Bei der Durchsicht des Fernsehprogramms, speziell dem der privaten Sender, fällt eine Masse von Sendungen mit der Bezeichnung „Doku“ auf. Es scheint über alles und jeden einen Dokumentarfilm zu geben. Diesen Trend kommentierte auch der Regisseur Thomas Schadt im Jahr 2002 und stellte fest, dass „[...] die Fernsehsender im Rennen um die attraktiven Formate nicht müde werden, neue Doku-Genres wie Zuchtpilze aus dem Boden schießen zu lassen.“[49] Im Zuge des Trends von der Information hin zur Unterhaltung und dem daraus erfolgten Infotainment entstanden neue Hybridgenres des Dokumentarfilms und weiterer
Genres. Zu ihnen kann auch das Genre Doku-Soap gezählt werden. Es vereint formal den Dokumentarfilm, der Geschehnisse möglichst objektiv beobachtet, mit der Soap-Opera, die eher fiktionale und unterhaltende Elemente vereint.[50] Es wird hier versucht „[...] den Anspruch des Dokumentarfilms mit der Machart der Fernsehserie zu verbinden, das Leben in Szene zu setzen, ohne es zu inszenieren.“[51]
Doku-Soaps beschäftigen sich inhaltlich hauptsächlich mit einer Alltagswelt ganz normaler Leute. Krüger stellt 2010 heraus, dass hier 69 Prozent der Sendungen thematisch von Alltags- und Beziehungsproblemen handeln. Der Rest der Sendungen teilt sich zwischen sozialen und Kriminalthemen auf, die aber auch jeweils im Alltagsleben stattfinden.[52] Es handelt sich also thematisch um all jene privaten Belange, mit denen sich ein Großteil der Zuschauer identifizieren kann. Witzke und Rothaus unterscheiden drei verschiedene Arten von Doku-Soaps. Die typenorientierte Doku-Soap begleitet in serieller Form immer dieselben Personen oder Familien in ihrem tagtäglichen Alltag („The Osbournes“). In der themenorientierten Doku-Soap wird in jeder Folge das gleiche Thema aufgenommen, jedoch andere Personen begleitet. So wird es beispielsweise in der Doku-Soap „Goodbye Deutschland! Die Auswanderer“ (VOX seit 2006) gehandhabt. Des Weiteren gibt es auch ortsbezogene Doku-Soaps, in denen immer nur eine bestimmte Örtlichkeit und jeweils verschiedene Protagonisten gezeigt werden. Bei dieser Einteilung in Typen handelt es sich um Idealtypen, die sich auch überschneiden können.[53] Der Rezipient soll in der Doku-Soap einen Einblick in ein ganz normales und authentisch dargestelltes Privatleben bekommen. Die gecasteten Protagonisten, die aus freien Stücken ihr Leben darstellen wollen, befinden sich hier weder in einer Spielshow, noch in einem künstlichen Setting wie bei den Reality Shows, sondern in ihrer normalen Umgebung, ihrem puren Alltag, der von einer Kamera begleitet wird. Um mehr Authentizität zu erlangen, wird dabei sowohl das Bild als auch der Ton teilweise in nur knapp ausreichender Qualität aufgenommen.[54]
Wie auch in anderen Reality-TV-Genres wird der hier abgebildete Alltag jedoch meistens zusätzlich inszeniert. So ist es laut Lücke und Klaus nicht unüblich, dass die Protagonisten Szenen wiederholen sollen oder etwas geändert und „ganz natürlich“ nachspielen sollen. Außerdem wird das Filmmaterial in der Regel so geschnitten, dass es im Gesamtzusammenhang zwar noch authentisch, in seiner Darstellung aber dramatischer und spannender wirkt.[55] Nicht selten wird dabei inhaltlich emotionalen und intimen Grenzsituationen ein Platz gegeben und der Alltag skandalös dargestellt.
In den letzten Jahren widmeten sich die Doku-Soaps oft eher skurrilen Alltagssituationen. Schwerpunktmäßig zeigen diese klischeehaft inszenierte Personen der sogenannten „Unterschicht“. Hier wird nicht mehr nur der Alltag nicht-prominenter Menschen dokumentiert, sondern sie werden mit Hilfe von Stilmitteln wie Stereotypisierungen und Dramatisierungen auch vorgeführt.[56] So kommt es durchaus vor, dass die Bewerber, die sich freiwillig für die Mitwirkung in einer Doku-Soap bewerben von den Castingagenturen als „nicht asozial genug“ eingestuft werden.[57] Während die Doku-Soap in ihren Anfangszeiten auch bei den öffentlich-rechtlichen Programmen als „dokumentarische Serie“ Realität dokumentierte, die nur leicht dramaturgisch bearbeitet wurde, war die kommerzielle und veränderte Variante der Privatsender erfolgreicher.[58]
Erste Sendungen, in denen Menschen in ihrem Alltag mit Kameras begleitet wurden gab es unter Anderem schon 1972 in den USA, als ein Familienleben und Alltag über sieben Monate mit Kameras dokumentiert wurde. Von dem Jahr 1990 bis 2001 gab es dergleichen auch in Deutschland. In der Sendung „Die Fußbroichs - Die einzig wahre Familienserie“, die im WDR ausgestrahlt wurde, wurde ein Familienleben in 99 Folgen dokumentiert. Lücke und Klaus bezeichnen diese Sendung als erste Doku-Soap in Deutschland, wenngleich zunächst erst einmal keine ähnlichen Formate nachzogen und das Genre weiterhin recht unbekannt blieb.[59] Das eigentliche Ursprungsland der Doku-Soap ist allerdings nicht die USA, sondern Großbritannien. Hier gab es durch die von Beginn an bestehende Förderung von Dokumentationen seitens der BBC eine ausgesprochen ausgeprägte Dokumentationsgeschichte und -kultur. Vorläufer der Doku-Soap gab es hier mit den sogenannten „fly-on-the-wall-documentarys“ schon in den 1960er Jahren.[60]
Mitte der 1990er Jahre wurde die Doku-Soap dann in Großbritannien extrem populär. Hier wurden zahlreiche erfolgreiche Formate produziert. Besonders erfolgreich waren hier die Doku-Soaps „Children's Hospital“, die von einem Krankenhausalltag handelten, und „Driving School“, bei der Menschen bei ihren Fahrstunden gezeigt wurden. Letztere Sendung erreichte 1997 einen Marktanteil von 53 Prozent. Mit 75 ausgestrahlten Doku-Soaps im Jahr 1998 hatte Großbritannien hinsichtlich der hier behandelten Thematik eine Vorreiterrolle übernommen. Viele Formate wurden in andere Länder übernommen. So etablierte sich das neue Genre auch in Deutschland. Neben 46 weiteren Doku-Soaps, die bis zum Jahr 2000 ausgestrahlt wurden, wurden auch hierzulande nach dem Vorbild des Formates „Driving School“ 1999 die Doku-Soap „Die Fahrschule" bei Sat.1 und im Jahr 2000 die Sendung „You drive me crazy“ bei RTL II produziert.[61] Wie schon erwähnt, entstanden bis zum Jahr 2009 nochmals 175 weitere Formate mit verschiedenen Inhalten in Deutschland.
Die Doku-Soap ist heute oftmals, ähnlich wie das Reality-TV an sich, nicht mehr klar definiert. Aufgrund der sich überschneidenden Genreeigenschaften kann eine scharfe Abgrenzung nur schwer vorgenommen werden. Studiert man die Programmzeitschriften und deren Onlineversionen, so scheint es gar als würde der Begriff Doku-Soap mittlerweile als Überbegriff für allerlei andere genannte Subgenres des Reality-TV genutzt, in denen Menschen in ihrem Alltag gezeigt werden. So werden Genres, die nach Lünenborg eigenständig zu nennen waren, wie Coaching-Shows, Scripted-Reality-Formate oder Swap-Dokus hier als Doku- Soaps bezeichnet. Außerdem werden dort auch neue Unterkategorien der Doku- Soap geschaffen, wie die Reality-Doku ( z.B. „Verklag mich doch“, VOX) die Tierarztsoap (z.B. „Menschen, Tiere und Doktoren“, VOX) oder die Kochdokusoap, wie „Das perfekte Dinner“ (VOX).[62] Oftmals werden gleiche Sendungen auch mit unterschiedlichen Bezeichnungen betitelt, was eine Einordnung noch schwerer macht.
Klaus sieht die Doku-Soap 2006 als ein Hauptgenre, das verschiedene Subgenres vereint. Sie zählt die Living-History-Formate, die Make-over-Shows und die Coaching-Shows, die sie hier Lebenshilfe-Soaps nennt und zu denen sie auch Kochshows zählt, zu diesen Subgenres.[63] Die Doku-Soap hat sich von der erst nur narrativen Form, in der Alltag abgebildet und dokumentiert wurde verändert. Nach Wolf sind hier Hybridformate aus der Doku-Soap entstanden, die zwar noch die Protagonisten in ihrem Alltag zeigen, diese dabei aber beispielsweise wie in den Coaching-Shows beraten und sie begleiten. Er zählt ebenfalls auch Sendungen bei denen die Protagonisten in andere Zeiten (Living-History- Formate) oder soziale Schichten (Swap-Dokus) versetzt werden als Subgenres der Doku-Soap.[64] Sind diese Genres also doch nicht wie in Punkt 2.3 eigenständig zu sehen und ebenbürtige Unterformen der Gattung Reality-TV, sondern nur Subgenres der Doku-Soap?
Auch im aktuellen Programmbericht der Medienanstalten wird das Problem der willkürlichen Verwendung des Begriffes „Doku-Soap“ erkannt. Aufgrund der unterschiedlichen Zuordnungen schlagen Weiß und Ahrens hier eine neue Kategorisierung vor, die ein wenig Struktur in das Chaos der Genres bringen soll. Sie unterscheiden analog zu dem performativen und narrativen Reality-TV zwischen sogenannten Showformaten und Erzählformaten. Erzählformate, also Sendungen des narrativen Realitätsfernsehens, zeigen hiernach weiterhin besondere, reale oder realitätsnahe Alltagssituationen von Protagonisten, die auch nachgespielt sein können. Im Gegensatz dazu wird in Showformaten, also dem performativen Realitätsfernsehen, wie auch nach den vorherigen Definitionen der Protagonist auf eine Bühne gestellt, die in einem vorgegebenen künstlichen
Setting spielt und von vornherein inszeniert wird. Hiernach wird, wenngleich mit dem Bewusstsein, dass es viele Mischformen gibt, eine neue klare Systematisierung der Doku-Soap in der Gattung Reality-TV vorgenommen. Während die...