Dike – Sprachgerechtigkeit
»… Sprache [ist] die Mater der Gerechtigkeit.«[1]
(Walter Benjamin)
Gerechtigkeit ist Sprache. In diese Abbreviatur lässt sich das Axiom fassen, dem seit mehr als zwei Jahrtausenden das Nachdenken über Gerechtigkeit folgt. Seine Implikationen sind bis heute nicht entfaltet worden; seine Konsequenzen unabsehbar. Die Grenze der Auslegbarkeit dieses Satzes wird deutlich, sobald er umgekehrt wird und lautet: Sprache ist Gerechtigkeit, denn an ihm wird deutlich, dass damit eine sprachliche Äußerung – und zwar eine Aussage, die eine Behauptung, eine Versicherung und eine Definition darstellt – über die Sprache überhaupt gemacht ist, eine solche also, die zunächst sich selbst bestimmt, sich selbst aber als eine andere, durch sie allererst bestimmte bestimmt. Wenn sich Sprache und Gerechtigkeit im einen wie im anderen Satz aufeinander verwiesen zeigen, dann zeigen sie nicht zunächst ihre Selbigkeit, sie zeigen ihre Verweisungsbedürftigkeit, ihren Verweisungsanspruch, und da dieser selbst auf einen wiederum bloß sprachlichen Horizont beschränkt ist, ihre schlichte Verwiesenheit auf ein Anderes, an das sie sich halten könnten, wenn es ihnen denn erlaubte, an ihm – und sei’s unter der Vorgabe der Selbigkeit oder der Selbstheit – einen definiten und definitorischen Halt zu finden. Dass Gerechtigkeit Sprache ist, besagt, dass sie jeweils gesprochen, auf Sprache angewiesen und derart selbst eine Verweisung ist, noch bevor sie in der Sprache das Ziel ihrer Verweisung erreicht. Es besagt: Gerechtigkeit ist ein Signifikant, und zwar ein solcher, dessen Signifikat in nichts anderem als in diesem Signifizieren beruht. Sie ist, diese Gerechtigkeit, Verweisung auf das Verweisen selbst. Rückt die Sprache in die Position der Gerechtigkeit, so wird an ihr das Skandalon ihrer Verwiesenheit nicht weniger deutlich, dass sie – und zwar sie, die Sprache überhaupt und nicht erst ihre einzelnen Elemente – Signifikat ist, Verweisung und Anweisung, also Angewiesenheit auf Anderes, als sie ist. Sie erst gibt, was sie nicht hat, und sie gibt, indem sie verweist auf das, was sie selbst nicht ist. Ihr Sein hat also den Sinn der Übergabe, es ist Über- und Hinübersein, Transitivität, die hinausgeht auf das, was unter dem Namen der Gerechtigkeit, seinerseits nichts anderes als eben diese Transitivität, schiere Verweisung sein kann. Wenn es Sprache gibt, dann jeweils zunächst als Verweisung auf das Verweisen; wenn Gerechtigkeit, dann als das, was gibt, dass es etwas gibt – das Geben, das Glück –, weil es es selbst nicht gibt. Gerechtigkeit ist Sprache, weil sie gibt, dass es etwas überhaupt geben kann, ohne dass sie selbst dieses Etwas gäbe. Sie ist also – und deshalb ist sie Sprache und deshalb noch vor dem Sein und jenseits des Seins eines Seienden – außerhalb des Seins. Niemand könnte sagen, dass sie ist; aber niemand bestreiten, dass (es) sie gibt.
Die Implikationen des Axioms, dass Gerechtigkeit Sprache ist, lassen sich am besten ermessen, wenn es dort aufgesucht wird, wo es zum ersten Mal dargelegt wurde. Dort ist es in einem anderen Idiom, weniger bestimmt, aber genauer bestimmbar, in dem Satz zu fassen: Díke ist logos. Der einschlägige Text des Aristoteles – der Schluss der Einleitung zu seiner »Politeia«, 1253a – enthält nicht diese, sondern die andere Formel: dass díke Entscheidung sei, lässt aber keinen Zweifel daran, dass diese Entscheidung – krísis – nicht anders als sprachlich verfasst sein kann. In dieser definitorischen Bestimmung kulminiert die Darlegung der Identität von Miteinanderleben und Miteinanderreden, von polis und logos, und die Charakterisierung des Lebewesens, das wesentlich als Gemeinschaftswesen, als zoon politikón, existiert und sich, in eins damit, durch Sprache auszeichnet, als zoon logon echon. Nur als sprechendes und mit Anderen sprechendes Lebewesen ist der Mensch ein Wesen, das in einer Gemeinschaft mit Anderen lebt, deshalb ist das Leben des Menschen jeweils sprachliches und plurales Leben zugleich; es ist Leben vermöge der Sprache und in ihrem Horizont und ist mit Anderen geteiltes, weil ihnen und von ihnen mitgeteiltes, mit ihnen zusammen offengelegtes und mit ihnen gemeinsam – ob im Streit oder im Frieden – ersprochenes Leben. Der Mensch ist nicht ein Gemeinschafts-, er ist ein Sprachgemeinschaftswesen, und sein Leben ist, anders als jedes andere, ein Leben aus Sprache.
Für Aristoteles unterscheidet er sich von den ihm zunächst verwandten Lebewesen, den Tieren, dadurch, dass er zu einer sprachlichen und gesellschaftlichen Synthesis fähig ist, die das bloß gegebene und vorfindliche Leben nicht bloß erhält, sondern es mit dem zusammenführt, was ihm zugutekommt und zu einem guten Leben macht. Während die Tiere, welche in Herden, Scharen und Schwärmen zusammenleben, nur durch die phoné, die stimmliche Verlautung, ihren Schmerz und ihre Lust einander anzeigen (semaínein allélois), ist der logos, die Sprache, über die allein Menschen verfügen, dazu bestimmt, das ihnen Zuträgliche und Schädliche offenzulegen: ho dè lógos epi tou deloun esti to symphéron kai to blaberón (1253a15). Der logos, von dem in dieser entscheidenden, doch selten beachteten Charakterisierung der menschlichen Sprache die Rede ist, ist logos delotikós, offenlegende, klarstellende und deutlich machende Mitteilung an Andere, in der sichtbar wird, was dem Leben in der Gemeinschaft und dem Leben der Gemeinschaft selbst zuträglich (symphéron) und was verderblich und sogar tödlich (blaberón) ist. Erst in der Sprache also wird etwas offenbar und kenntlich, das nicht auf isolierte Einzelwahrnehmungen beschränkt ist, sondern auf Wahrnehmungs- und somit Lebenszusammenhänge umgreift. Zeigt die Mitteilung in Tiergruppen bloß an, dass dem Leben etwas widerfährt, so bekundet die Sprache darüber hinaus, was ihm widerfährt und was daran von der Art ist, dass es auf seine Verbesserung oder Verschlechterung hinwirkt. Im Unterschied zur Kommunikation unter Tieren, die bloße Reizwahrnehmungen signalisiert, legt die Sprache, und zwar ausschließlich die menschliche, demnach Wahrnehmungen offen, in denen das gemeinschaftliche Leben in ein Verhältnis zu sich als einem anderen, entweder gesteigerten und erweiterten oder verminderten und beschädigten Leben tritt, in dem es also nicht bloß Leben, sondern Lebensbewegung, und nicht bloß erlittene, sondern bedachte, frei gewählte und bewusst regulierte Lebensbewegung ist. Wirkt die animalische Stimme bloß als Informantin über das Befinden in einzelnen Lebensmomenten, so fasst die Sprache solche Momente zu Lebenskomplexen zusammen und bezieht sie auf die Möglichkeiten des Lebens insgesamt, es selbst zu bleiben, sich zu intensivieren oder zu verfallen. Die Sprache informiert nicht über das Leben, sondern bildet es zu einem sprachlich bestimmten, von der Sprache erfassten und von ihr geleiteten Leben aus. Sie ist nicht Information über Lebenszustände, sondern Formierung der Lebensbewegung überhaupt. Sie ist für Aristoteles somit dasjenige ausgezeichnete Verhältnis, in dem extreme Verhältnisse des Lebens zu sich selbst und zu seinem Verschwinden offengelegt, und zwar in der Weise offengelegt werden, dass damit zugleich die Entscheidung über diese Lebensverhältnisse freigestellt wird. Sie bezeichnet also nie bloß ein Verhältnis zwischen Lebensverhältnissen, ohne zugleich ein solches zu diesen Verhältnissen zu bezeichnen. Sie ist das gesellschaftliche Leben selbst, aber zugleich im Abstand zu ihm und zu sich immer auch eine solche Freigabe des Miteinanderlebens und Miteinanderredens, die ihm die Wahl und die Verwerfung dieses Lebens und Redens ermöglicht. Offenlegung und Freistellung des Miteinanderseins in der Sprache geht der logos delotikós über den bloßen Bestand von Leben und Reden jeweils hinaus und bietet deshalb die einzige Instanz, die dem gemeinschaftlichen Leben nicht nur einen Zugang zu sich, sondern eine freie Entscheidung für oder gegen sich gewährt. Sprache bildet für Aristoteles demnach dasjenige Selbstverhältnis eines Seins mit Anderen aus, in dem es sich selbst sowohl treffen wie auch verfehlen kann.
Dass der Mensch zugleich durch sein Leben mit Anderen und durch Sprache ausgezeichnet sei, diese kanonisch gewordene Definition ist nur eine unzureichende formale Charakteristik seines Wesens. Sie wird von Aristoteles präzisiert durch die nähere Bestimmung, dass die Sprache und das von ihr strukturierte Leben des Menschen ihn befähigt, in ein Verhältnis zu dieser Sprache und zu diesem Leben zu treten, dieses Selbstverhältnis offenzulegen und es in eins damit seiner Wahl und seiner Entscheidung freizustellen. Wenn die Gemeinschaft, wie Aristoteles erklärt, um des Lebens (zen) willen entsteht, so erhält sie sich und hat Bestand allein um des guten Lebens (eu zen) willen (1252b30). Vom bloßen Leben (zen mónon) hebt sich das gute als dasjenige Leben ab, das durch eigene Entscheidung gewähltes (zen katà prohaíresin), von ihm selbst bestimmtes, in ihm selbst begründetes, durch es selbst geleitetes: autarkes Leben ist (1280a31; 1280b34). Gut, und das heißt vollkommen, ist das Miteinanderleben und Miteinanderreden allein als solches Leben-Reden, das sich als...