung dieser Zielgruppe ermöglichen sollten (Gruber 2004).
Sexuell deviante Jungen geraten in der Regel nur dann in den Fokus der Öffentlichkeit, wenn sie durch (spektakuläre) Übergriffe das Interesse auf sich ziehen. Dieses dann entstehende öffentliche Interesse mag aber auch der Grund sein, warum z. B. im klinischen Bereich eine weitere Spezialisierung z. B. für die Arbeit mit sexuell devianten Kindern nach wie vor nicht existiert: Die Gefahr, bei erfolgloser therapeutischer Arbeit selbst zum Adressaten aufgeregten öffentlichen Interesses und u. U. juristischer Ermittlungen zu werden, schreckt vermutlich viele Kliniken ab.
Zur Bedeutung des Problems
Sexuell deviante Jungen leiden in der Regel nicht in eindeutiger Weise unter den von ihnen begangenen sexuellen Übergriffen. Häufig befinden sie sich vor einer Aufdeckung der oft sehr zahlreichen Übergriffe vielmehr in einem Konflikt, der einerseits durch die Attraktivität der übergriffigen Handlungen und andererseits das »schlechte Gewissen«, d. h. die negativen emotionalen Anteile dieser Handlungen, gekennzeichnet ist. Oft wird die Aufdeckung dann als Erleichterung erlebt, weil dadurch dieser Konflikt ohne eigenes Zutun aufgelöst wird. Das Leiden am Konflikt ist damit meist – wenn es zu angemessener Reaktion des Lebensumfeldes kommt und so weitere Übergriffe vermieden werden – beendet.
Einschränkungen für die Lebensperspektive der betroffenen Jungen ergeben sich meist längerfristig: Werden die sexuellen Übergriffe erst später aufgedeckt, besteht die Möglichkeit weiterer Straftaten im Erwachsenenalter mit einer ungleich schwerer wiegenden Verfolgung nach dem Erwachsenenstrafrecht. Werden die Jugendlichen angezeigt (über die Sinnhaftigkeit einer Anzeige soll später diskutiert werden), besteht die Möglichkeit, dass sie durch Einträge ins Führungszeugnis in der beruflichen Laufbahn eingeschränkt sind. Ohne Anzeige schwebt allerdings aufgrund der sehr langen Verjährungsfristen von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (sie verjähren z. B. aktuell erst zehn Jahre nach dem 18. Geburtstag der Opfer) oft für Jahrzehnte das Damoklesschwert einer später einsetzenden Strafverfolgung über den Tätern.
Betrachtet man die motivationalen Hintergründe der sexuellen Übergriffe, werden weitere, ebenfalls sehr drastische Einschränkungen in der Entwicklung einer zufriedenstellenden Lebensperspektive der Jugendlichen deutlich: So ist etwa ein primär pädosexuell orientierter Junge ohne entsprechende therapeutische Unterstützung vermutlich lebenslänglich nicht nur mit dem Problem konfrontiert, eine für ihn befriedigende Sexualität nur leben zu können, indem er Kinder schädigt (durch Handlungen an Kindern oder auch den Konsum kinderpornografischen Materials im Internet); ihm droht darüber hinaus die Gefahr, inhaftiert oder forensisch untergebracht zu werden. Der Erwerb der Fähigkeit zum Verzicht auf pädosexuelle Handlungen hingegen bedarf in der Regel intensiver therapeutischer Arbeit, damit die Betroffenen Kontrollstrategien erwerben und alternative Vorgehensweisen erlernen, d. h., legale sexuell befriedigende Handlungen wählen können.
Auch Jugendliche, die sexuelle Übergriffe aus einer starken nichtsexuellen Motivation heraus begehen, um z. B. eigene Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wertlosigkeit zu kompensieren, werden ohne therapeutische Unterstützung nicht in der Lage sein, zukünftige Beziehungen ohne Unterwerfung oder Abwertung anderer Menschen zu gestalten.
Frühzeitig einsetzende therapeutische Arbeit hat präventiven Charakter: Sie kann einen Beitrag dazu leisten, zukünftige sexuelle Übergriffe zu vermeiden. Allerdings kann diese richtige und gesellschaftlich wichtige Beschreibung der Ausgangslage nicht allein die konkrete therapeutische Arbeit mit sexuell devianten Jungen begründen. Es ist vielmehr notwendig, mit den Jugendlichen und ihren Bezugssystemen gemeinsam im Einzelfall über den Auslöser »Aufdeckung sexueller Übergriffe« und das Anliegen »Der Jugendliche soll nie wieder sexuelle Übergriffe begehen« hinaus Arbeitsaufträge zu erarbeiten, die die Ziele und Interessen der Jugendlichen verfolgen.
Auf die dabei immer bestehenden und entstehenden komplizierten Auftragskonstellationen (Aufträge seitens der Gesellschaft, der Justiz, der Eltern und nicht zuletzt der Jugendlichen selbst) soll später ausführlich eingegangen werden.
Ein weiterer Aspekt, der die Bedeutung der Arbeit mit Jugendlichen nach der Begehung sexueller Übergriffe aufzeigt und ebenfalls auf ihren präventiven Charakter verweist, besteht in der möglichen Weitergabe eigener sexuell übergriffiger Erfahrungen an andere Menschen. Die Frage, wie viele Jugendliche, die sexuelle Übergriffe begangen haben, selbst Opfer von sexuellen Übergriffen waren, wird intensiv diskutiert. Die Zahlen hierzu schwanken erheblich. Elsner und König (2010) haben in ihrer Metastudie Studien mit insgesamt 271 sexuell übergriffigen Kindern ausgewertet. Die Werte für sexuelle Missbrauchserfahrungen schwanken dabei von 59 % bis 96,5 % und für Gewalterfahrungen von 19 % bis 60,8 %.
Kendall-Tackett, Williams u. Finkelhor (2005, S. 182) beschreiben, dass zwei symptomatische Kernbereiche als Folgen sexueller Übergriffe gesehen werden können: Der eine wird mit »Sexualisierung« bei Kindern und der andere mit dem Auftreten von »posttraumatischen Belastungssymptomen (PTBS)« umschrieben. Unter Sexualisierung verstehen die Autoren »sexualisiertes Spiel mit Puppen, Einführen von Gegenständen in den After und die Vagina, exzessives und öffentliches Masturbieren, verführerisches Verhalten, Ersuchen um sexuelle Stimulation von Erwachsenen oder anderen Kindern und altersunangemessenes Wissen« (ebd.).
Die Folgen sexueller Übergriffe für die Opfer werden im Übrigen mit den Folgen körperlicher Misshandlungen in Verbindung gebracht. So werden Letzteren dieselben Auswirkungen zugeschrieben wie sexuellen Übergriffen. Eine hohe Übereinstimmung bezüglich des Vorkommens von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung im Kindesalter wird festgestellt und formuliert: Sexueller Missbrauch sollte nicht isoliert, sondern in unmittelbarem Zusammenhang mit körperlichen Misshandlungen gesehen werden (Richter-Appelt 2005). Das bedeutet, dass auch körperliche Misshandlung alleine ein möglicher Bedingungsfaktor für die Entstehung sexueller Devianz ist.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Bedeutung des Problems »sexuelle Übergriffe« auch darin besteht, dass in vielen Fällen (s. o.) Erfahrungen, die als Opfer in der Kindheit gemacht wurden, später als Täter weitergegeben werden. Erfahrungen von sexueller und körperlicher Misshandlung können Hintergrundfaktoren für Auffälligkeiten sein, die sich dann möglicherweise in...