2 Was ist ein Sozialraum? Perspektiven auf den ›Raum‹
Das erwartet Sie …
Bevor Sie sich mit den konkreten Handlungskonzepten der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit befassen, ist es wichtig, die Entstehungsgeschichte der heutigen sozialräumlichen Strukturen ansatzweise zu verstehen. In diesem Kapitel richtet sich der Blick entsprechend zunächst auf die Geschichte der europäischen Stadt. Es wird deutlich, dass das Soziale und das Räumliche eng miteinander verwoben sind, dass es kein Zufall ist, wer heute wo wohnt und damit auch lebt. Ein beeinflussender Faktor ist dabei die staatliche bzw. kommunale Steuerung, die immer wieder steuernd in die Wohnungs- und Eigentümermärkte eingreift – oder dies unterlässt. Sozialer Wohnungsbau, so werden Sie sehen, ist auf diesem Wege zu einer Ursache der Konzentration von Armut geworden. Nach dem Blick auf die Struktur der Städte wenden wir uns der kleineren Einheit, dem Sozialraum zu. Sozialräume existieren in der Stadt und auf dem Land, sind mal klein und mal groß. Sie lernen in diesem Kapitel Definitionen und Eingrenzungen des Sozialraumbegriffs kennen, die in der Soziale Arbeit im Sozialraum aus unterschiedlichen Perspektiven (Verwaltung, Bewohner*innen, Fachkräfte) wichtig sind.
2.1 Die Stadt und der Raum
Die Stadt oder die Gemeinde ist nicht nur ein wirtschaftliches Zentrum, eine Verwaltungseinheit oder ein Ort zum Wohnen. Als Ganze ist sie auch durch die Vielfalt oder Homogenität, durch unterschiedliche soziale Milieus, durch Kulturen u. v. m. geprägt. Eine Forscher*innengruppe an der TU Darmstadt hat um die Jahrtausendwende sogar die Idee einer »Eigenlogik« der Stadt verfolgt (Berking & Löw, 2008) und andere haben von einem »Habitus«, also so etwas wie einem Wesen und Ausdruck der Stadt, geschrieben (vgl. Lindner, 2003). Uns allen ist im Alltäglichen klar, dass es einen Unterschied macht, ob wir in Gießen, Leipzig, Berlin oder Braunschweig oder auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern oder Niedersachsen leben oder arbeiten. Alle Unterschiede oder Ähnlichkeiten lassen sich gar nicht aufzählen. Trotz dieser hier zunächst betonten Unterschiede und ganz ›eigenen‹ Dingen in einer Stadt lohnt es sich, sich zunächst ganz allgemein mit der Struktur von Städten beschäftigen. D. h., die Entstehungsgeschichte heutiger Strukturen der Stadt ansatzweise nachzuvollziehen, bevor wir uns der kleineren Einheit, dem Sozialraum, zuwenden. Denn: Die Städte oder Gemeinden bilden in ihrer jeweiligen Gesamtstruktur (ebenso wie die Sozialräume) einen Teil der Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit im Sozialraum.
Wir konzentrieren uns im Verlauf des Blicks auf die Gesamtstadt besonders auf den Bereich des Wohnens. Dieses deshalb, weil der Wohnort der jeweiligen Menschen in gewisser Weise einen Anker im Hinblick auf die Strukturen und Aufgaben der Sozialen Arbeit im Sozialraum darstellt. Viele Leistungen der Sozialen Arbeit orientieren sich am Wohnort bzw. an den Gebieten, in denen Betroffene leben und arbeiten. Mit dem Blick auf die Gesamtstadt fragen wir im Folgenden danach, wie es kommt, dass Gebiete sozial Benachteiligter entstehen, es Segregation, d. h. die Konzentration von Bewohner*innen mit z. B. wenig Einkommen, in bestimmten Gebieten der Stadt gibt. An dieser Stelle befassen wir uns mit den wesentlichen strukturellen Ursachen der Konzentration von Armut. Aus der Konzentration von Armut folgt eine Konzentration der Sozialen Arbeit auf eben diese Gebiete. Zusätzlich wird am Ende dieses Kapitels klar, warum der sozialräumliche Kontext oder die Umwelt und schließlich auch der Sozialraum Einfluss auf unser Handeln nimmt und was diese Begriffe im Zusammenhang mit der Sozialen Arbeit bedeuten können.
2.1.1 Zur Geschichte und Struktur der europäischen Stadt
Dirk Schubert hat sehr übersichtlich einen kurzen Überblick über die Entwicklung der frühindustriellen Stadt und ihren grundsätzlichen Aufbau bis zur heutigen Stadtstruktur geliefert (vgl. Schubert, 2012). Er beginnt mit der Stadt der Bürger und Handwerksbetriebe, der Fußgänger und Pferdekutschen des Präfordismus des 19. Jahrhunderts und damit auch mit den ersten Ansätzen der Sozialen Arbeit (vgl. Schubert, 2012, S. 18). Schon damals war der gesellschaftliche Stand der Bewohner*innen an den Häuserfassaden und Grundrissen sowie an der Lage der Häuser bzw. Wohnungen in der Stadt abzulesen. Die engen und dicht bewohnten Arbeiterwohnungen lagen in der Nähe der lauten und oft von unangenehmen Gerüchen begleiteten frühen Industrien oder Handwerksbetrieben. In Hamburg oder Frankfurt/M. sind auch heute noch die Bauten ehemaliger Hafenindustrien zu sehen, in deren unmittelbarer Umgebung typische Arbeiterwohnungen liegen.
In der Hafenstadt Chicago, einer von starken Zuwanderungen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten geprägten Stadt der USA, fragten Forscher*innen des soziologischen Instituts der Universität Chicago zu Beginn des 20. Jahrhunderts danach, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Wohnort der in einem bestimmten Teil der Stadt lebenden Menschen und ihrer räumlichen Umgebung gibt. Wie könnte dieser Zusammenhang aussehen? Sie beschrieben die Verteilung der Bewohner*innen über die Stadt und entwickelten Modelle, die – so wie es im Rahmen von Sozialraumanalysen noch heute getan wird – die Verteilung sozialstruktureller Merkmale (Einkommen, ethnische Zugehörigkeit, Bildung usw.) abbilden. Auf diesem Weg entstand im Jahr 1925 das Modell der konzentrischen Ringe von Burgess, etwas später das Sektorenmodell von Hoyt (1936) und das Mehrkernmodell von Harris und Ullman (1945) (zum Folgenden vgl. Friedrichs, 1983, S. 104f). Beispielhaft soll an dieser Stelle auf das in folgender Abbildung dargestellte Modell von Burgess eingegangen werden ( Abb. 1).
Abb. 1: Modell der konzentrischen Zonen, selbst erstellt nach Burgess (1925)
Burgess entwickelte sein Modell in Anlehnung an die damalige Struktur der Hafenstadt Chicago – wobei diese Stadt am Michigansee liegt und tatsächlich nur die Hälfte der abgebildeten konzentrischen Ringe als Bebauung vorhanden sind. Die andere Hälfte liegt, so könnten wir sagen, im See. So kommt es auch, dass in dem in der Abbildung 1 gezeigten Modell der Hafen mit seinen Industrieanlagen im Kern der Stadt (City) liegt ( Abb. 1). Als City bezeichnen wir den Mittelpunkt des kommerziellen, sozialen und politischen Lebens der Stadt. Hier lassen sich Einzelhandel, Büros, Banken, Hotels, Museen, der Hauptbahnhof und das Rathaus und – nicht zuletzt – eine repräsentative Kirche, wie in Hamburg z. B. das alte Wahrzeichen der Stadt, der »Hamburger Michel« (die Michaeliskirche) finden. Direkt am Hafen und damit ebenfalls sehr zentral lagen die schlecht ausgestatteten – in den Zeiten von Burgess sogar sehr schlecht ausgestatteten – Wohnungen, Zimmer bzw. Schlafstätten der Tagelöhner. Die Tagelöhner waren oft Menschen, die noch nicht lange in der Stadt waren und die jeweils für einen Tag für meistens körperlich sehr schwere Arbeiten im Hafen oder in den Industrien angeworben wurden. Damit verdienten sie kurzfristig Geld oder wurden mit Lebensmitteln entlohnt. (In einer Forschung am Frankfurter Osthafen mitten in der Stadt wurde mir im Jahr 2016 noch berichtet, wie zu Zeiten der Großmarkthalle im Herzen der Stadt Frankfurt/M. Menschen einfache körperliche Arbeiten erledigten und hierfür Lebensmittel bekamen. Eine Gelegenheit, die es vielen armen Zugewanderten ermöglichte, über den Tag zu kommen.)
Burgess bezeichnete den zweiten Kreis in seinem Modell als die Zone des Übergangs (zone in transition). Hier lagen neben den einfachen und schlecht ausgestatteten Zimmern auch Fabriken der Leichtindustrie und das sogenannte Vergnügungsviertel mit Prostitution. Hier war die Armut der Bewohner*innen deutlich sichtbar. Burgess erwähnt bei der Beschreibung dieses Kreises bzw. dieser Zone jedoch auch bereits die kreativen Intellektuellen, die in späteren Stadtstrukturanalysen als Künstler und Pioniere eines etwas anderen Lebens in der Stadt auftauchen.
In dem Modell von Burgess hat die Zone des Übergangs keine klaren Grenzen und geht direkt in den dritten Kreis über, in das Arbeiterwohngebiet. Es folgt das Wohngebiet der Mittelschicht, in dem auch Appartementhäuser oder Einfamilienhäuser existieren und über lokale kleine Geschäfts- bzw. Nahversorgungszentren (satellite loops; den Bäcker oder für die dort vertretene Kultur wichtigen Einzelhandel) die Nahversorgung gewährleistet ist. Auch bereits in diesem Modell genannt ist die Pendlerzone außerhalb der Verwaltungsgrenze der Stadt, die...