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Siemens - Anatomie eines Unternehmens

Wolfgang Clement präsentiert Deutschlands beste Arbeitgeber

AutorDaniela Decurtins
VerlagRedline Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783864145100
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Siemens ist immer noch das Flaggschiff der deutschen Industrie. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen eine halbe Million Menschen in insgesamt 190 Ländern. Was aber macht das Phänomen Siemens aus? Die Wirtschaftsjournalistin Daniela Decurtins vom Schweizer Tages Anzeiger ist dieser Frage nachgegangen und hat versucht, darauf differenzierte Antworten zu geben. Positiv ist deshalb auch hervorzuheben, dass die Autorin nüchtern und unparteiisch bleibt. So würdigt sie beispielsweise mit kritischer Distanz die Ausgliederung des Halbleiter-Bereichs an Infineon -- mit allem Auf und Ab. Decurtins hat zweifellos Durchblick. Auch was die Entwicklung des Unternehmens unter dem derzeitigen Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer betrifft. Jener Pierer, der 1998 sein berühmtes Zehn-Punkte-Programm für mehr Produktivität und Wachstum vorlegte und so dem damaligen miesen Geschäft entgegenwirken wollte. 50 Konzern-Geschäftsfelder wurden überdies ausgegliedert. 1999/2000 wurde zum besten Geschäftsjahr der Firmengeschichte.

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Leseprobe

«Ein Weltunternehmen à la Fugger»



Karlheinz Kaske, der Innenminister


Am 12. März 1992 trat er in der Münchener Olympiahalle ein letztes Mal vor das Rednerpult, um zu den Aktionärinnen und Aktionären zu sprechen. Mit versteinerter Miene musterte er das Publikum und wirkte – wie immer – zurückhaltend. Kein Muskel zuckte im Gesicht. Das schlohweiße Haar streng nach hinten gekämmt, die Hände ruhend auf dem Pult.

Noch im Januar, an der Bilanzpressekonferenz, hatte der Siemens-Vorstandsvorsitzende passen und seinem Stellvertreter Heinrich von Pierer den Vortritt lassen müssen. Nach einem Sturz, bei dem er sich den Oberschenkelhals gebrochen hatte, ordneten die Ärzte strikte Bettruhe an. Erholt und genesen saß er nun im März wieder stramm auf der Kommandobrücke des elektrotechnischen Tausendfüßlers und hätte eigentlich allen Grund zur Freude gehabt: Die Redakteure des US-Wirtschaftsmagazins «Business Week» feierten Siemens als «Europas Technologiehoffnung». Aber ausgerechnet in Deutschland, dem nach wie vor wichtigsten Markt, blies ein schärferer Wind denn je.

Von draußen drangen Ruffetzen der Demonstranten in die Olympiahalle. «Siemens strahlt, schlampt und schmiert», prangte in klotzigen Buchstaben auf ihren Transparenten. Schwere Vorwürfe prasselten wie ein heftiges Gewitter auf dem Vorstand nieder. «Ein Unternehmen wie Siemens kann sich solche Dinge nicht leisten», erhob ein Aktionär den Mahnfinger. Das Image des Elektrokonzerns hatte durch eine Reihe von Negativschlagzeilen arge Schrammen erlitten. Der Grund: acht Siemens-Manager, die sich vor der Vierten Strafkammer des Münchner Landesgerichts I wegen unsauberer Geschäftspraktiken verantworten mussten.

Sie hatten 1986 und 1990 einen städtischen Angestellten bestochen, um sich Millionenaufträge für den Bau zweier Kläranlagen in München zu sichern. Kaske selbst wurde in den Zeugenstand zitiert, weil der Eindruck entstanden war, das Unternehmen hätte die unsauberen Methoden seiner Mitarbeiter zumindest geduldet. Der Druck wuchs täglich, die Aktionäre forderten eine Antwort. Natürlich, die Manager hätten interne und externe Regeln verletzt, aber Strafen – teils auf Bewährung – von bis zu 40 Monaten seien dann doch «besonders hart», sprach er ins Mikrofon. Schließlich handelte es sich um verdiente Leute, für die es eine Art Fürsorgepflicht gab.

Beinahe gleichzeitig flogen Schlampereien in einem Siemens-Betrieb für atomare Brennstäbe in Karlstein bei Aschaffenburg auf. Versehentlich und unbewacht waren 50 radioaktive Brennelemente für Kernkraftwerke durch Deutschland transportiert worden. Adolf Hüttl, Leiter des Unternehmensbereichs Energieerzeugung, wiegelte ab und sprach von einer «alltäglichen Unachtsamkeit», die menschlich sei. Nachdem die Umweltminister in Bonn und München interveniert hatten, sah sich Kaske schließlich doch noch veranlasst, die Verantwortlichen zu suspendieren.

Auch die Zahlen gaben keinen Anlass für ein rauschendes Fest. Kaske hatte zwar nach dem Fall der Mauer 1989 mit viel Energie und Milliardeninvestitionen das Geschäft in der ehemaligen DDR angekurbelt, und es warf auch bald erste Früchte ab. Nur flachte im Ausland die Auftragslage ab. Schließlich hielten auch die Inländer immer mehr mit Bestellungen zurück, klagte Kaske im März 1992 bei seiner Abschiedsvorstellung. Siemens müsse dringend in einigen Bereichen seine Position überprüfen und komme an «Beschäftigungsanpassungen» nicht vorbei. «Aber wir haben gelernt, mit solchen Problemen fertig zu werden und auch in schwierigen Zeiten Kurs zu halten. Mir ist um die Zukunft des Unternehmens nicht bange», bekräftigte er mit fester Stimme.

Ein trauriger Abgang für einen einsamen Mann, in dessen Gesicht das Schicksal tiefe Furchen gezogen hat. Von seinen drei Söhnen waren zwei bei einem Autounfall umgekommen. Der hoch begabte Diplomphysiker sagte jeweils all seine Termine ab und reiste an die Unglücksorte zur persönlichen Trauerbewältigung. Er wollte mit eigenen Augen sehen, versuchen zu begreifen, was geschehen war – und wurde noch wortkarger und verschlossener als er ohnehin schon war, berichten Mitarbeiter aus seinem Umfeld.

Er selbst sprang dem Tod nur mit knapper Not und der Hilfe eines Dienst habenden Arztes von der Schippe. Kurz vor Weihnachten 1989 war er in seiner Villa am Starnberger See bewusstlos zusammengebrochen. Diagnose: geplatzte Bauchschlagader. Eine Notoperation konnte verhindern, dass er verblutete. Für Kaske gehörte das Risiko im Leben längst zur Tagesordnung. In den Augen der RAF-Terroristen war er ein «Nutznießer des Ausbeuter-Kapitalismus» und stand als deutsche Top-Führungskraft der Wirtschaft auf der berüchtigten RAF-Mordliste. Der Siemens-Chef genoss Personenschutz rund um die Uhr und machte in der Öffentlichkeit keine Bewegung, ohne nicht von schwer bewaffneten Leibwächtern flankiert zu werden.

Karlheinz Kaske war ein Siemens-Mann von Geburt. Schon der Vater arbeitete als Ingenieur beim Unternehmen, und der 1928 in Essen geborene Karlheinz schien schon früh keinen andern Wunsch gehabt zu haben, als möglichst rasch in Vaters Fußstapfen zu treten. Als ein Schüler mit brillanten Noten verließ er bereits nach drei Jahren die Volksschule, machte mit 16 Abitur in Danzig und war als 21-Jähriger bereits diplomierter Physiker.

Nach verschiedenen Stationen bei Siemens – mit einer kleinen Unterbrechung in den fünfziger Jahren – wurde Kaske, in der Öffentlichkeit bis dato ein unbeschriebenes Blatt, 1981 zum Vorstandsvorsitzenden berufen. Er löste Bernhard Plettner ab, der als erster Familienfremder an die Spitze des Aufsichtsrates rückte. Das grelle Rampenlicht und die glitzernde Welt der Publizität waren nicht seine Bühne. Kaske tauchte in keiner Klatschspalte auf. Während andere Firmenchefs sich mit ihren Golf-Handicaps abmühten, liebte er ausgedehnte Streifzüge durch Wald und Feld.

Kaske schien sich nur unter Elektrotechnikern richtig wohl zu fühlen. Der stattliche Mann wirkte bei seinen Auftritten seltsam farblos. Seine hölzernen Bewegungen konnten schlecht seinen linkischen Umgang vertuschen. Seine Berater hatten ihn überzeugt, in der Öffentlichkeit statt Zigaretten Pfeife zu rauchen, weil ihm dies einen staatsmännischen Touch verleihe und Denkpausen so als habituskonform verziehen würden. Die «Bonner-Besuche», wie er die Gespräche mit Politikern und Vertretern der staatlichen Organisationen nannte, waren für ihn zwar notwendig, aber ein Gräuel. «Das Beste ist jetzt, dass diese Bonner-Besuche wegfallen», vertraute Kaske den Zentralvorständen bei seinem Abschied an. Ihm war nur eins bedeutend: die Wirkung im eigenen Haus. Viel wichtiger war es, von den Mitarbeitern ernst genommen als auf der Straße erkannt zu werden. Nicht umsonst galt er als der «Gorbatschow des Unternehmens». Er schaffte es mit seiner moderaten Art, dass Entscheidungen auch ohne böses Blut durchgesetzt wurden.

Geld verdiente Siemens unter seiner Führung in Fülle, allerdings nicht mit dem Kerngeschäft, sondern vor allem mit ausgeklügelten Finanzanlagen. Börsianer frotzelten, Siemens sei eine Bank, die nebenher auch noch eine Elektroabteilung unterhalte. Das Nachrichtenmagazin «Stern» erklärte den gewaltigen Produktionsapparat mit mehr als 300.000 Mitarbeitern, 165 Tochtergesellschaften weltweit und einem Jahresumsatz von mehr als 40 Milliarden Mark zur «Liebhaberei».

Kaske bediente sich dieser Kasse, um die «Kompanien», wie er die Geschäftsbereiche nannte, den «Erfordernissen der Zeit» entsprechend neu auszurichten. Seine Analyse: Zunehmend steigende Entwicklungskosten und kürzere Produktlebenszyklen sind nur zu bewältigen, wenn gleichzeitig die Produkte in Massen abgesetzt werden könnten. Diese Grundvoraussetzung war seiner Meinung nach in vielen Bereichen nicht gegeben, bei den öffentlichen Vermittlungssystemen etwa oder den Halbleitern. Die Manager schwärmten mit dem Auftrag aus, die verschiedenen Bereiche hartnäckig nach geeigneten Partnern oder Kaufobjekten abzuklopfen. Seinen Managern hatte er eingebläut, die Begriffe «Verhandlungen» und «Abkommen» aus ihrem Vokabular zu streichen und in der Öffentlichkeit allenfalls von «Gesprächen» zu sprechen.

Aus dem Elektrokonzern war in den achtziger Jahren ein für deutsche Verhältnisse aggressives Unternehmen geworden. «Im Grunde kaufen wir Zeit und...

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