Kapitel 2
Vier Stunden Schlaf, und das seit Tagen –
wie der Bankenschirm aufgespannt wird
Schon einmal wurde in dem kleinen Dorf Colombey-les-Deux-Églises in der Champagne Geschichte geschrieben. Vor 50 Jahren empfing General de Gaulle hier den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Zum ersten und einzigen Mal lud der französische Präsident einen anderen Staatsmann ein, bei ihm privat zu übernachten. Bei dem historischen Treffen am 14. September 1958 bereiteten der Gründungspräsident der Fünften Republik und der Gründungskanzler der Bundesrepublik die deutsch-französische Aussöhnung vor. Heute ist »La Boisserie«, das Wohnhaus de Gaulles, Teil eines Ausstellungskomplexes. Im Museum werden Merkel und Sarkozy an diesem Tag die Sonderausstellung »De Gaulle – Adenauer, eine französisch-deutsche Versöhnung« eröffnen. Sie zeichnet den Weg der beiden Staatsmänner nach von ihrem privaten Treffen in Colombey bis zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, dem sogenannten Élysée-Vertrag.
Angela Merkel denkt daran, als ihre Challenger am Samstag, dem 11. Oktober, um 10 Uhr 30 auf dem kleinen Rollfeld in Saint-Dizier landet. Mit dem Hubschrauber wird sie weiter nach Colombey transportiert, wo sie 40 Minuten später ankommt. Um 11 Uhr 15 wird Nicolas Sarkozy sie vor dem Haupttor des Denkmalareals für Charles de Gaulle begrüßen.
Obwohl sie den schnell aufbrausenden, wenn auch persönlich sehr charmanten Sarkozy gern mag, macht der Apparat des Franzosen doch immer wieder Probleme. Wie kaum eine andere Regierung in Europa sind die Sarkozy-Truppen daran interessiert, ihren Präsidenten im besten Licht zu präsentieren – und das auch oft zulasten seiner jeweiligen Gesprächspartner. Nun, da er für ein halbes Jahr die EU-Präsidentschaft übernommen hat, scheint dieser Drang überhandzunehmen.
Im Europäischen Parlament in Straßburg wird offen darüber gelästert, dass die Handwerker vor jedem Auftritt Sarkozys die Sitznummern abschrauben müssen. Denn als EU-Ratspräsident steht ihm zwar der prominenteste Platz auf der Ratsbank zu, der auch am fernsehtauglichsten ist. Dummerweise trägt der jedoch die Sitznummer zwei. Die Nummer eins trägt der Platz direkt dahinter. Und der ist normalerweise für den Außenminister des Landes reserviert, das die Ratspräsidentschaft innehat. Also müssen die Handwerker des Parlaments vor jedem Auftritt Sarkozys ran. Denn der französische Präsident ist natürlich die Nummer eins, immer und überall.
So haben Sarkozys Leute bereits nach dem Treffen im Élysée-Palast am vorigen Sonntag damit begonnen, Merkel als »Madame Non« zu stilisieren. Die Frau, an der eine europäische Reaktion auf die Finanzkrise scheitert. Die Zaudernde, die nur die Interessen ihres eigenen Landes im Blick hat. Die frühere Muster-Europäerin, die nun blockiert, wo immer es geht. Die einstmals mächtigste Frau der Welt, die ihre Macht nun abgeben muss. An wen wohl? Klar, an Nicolas Sarkozy, den neuen Chef im Ring.
Im Kanzleramt in Berlin registrieren Merkels Berater den neuen Tonfall zu diesem Zeitpunkt noch amüsiert.
In diesem Fall war es die satirische, aber als gut informiert geltende Wochenzeitung Le Canard enchâiné. Sie machte europaweite Schlagzeilen mit dem Sarkozy zugeschriebenen Zitat: »Sie (die Bundeskanzlerin) wollte keinen europäischen Rettungsfonds. Sie hat gesagt: Jeder kümmert sich um seinen Scheiß.«
Ein Affront, natürlich.
Nun aber ist in Colombey-les-Deux-Églises dringend Friede, Freude, Eierkuchen angesagt. Sarkozy empfängt die Kanzlerin überschwänglich, ein Küsschen links, ein Küsschen rechts. »Es lebe Deutschland, es lebe Frankreich, es lebe die deutsch-französische Freundschaft«, sagt Sarkozy. »Wenn ich mich heute mit dem Präsidenten treffe, ist dies Teil einer engen, vertrauensvollen Zusammenarbeit, die ihresgleichen sucht«, sagt Merkel. Und platziert dann ihre eigentliche Botschaft: »Es muss ein gemeinsames Vorgehen in Europa geben, aber es muss auch die Möglichkeit geben für die Länder, flexibel nach der jeweiligen nationalen Situation zu reagieren.«
Zu diesem Zeitpunkt hat die Kanzlerin den französischen Präsidenten schon darüber informiert, dass sie zwei Tage später ein gigantisches Rettungspaket für die deutschen Banken präsentieren wird. Auch in Frankreich wird ein ähnlicher Plan vorbereitet.
Merkel ist sich darüber im Klaren, dass ihr Paket funktionieren muss. Die Stimmung an den Finanzmärkten ist, auch durch die massiven Verluste am Freitag, nicht anders als hysterisch zu beschreiben. Egal, wer zu diesem Zeitpunkt mit welchem Banker auch immer spricht: Die Metapher »Millimeter vor dem Abgrund« kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.
In dieser Situation hat Merkel kein Interesse an deutsch-französischen Machtspielchen. Sie will Ergebnisse beim für den nächsten Tag angesetzten Eurozonen-Gipfel in Paris. Und das bedeutet koordinierte Rettungsaktionen der Europäer, bei denen aber jedes Land seinen eigenen Weg gehen kann.
»Instrumentenkasten« ist die Chiffre, die sie und ihre Berater in den vergangenen 48 Stunden dafür gefunden haben. Das mächtigste – und auch kontroverseste – Instrument dabei ist die Beteiligung an Banken. Die Öffentlichkeit würde das natürlich Verstaatlichung nennen, völlig zu Recht. Ein Begriff, der nicht nur Merkel schwere Probleme bereitet.
Und so startet die Kanzlerin schon in Colombey-les-Deux-Églises ihre eigenen Versuche im Besetzen von Begrifflichkeiten. »Es geht ja darum, die Banken mit ausreichend Kapital zu versorgen, so dass sie auch selbstbewusst agieren können«, sagt sie. Das seien Kapitalstützungen, keine Verstaatlichungen. Der Staat habe nicht vor, auf Dauer einzugreifen, »sondern es ist eine Hilfe durch den Staat«.
Beim Mittagessen teilt Merkel Sarkozy mit, dass die Deutschen ihr Gesetzespaket in einer Woche durchziehen wollen. Auch der Franzose will am Montag sein Kabinett informieren, über ein weiteres Vorgehen hat er noch nicht nachgedacht. Bei Meeresfrüchten als Vorspeise und Kalb mit sehr viel Trüffeln zum Hauptgang reden beide darüber, wie sie ihr Timing synchronisieren können. »Warum machen wir nicht die Pressekonferenz zum gleichen Zeitpunkt?«, fragt Sarkozy. Die Kanzlerin sagt Sarkozy, dass sie um 15 Uhr vor die Presse gehen wolle. Das passt auch dem französischen Präsidenten.
Merkels Wirtschaftsberater Weidmann und sein französischer Kollege verlassen das Essen nach dem Hauptgang. Die beiden arbeiten bereits an dem Papier, das der Eurozonen-Gipfel am nächsten Tag in Paris beschließen soll. Auch der britische Premierminister Gordon Brown soll zu den 15 Staats- und Regierungschefs des Euroraums stoßen.
Zwar sind die Briten nicht Mitglied der Eurozone und halten nach wie vor an ihrem Pfund Sterling als Landeswährung fest. Doch allen ist klar, dass es ohne Brown auch keine europäische Lösung geben wird. Nicht nur, weil die britischen Banken noch tiefer im Finanzsumpf stecken als der Rest der europäischen Finanzbranche. Sondern auch, weil London noch immer das wichtigste Finanzzentrum Europas ist. Und schließlich, weil Brown einen für das erzkapitalistische Großbritannien sehr ungewöhnlichen Weg eingeschlagen hat: Ohne mit der Wimper zu zucken hat er die notleidenden Banken verstaatlicht.
»Ich werde nach Paris fahren, um die anderen europäischen Länder zu überzeugen, den gleichen umfassenden Ansatz zu wählen«, hatte Brown in einem Zeitungsbeitrag geschrieben. Noch gewinnt der langjährige Schatzkanzler Tony Blairs mit diesem Ansatz bei seinen Bürgern an Popularität.
Sarkozy lädt Brown anderthalb Stunden vor dem Treffen der Eurozone ein. Ebenfalls anwesend sind dann der Präsident der Euro-Gruppe, der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, und der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet.
Um 17 Uhr 15 landet Merkels Maschine wieder im militärischen Teil des Flughafens Tegel. Keine 22 Stunden später wird sie erneut in Richtung Frankreich aufbrechen, diesmal zum Treffen der Eurogruppe im Élysée-Palast in Paris.
Vorher jedoch wird Merkel am Sonntagmorgen eine lange Telefonliste abarbeiten. Die Verbindungen stellt zum Teil ihr Lagezentrum im vierten Stock des Kanzleramts her, oft ruft sie auch selbst an. Mitarbeiter der Bundespolizei und Soldaten arbeiten dort, es ist immer besetzt. Normalerweise reicht ein Vorlauf von einer halben Stunde, um die jeweiligen Gesprächspartner ans Telefon zu bekommen.
Manchmal ist es aber auch komplizierter. Wie an dem Sonntagabend, als Merkel den Vorstandsvorsitzenden eines Dax-30-Konzerns sprechen wollte. Eigentlich hat das Lagezentrum so ziemlich jede private Handynummer aller wichtigen Menschen in Deutschland. Doch dieser Gesprächspartner war ganz neu im Amt, und so riefen die Mitarbeiter im Lagezentrum bei den Sicherheitsleuten des Managers an. Ob der neue Chef zu erreichen wäre, die Bundeskanzlerin hätte ihn gern gesprochen? Ein Heiterkeitsausbruch folgte, und die Frage, welche Radioshow denn nun tatsächlich dran wäre.
Doch die Soldaten im Lagezentrum wussten sich zu helfen und baten ihr Telefon-Gegenüber, doch bitte beim Bundeskriminalamt nachzufragen. Die dortigen Mitarbeiter gaben der Sicherheitsabteilung des Konzerns grünes Licht. Und kurz danach konnte Merkel mit dem Firmenchef telefonieren.
Hier im Lagezentrum steht auch das, was gemeinhin als rotes Telefon bezeichnet wird. Es ist in Wirklichkeit schwarz und sieht sehr gewöhnlich aus. Damit stellt das Lagezentrum für Merkel die Verbindung zu ihren Kollegen in aller Welt her. Bis zu 29 Teilnehmer an Telefonkonferenzen können die...