|20|2 Grundlagen der Sprachdiagnostik
Vor dem Hintergrund der Heterogenität von Sprachstörungen und der Abhängigkeit der Symptomatik vom Alter der betroffenen Kinder gestaltet sich die Diagnostik von umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache entsprechend komplex. Daher wird der Einsatz von psychometrischen Testverfahren und die Überprüfung mehrerer sprachlicher Ebenen sowohl im Sprachverständnis als auch in der Sprachproduktion empfohlen (AWMF, 2013). Die eingesetzten Testverfahren sollten um eine Beobachtung des Sprachverhaltens sowie um den Bericht der Eltern über die Spontansprache und die Sprachentwicklung des Kindes ergänzt werden (Bishop & McDonald, 2009). Eine informelle Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten kann nicht als ausreichend betrachtet werden (Ptok et al., 2014). Das diagnostische Vorgehen wird im Folgenden näher betrachtet. Dafür wird zunächst auf die wichtigsten Punkte zur Anamnese und zur Beurteilung der Spontansprache sowie auf die Möglichkeiten der Früherkennung eines Sprachentwicklungsrisikos eingegangen. Anschließend wird der Schwerpunkt auf das testdiagnostische Vorgehen gelegt und die Herausforderungen der Diagnostik bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern werden thematisiert.
2.1 Sprachdiagnostik in den ersten Lebensjahren
Vor allem in den ersten drei Lebensjahren lässt sich eine umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache nicht ohne Weiteres diagnostizieren, da die Abgrenzung zwischen der normalen Variation des Spracherwerbs und einer gestörten sprachlichen Entwicklung oft nicht ausreichend gelingt (vgl. Kany & Schöler, 2014). Die Früherkennung eines Sprachentwicklungsrisikos ist jedoch zentraler Bestandteil der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen (v. a. U6 bis U9), wobei auch hier das diagnostische Vorgehen nicht einheitlich geregelt ist (vgl. Sallat, 2014).
Die Beurteilung des Sprachstands erfolgt in diesem Alter vor allem über Elternfragebögen. Die Untersuchung von Rosenfeld und Kiese-Himmel (2011) zeigt, dass für die U7 und U7a mehrere standardisierte Screening|21|verfahren zur Verfügung stehen, die eine zuverlässige Einschätzung hinsichtlich einer unauffälligen oder auffälligen Sprachentwicklung ermöglichen. Sachse und Kollegen (2007) konnten zudem für diese Altersgruppe eine hohe Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen in Elternfragebögen und standardisierten Testverfahren nachweisen. Die Autoren empfehlen für die Diagnostik bei jüngeren Kindern den Einsatz von Elternfragebögen, die bei einem auffälligen Befund um eine differenzierte Testdiagnostik mit dem Kind ergänzt werden kann (Sachse et al., 2007).
Auch wenn Kinder mit einer auffälligen Sprachentwicklung in den ersten Lebensjahren ein erhöhtes Risiko tragen, eine umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache zu entwickeln, muss berücksichtigt werden, dass eine verzögerte Sprachentwicklung nicht gleichbedeutend mit einer Störung des Spracherwerbs ist (vgl. Petermann & Szagun, 2011; Szagun, 2013). So konnten auch Ullrich und von Suchodoletz (2011) in ihrer Studie feststellen, dass etwa die Hälfte der Kinder, die im Alter von etwa zwei Jahren noch deutliche Rückstände in der sprachlichen Entwicklung aufwiesen, bei einer erneuten Überprüfung ein Jahr später diese Rückstände aufgeholt haben. Eine sichere Identifikation von Kindern mit umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache ist daher erst gegen Ende des dritten Lebensjahres beziehungsweise mit vier Jahren möglich (von Suchodoletz, 2011). Obwohl eine Sprachkompetenz des Kindes mit zwei Jahren bei unauffälliger Entwicklung sicher beurteilt werden kann (vgl. Hachul, 2015; siehe auch Abschnitt 5.4), kann eine fundierte Diagnose über eine Sprachentwicklungsstörung aufgrund des vorliegenden variantenreichen Sprachentwicklungstempos erst sehr viel später gestellt werden.
Mit zunehmendem Alter stellen standardisierte Testverfahren zur Erfassung der sprachlichen Kompetenzen eines Kindes die Methode der Wahl dar.
2.2 Sprachdiagnostik im Vor- und Grundschulalter
Das Vor- und Grundschulalter stellt die zentrale Altersspanne für die Erhebung des allgemeinen Sprachstands dar. Dies wird zum Beispiel durch die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen um den 47. und den 62. Lebensmonat (U8 und U9) deutlich, bei denen die Überprüfung der Sprachentwicklung von zentraler Bedeutung ist (Sallat, 2014). Die Entscheidung, ob ein Förder- bzw. Therapiebedarf besteht, und wenn ja in welchem Umfang, wird häufig erstmalig im Zuge der U8 getroffen, da eine umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache erst ab einem Alter von vier Jahren diagnostiziert werden kann (AWMF, 2013; Sallat, 2014). Die Abgrenzung zwischen einer Sprachförderung und sprachtherapeutischen Maßnahmen ist in diesem Zusammenhang zentral.
|22|Zur Erhöhung der Bildungschancen von Kindern aus Migrationsfamilien und solchen Kindern, die ein Risiko für die Entwicklung einer Lese- und Rechtschreibstörung aufweisen, wurden als Reaktion auf die internationalen Schulleistungsstudien (PISA) verbindliche Sprachstandserhebungen im Vorschulalter eingeführt (Sallat, 2014). Diese unterscheiden sich jedoch im Testsetting (Einzel- oder Gruppentestungen) und in den eingesetzten Verfahren zur Sprachstandserhebung erheblich. Zudem besteht innerhalb der Bundesrepublik Deutschland kein Konsens darüber, zu welchem Zeitpunkt eine solche Überprüfung durchzuführen ist und ob diese für alle Kinder verpflichtend oder nur für spezielle Gruppen (z. B. nur für Kinder mit einem Migrationshintergrund) zu empfehlen ist. Zu berücksichtigen gilt in diesem Kontext auch, dass bei dieser Form der Sprachstandserhebung lediglich die Kinder erreicht werden, die eine vorschulische Institution (Kindergarten oder Kindertagesstätte) besuchen (Sallat, 2014).
Erst im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung, also um das fünfte Lebensjahr, findet in Deutschland eine flächendeckende Erhebung des Sprachstands statt. Solche Untersuchungen werden von den schulärztlichen Diensten der lokalen Gesundheitsämter durchgeführt. Die Schuleingangsuntersuchung klärt grob ab, ob ein Förder- oder Therapiebedarf besteht. Allerdings muss im Anschluss eine vertiefende Sprachdiagnostik (z. B. in einem Kinderzentrum, bei einem Kinderarzt) erfolgen, um differenziert eine Intervention einleiten zu können. Auch im Zusammenhang der Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich ein heterogenes Bild in der Auswahl entsprechender sprachdiagnostischer Verfahren und ihrer Umsetzung in der diagnostischen Praxis (Rausch, 2013). Als wichtige Bestandteile in der Sprachdiagnostik gelten dabei übergreifend die Anamnese- und Explorationsphase zu Beginn des diagnostischen Prozesses, der Einsatz von standardisierten Testverfahren zur Sprachstandserhebung und die Erfassung des allgemeinen und kognitiven Entwicklungsstands (AWMF, 2013).
2.2.1 Anamnese und Exploration
Nach von Suchodoletz (2013b) beziehen sich die zentralen Themen der Elternexploration auf
die aktuell vorliegenden Sprech- oder Sprachauffälligkeiten,
mögliche komorbide Beeinträchtigungen,
die bisherige Entwicklung der Sprache und
auf den Störungsverlauf.
So sind zum Beispiel das Erreichen typischer Meilensteine der Sprachentwicklung (wie das Lallen oder die Produktion erster Wörter und Zweiwortsätze) sowie die Spracherwerbsbedingungen von besonderem Interesse (Chilla, 2011; Zorowka, 2008). Darüber hinaus tragen Kinder, die von Ver|23|haltensauffälligkeiten betroffen sind, ein erhöhtes Risiko, dass die umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache nicht erkannt wird oder die Verhaltensprobleme als schwerwiegenderes Problem erlebt werden, wodurch die Sprachproblematik in den Hintergrund tritt (von Suchodoletz, 2003).
Weiterhin bietet eine Einschätzung der Stärken und Schwächen in anderen Entwicklungsbereichen eine wichtige Information, wobei dazu ein allgemeiner Entwicklungstest, wie der ET 6-6-R, herangezogen werden muss (vgl. Petermann & Macha, 2015). Neben der bisherigen Sprachentwicklung und den Erwerbsbedingungen sollten die Fähigkeiten in den einzelnen Sprachbereichen (Lautbildung, Wortschatz, Grammatik) und das Kommunikationsinteresse des Kindes erfragt werden. Zudem sollten Hinweise auf mögliche Ursachen der Sprachdefizite sowie die inner- und außerfamiliären Entwicklungsbedingungen thematisiert werden (Chilla, 2011; von Suchodoletz,...