Einleitung
Dieses Buchprojekt ist das Ergebnis von Samir Amins letztem Besuch in Wien im Oktober 2017. Drei Tage lang diskutierte der renommierte Entwicklungstheoretiker seine Thesen zur Notwendigkeit einer sozialistischen Perspektive, seine Einschätzung der Russischen Revolution, der Sowjetunion und China sowie zum Potenzial globalisierungskritischer Kräfte weltweit mit StudentInnen und AktivistInnen aus sozialen Bewegungen. Daraufhin entstand die Idee einer neuen deutschsprachigen Publikation, basierend auf Texten, die kurz zuvor auf Französisch veröffentlicht worden waren. Amin ist in Frankreich und im nördlichen Afrika, seinen Lebensmittelpunkten, in der globalen entwicklungstheoretischen ForscherInnen-Community sowie unter antiimperialistischen AktivistInnen, die sich für eine andere, sozial gerechtere Welt einsetzen, gut bekannt. Im deutschen Sprachraum hingegen wird er nach wie vor als Geheimtipp gehandelt. Dieses Buch soll Abhilfe schaffen, zumal Amin angesichts aktueller Verunsicherungen nicht nur Klarheit in der Analyse schafft, sondern vor allem Handlungsperspektiven aufzeigt. Durch seinen Tod am 12. August 2018 konnte Amin das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erleben.
Wer sich für die wissenschaftlichen Positionen Amins interessiert, hat dazu in den mehr als 30 Büchern, davon viele in andere Sprachen übersetzt, sowie in zahlreichen Fachartikeln Gelegenheit. Dieses Werk entstammt der zweiten Kategorie von Amins Werk, der politischen Kampfschrift. Sie basiert in der Analyse selbstredend auf wissenschaftlichen Grundlagen, geht in ihren Ansprüchen und Forderungen jedoch weit darüber hinaus. Es ist der Text eines ungeduldigen Militanten, wie auf Französisch PolitaktivistInnen genannt werden. Amin der Militante hält sich nicht mit historischen Erläuterungen und Forschungskontroversen auf, sondern steuert direkt auf die seiner Meinung nach brennendsten Fragen der Menschheit zu: das Überleben der Menschen auf dem Planeten in einer Weise, dass alle seine BewohnerInnen darin in angemessener und würdiger Weise teilhaben können. Die Basis dieses Überlebens ist die Produktion von und der Zugang zu Nahrungsmitteln.
Amin ist 85 Jahre alt, als er diese Texte schreibt. Er blickt auf ein außergewöhnliches Dasein zurück, das ihn Kolonialismus, Entkolonisierung, Aufbruchstimmung der postkolonialen Staaten und sozialistische Experimente ebenso wie eine Reihe von Rückschlägen erleben ließ. Die Einschätzung der aktuellen Lage ist widersprüchlich: Einerseits sind die Hoffnungen der postkolonialen Staaten auf eigenständige Entwicklung zerplatzt, nachdem die führenden kapitalistischen Mächte – allen voran die USA – ihre Hegemonie über den Süden im Zuge der jüngsten Globalisierungswelle erneut konsolidiert haben. Andererseits haben sie die Zügel nicht mehr so fest in der Hand wie im klassischen Imperialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie sehen sich wie während der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Kräfteverschiebungen aus dem Süden gegenüber. Diesem fehle zwar eine gemeinsame Perspektive, aber immerhin: seit der erfolgreichen Konsolidierung der kapitalistischen Weltwirtschaft unter westlicher Dominanz nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus gibt es nicht nur Zeichen, sondern auch konkrete Anknüpfungspunkte für einen anderen Weg der Entwicklung. Amin will diesen Weg und diejenigen, die dafür eintreten, unterstützen. Dabei warnt er vor Illusionen in Reformen, vor einem Nachholen unter kapitalistischen Bedingungen und vor der Hoffnung auf nationale und regionale Alleingänge, die auf dem Rücken anderer Völker und Regionen erzielt werden. Kein Wunder, dass er ungeduldig ist, nachdem sein Lebensweg schon öfter mit Krisen und Aufbrüchen, aber auch mit Sackgassen und Enttäuschungen gepflastert war. Dabei mahnt er keineswegs Eile oder vorauseilenden Radikalismus ein, nein, es geht ihm darum, angesichts der verbreiteten Alternativlosigkeit und dem Trend zur Flucht in ethnische oder religiöse Identitätsvorstellungen die gesellschaftspolitischen Ziele einer gerechten Welt nicht aus dem Auge zu verlieren. Jetzt, wo Amin tot ist, ist diese Aufgabe auf die jüngere Generation übergegangen.
Der Text fasst, ohne auf Wissenschaftssprache Rekurs zu nehmen, die zentralen Positionen der Amin’schen Weltsystemanalyse zusammen. Der Fokus liegt dabei auf der Agrarfrage und auf der nationalen Frage, die er über den Begriff der Souveränität verknüpft: Volkssouveränität als Voraussetzung für Ernährungssouveränität. Aus Amins Perspektive – jene des globalen Südens, wo die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist – müssen die vom Westen vorangetriebenen Agrarreformen zum Aufbau einer großbetrieblichen produktivitätsorientierten industriellen Landwirtschaft desaströs enden. Wir sind ja schon mitten drin im Desaster der Privatisierung der Böden, der Monopolisierung des Saatguts und dem Einsatz von Chemie und Schädlingsbekämpfung zur Produktivitätssteigerung. Der agro-industrielle Komplex kann sich als großer Gewinner dieser Entwicklung sehen, während die kleinbäuerliche Bevölkerung vom Land in die Städte und von den Slums in die Arbeitsmigration getrieben wird.
Es geht Amin darum, diesen Menschen ein angemessenes Auskommen am Land zu ermöglichen. Auch dies muss mit verbesserten Produktionsbedingungen und höheren Erträgen einhergehen, allerdings im Kontext einer Politik gestützter Preise, die das Überleben als bäuerlicher Haushalt ermöglicht, genossenschaftlicher oder staatlicher Vertriebsformen sowie einer Verknüpfung des Agrarsektors mit den anderen wirtschaftlichen Sektoren. An diesem Punkt gehen die agrarpolitischen Vorstellungen unmittelbar in eine volkswirtschaftliche Strategie über, die die Landwirtschaft mit der infrastrukturellen Erschließung der Regionen sowie der Maschinen- und der Lebensmittelindustrie verknüpft. Im regionalen Kontext bzw. auf dem Binnenmarkt, versteht sich, denn in der herrschenden Weltwirtschaftsordnung geht die großbetriebliche Agrarproduktion, die die Kleinbauern an den Rand drängt, in den Export und wird in den entwickelten Staaten verarbeitet. Sämtliche Inputs wie Saatgut, Maschinen, Dünger und Insektizide kommen ebenfalls von wenigen marktbeherrschenden Konzernen aus dem Westen. Und anstelle einheimischer Preispolitik, die den bäuerlichen Betrieben die Existenz ermöglicht, verordnet die Welthandelsorganisation Freihandel. Damit öffnet sich der Markt für Nahrungsmittelimporte aus den USA und europäischen Staaten, die – doppelten Standards sei dank – aufgrund von Agrarsubventionen an die dortigen Landwirte die lokalen Märkte noch weiter unter Druck setzen.
Amin ist hier ganz klar: Die grundlegenden Probleme der Mehrheitsbevölkerung dieser Welt, auch wenn sich die Sachlage aus der Perspektive der entwickelten Industriestaaten anders darstellt, muss von unten angegangen werden. Er führt im zweiten Kapitel sowohl die Verwerfungen der kolonialen Zeit, der »grünen Revolutionen« der 1960er- und 1970er-Jahre und der Bodenprivatisierung und Bodenmonopolisierung der letzten Jahrzehnte als auch althergebrachte örtliche Regelungen zur Beteiligung breiter Bevölkerungskreise an Bodennutzung und Konsum aus; dazu kommen die revolutionären Experimente kollektiver Landwirtschaft, die er im Fall der Sowjetunion aufgrund der Zwangskollektivierungen der 1930er-Jahre negativ einschätzt, während er gegenüber den Landkollektiven im Maoismus keine Kritik aufkommen lässt. Amin führt aber auch aus seiner eigenen Erfahrung als Berater verschiedener afrikanischer Regierungen für uns ZentraleuropäerInnen gänzlich unbekannte sozialistische Experimente an, etwa die in Mali von der Partei der Sudanesischen Union 1960 umgesetzten Formen kollektiver Landwirtschaft, die auf dem Familienbetrieb als zentraler wirtschaftlicher Einheit beruhten. So kann es nicht verwundern, dass Amin auch in den Ländern des Zentrums die bäuerliche Familienwirtschaft gegenüber der Durchsetzung eines monopolisierten agro-industriellen Komplexes schützen will, der die bäuerlichen Betriebe zu bloßen Handlagern bzw. Zulieferern des Agrobusiness macht oder die Produktion gänzlich übernimmt. Die Bauern- und Bäuerinnen-Bewegungen im Norden werden damit zu selbstverständlichen BündnispartnerInnen für den Kampf gegen die Diktate der WTO und für eine bäuerliche Agrarpolitik im Süden. Amin will über diese hinaus in der Linken, die in ihren Strategien stark auf die Industriearbeiterschaft fixiert ist, Verständnis für die Agrarfrage wecken.
Das zweite große Thema auf Amins Prioritätenliste in diesem Buch ist die nationale Souveränität. Amin ist sich dessen bewusst, dass er damit ein großes Dogma der Linken bis hin zum liberalen Mainstream im Norden berührt, demgemäß Nationalismus in jeder Form abzulehnen sei. Für Amin ist diese Haltung Ausdruck eines im Norden weithin verinnerlichten Eurozentrismus, der Nationalismus lediglich als Phänomen der europäischen Großmächte begreift. In dieser Lesart steht Nationalismus für die Expansion und das Machtstreben, das mit der innerimperialistischen Rivalität Leid über die gesamte Menschheit brachte. Völlig ausgeklammert wird dabei der Nationalismus des Südens, der den Weg zur Überwindung der kolonialen Abhängigkeit bereitete und den unabhängigen Staaten im globalen Süden den Aufbau und die Verteidigung ihrer eigenständigen Entwicklung ermöglichte.
Für Amin ist Befreiungsnationalismus immer mit einem internationalistischen Anspruch verbunden. Er will Volkssouveränität nicht als Kopie des bürgerlich-liberalen Nationalismus der Zentren verstehen, sondern als eine Strategie, die auf die enge Kooperation zwischen den Staaten des Südens setzt, damit diese gemeinsam die koloniale Abhängigkeit...