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E-Book

Sprache und Beziehung

VerlagDe Gruyter Mouton
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl456 Seiten
ISBN9783110493429
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis144,95 EUR

Zwischenmenschliche Beziehungen formen unsere Sprache und unseren Sprachgebrauch, und diese wiederum gestalten unsere Beziehungen. Obwohl diese Wechselwirkung ebenso grundlegend wie vielfältig ist, hat sich um sie bis jetzt kein linguistisches Forschungsfeld ausgebildet, das ähnlich systematisch bearbeitet worden ist wie dasjenige um Sprache und Geschlecht, Sprache und Alter oder Sprache und soziale Gruppen.

Der Band versammelt 15 Beiträge, die das Forschungsfeld Sprache und Beziehung exemplarisch besetzen. Sie beziehen sich raumzeitlich auf den deutschen Sprachraum vom Frühneuhochdeutschen bis zur Gegenwart und reichen thematisch von Anreden über Personen- und Beziehungsbezeichnungen, sprachliche Akte und Praktiken bis hin zu kommunikativen Gattungen und Textsorten. Der Band repräsentiert damit beispielhaft verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit sprachlicher Relationalität, wie sie aus der aktuellen linguistischen Forschung hervorgehen. Auf diese Weise trägt er zur empirischen Erschließung wie auch zur theoretischen und methodischen Fundierung des Forschungsfeldes Sprache und Beziehung bei.



Angelika Linke and Juliane Schröter, University of Zurich, Switzerland.

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Leseprobe

Horst J. Simon

Welche menschlichen Beziehungen sind in den Sprachen strukturell relevant?


Anmerkung: Ich danke den Teilnehmer*innen der Zürcher Tagung zu „Sprache und Beziehung“ für allerlei Fragen und Anregungen. Mein besonderer Dank gilt Juliane Schröter und Angelika Linke – den Tagungsorganisatorinnen und Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes – für ihre steten Ermunterungen, ihre hilfreichen Kommentare und ihre nahezu unendliche Geduld.

1Was suchen wir?


Bei all ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit ist es so, dass die Sprachen der Welt meist doch recht ähnliche Ausdrucksbedürfnisse systematisch kodieren: in sehr vielen Sprachen findet man z. B. grammatische Markierungen für die zeitliche Situierung von Handlungen und Ereignissen (mittels der grammatischen Kategorie Tempus) oder für die Frage, ob ein oder mehrere (manchmal auch, ob genau zwei) Elemente eine Verbalhandlung ausführen (mittels der Kategorie Numerus) usw.15 Je nach typologischem Profil einer Sprache können die markierenden Elemente in unterschiedlichen Formen auftreten, typischerweise erscheinen sie jedoch als Affixe oder als in paradigmatischer Relation stehende Partikeln.

Im vorliegenden Beitrag soll nun ein Ausdrucksbedürfnis im Mittelpunkt stehen, das in der grammatischen Forschung vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hat, was darin begründet sein mag, dass es in den grammatischen Systemen nur selten eine zentrale Funktion einnimmt:16 die Kodierung menschlicher Beziehungen. Sprachliche Mittel werden zwar ganz zentral bei der Organisation zwischenmenschlicher Kontakte eingesetzt,17 häufig handelt es sich dabei aber um eher diskursiv-pragmatisch zu fassende Phänomene. Ich fokussiere in diesem Beitrag dagegen die Markierungen von Beziehungen, die sprachstrukturelle Relevanz besitzen, worunter einerseits eindeutig grammatische Verfahren (im wesentlichen morphologische) sowie andererseits einigermaßen durchgängige Systematiken im Lexikon gefasst sein sollen. Diese Konzeptualisierung ist eng verbunden mit der grammatisch-typologischen Einsicht von Roman Jakobson: „Languages differ in what they must convey, and not in what they can convey“ (Jakobson 1959a/1971: 264, ähnlich Jakobson 1959b/1971). In einer solchermaßen sprachsystem-orientierten Perspektivierung finden demgegenüber die Einflussfaktoren, die bei der (Ab-)Wahl bestimmter sprachlicher Varianten aktiv sind, keine Berücksichtigung.18

Mit dem Kriterium der strukturellen Relevanz in Grammatik und Lexikon wird also gewissermaßen ein mittlerer Grad an strukturbezogener Strenge angelegt. Dadurch soll ein Eindruck von der Vielfalt der Beziehungen vermittelt werden, die sprachlich wirksam werden können, ohne dabei in methodologische Beliebigkeit abzurutschen. Die Forschungsfrage soll also lauten:

Welche Beziehungen werden wo wie strukturell relevant kodiert?

Dabei kann es beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht darum gehen, einen streng systematischen oder gar vollständigen Überblick über die in den Sprachen der Welt vorzufindenden Muster zu liefern. Vielmehr sollen wesentliche und manchmal vielleicht auch überraschende Beziehungstypen aufgezeigt werden, die bei einer kursorischen Lektüre der sprachtypologischen und anthropologischlinguistischen Literatur entnommen werden können. Während manche davon in relativ vielen Sprachen eine Rolle spielen, sind andere in ihrer Verbreitung (sehr) stark eingeschränkt.

2Sprachstrukturell relevante Beziehungstypen


Ich verfolge in diesem Beitrag also gewissermaßen einen struktur-onomasiologischen Ansatz: Welche Sorten von menschlichen Beziehungen finden in den Sprachen systematisch Ausdruck?19

Bei den Beziehungstypen ist zunächst zu unterscheiden zwischen solchen, die abstrakt auf der systematischen Ebene des Äußerungsakts gefasst werden können (i.e. in Bezug auf die Sprechaktrollen), und solchen, die auf die sozialen Beziehungen der an der Interaktion beteiligten konkreten Personen abheben.

2.1Äußerungsakt-relationale Beziehungen


Bei jeder sprachlichen Äußerung sind verschiedene Rollen zu unterscheiden:

Abb. 1: Kommunikative Rollen in einem Äußerungsakt.

Der deiktische Bezug auf die grundlegenden Rollen ‚Sprecher‘, ‚Adressat‘ und ‚Unbeteiligter‘20 bildet die Basis für die Unterscheidung der drei grammatischen Personen ‚1. Person‘, ‚2. Person‘ und ‚3. Person‘.21 Die Sprecher-Adressat-Dyade ist nicht nur die zentrale Opposition jeglicher Kommunikation, sie ist auch der Ort der in Anm. 4 erwähnten soziolinguistischen Differenzierungen. In seltenen Extremfällen kann aber die Sprecher-Adressat-Beziehung bereits als solche als derart problematisch empfunden werden, dass gewissermaßen die Sprecher-Unbeteiligter-Beziehung als kommunikativer Ersatz herhalten muss: bei einem derartigen Erreichbarkeits-Tabu werden gewisse Personen von gewissen Sprechern niemals direkt angesprochen, sondern stets über den Umweg einer Vermittlungsperson, die aber im Sinne des ‚eigentlichen‘ Äußerungsakts lediglich die Rolle Unbeteiligter einnimmt. – Während Restriktionen dieses Typs selten zu beobachten sind, ist die folgende äußerungsakt-bezogene Relation weltweit betrachtet höchst bedeutsam.

Sehr viele Sprachen differenzieren bei der Person-Numerus-Konfiguration in der 1. Person Plural (bzw. zusätzlich auch beim pronominalen Dual, so sie einen solchen besitzen) zwischen sogenannten Inklusiv- und Exklusivformen, die die seit Filimonova 2005 als ‚Clusivity‘ bezeichnete grammatische Kategorie aufspannen (vgl. ebd. auch für einen typologischen Überblick). Das Kriterium besteht in der Frage, ob in einer Referenzmenge, in der der Sprecher inkludiert ist, auch der Adressat inkludiert ist oder nicht: {Spr [" Adr]}. Der Satz Wir gehen morgen ins Kino ist im Deutschen systematisch zweideutig; er kann bedeuten: ‚Ich und eine oder mehrere weitere Person(en) gehen, aber du nicht …‘ oder ‚Ich und du – und vielleicht noch andere – gehen …‘. Gemäß der Übersicht von Cysouw (2011) stehen in ungefähr einem Drittel der Sprachen des zugrunde gelegten Samples – auf allen Kontinenten außer Europa – an äquivalenten Stellen zwei unterschiedliche Formen für ‚1pl‘ zur Verfügung; vgl. die dunklen Markierungen in Abb. 2.

Abb. 2: Clusivity in der 1. Person aufgrund der Daten von Cysouw (2011).

Die Existenz von Clusivity in der 1. Person ist demnach gut belegt und unumstritten. Dagegen ist es nicht ganz klar, ob in irgendeiner Sprache eine vergleichbare Differenzierung auch in der 2. Person besteht, also ob eine Sprache systematisch unterscheidet, ob in einer Referenzmenge lediglich Adressaten oder ob neben Adressaten auch Unbeteiligte enthalten sind: {Adr [" Unb]}. In Simon 2005 konnte nachgewiesen werden, dass alle bis anhin in der deskriptiven und typologischen Literatur angeführten Beispiele für Clusivity in der 2. Person einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Allerdings werden dort auch Beispiele aus dem Bairischen diskutiert, die nahelegen, dass in kommunikativen Situationen, in denen das honorative Anredepronomen angemessen ist, sehr wohl eine der Clusivity vergleichbare Kontrastierung zu beobachten ist:22

(1a)Hab-ts eß heid scho ohne mi ãgfangd?

‚Habt ihr heute schon ohne mich angefangen?‘; exkl.: {Adr+Adr …}

(1b)Über was ham-S heid gredt auf da Sitzung?

‚Worüber haben Sie heute geredet auf der Sitzung?‘; inkl.: {Adr+Unb …}

(2a)Sei-ts heid wieda amoi ananandagrån, zwoa?

‚Seid ihr zwei heute wieder einmal (im Streit) aneinandergeraten?‘; exkl.: {Adr+Adr}

(2b)San-S heid wieda amoi ananandagrån, Sie und der anda, der wo scho furt is?

‚Sind Sie heute wieder einmal (im Streit) aneinandergeraten, Sie und der andere, der schon weg ist?‘; inkl.: {Adr+Unb}

Je nachdem, wie man die bairischen Daten beurteilen mag, wird man also womöglich annehmen müssen, dass zumindest bei dieser einen Sprache die Unbeteiligtenrelation grammatisch relevant ist (im Pronominalsystem und in der Verbmorphologie). Unberührt von der Interpretation des Falles des Bairischen bleibt aber festzuhalten, dass die Distinktion [" Adressat] in vielen Person-Numerus-Systemen der Welt eine zentrale Rolle spielt.

Neben den drei in Abb. 1 fettgedruckten Rollen ‚Sprecher‘, ‚Adressat‘ und ‚Unbeteiligter‘, die allesamt potentielle Referenten eines entsprechenden Ausdrucks in einem Satz werden können, ist mit dem ‚Mithörer‘ noch eine weitere kommunikative Rolle anzunehmen, die manchmal strukturelle Relevanz erlangt: In den sogenannten ‚Schwiegermuttersprachen‘ einer Reihe von nativen Kulturen Australiens wird nämlich strikt darauf geachtet, ob eine als in einer...

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