Vorwort
Götterdämmerung im »Großen Haus«
Das ab 1959 als Sitz des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) genutzte Gebäude am Werderschen Markt in Ostberlin wurde zu DDR-Zeiten ehrfürchtig das »Große Haus« genannt. Eine solche Bezeichnung ist sonst eigentlich nur für Theater mit mehreren Spielstätten üblich. So wie man dort aufmerksam verfolgt, was sich auf der Bühne hinter den Mauern tut, so war es im Gegensatz dazu im »Großen Haus«, der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, streng geheim, obwohl von dort aus das ganze Land gesteuert wurde. Trotzdem verstand das DDR-Volk auch die verklausulierten Botschaften, die nach draußen drangen. Als das Zentralorgan der SED Neues Deutschland am 19. Oktober 1989 darüber »informierte«, dass SED-Generalsekretär Erich Honecker einen Tag zuvor wegen seines angegriffenen Gesundheitszustands »bat«, von allen seinen Funktionen entbunden zu werden, wusste jeder, was tatsächlich dahintersteckte.
Ob die Krankheit des 77-jährigen Erich Honecker möglicherweise so ansteckend war, dass sein Wirtschaftslenker Günter Mittag (63) und der Propagandachef Joachim Herrmann (61) gleich mitgehen mussten, eruierte Neues Deutschland erst gar nicht. Ebenso wenig wie die kaum Hoffnung machende Tatsache, dass die »neue« Führung der SED auch nach dem 18. Oktober 1989 ein »Club alter Herren« blieb. Frauen waren im obersten Führungszirkel, dem Politbüro des ZK der SED, ohnehin nicht vertreten. Senior Erich Mielke war nunmehr 81, Junior Egon Krenz, als mit großem Abstand jüngster Spitzenfunktionär, 52 Jahre alt. Das Durchschnittsalter im Politbüro betrug damals 67,3 Jahre und lag damit kräftig über dem DDR-Renteneintrittsalter von 65 Jahren für Männer.
Dementsprechend ruhig ging es bei den Sitzungen im »Großen Haus« zu. In der DDR trug das frühere Reichsbankgebäude die Adresse »Haus des Zentralkomitees am Marx-Engels-Platz, 1020 Berlin« und war das größte Bürohaus Ostberlins. Günter Schabowski, damals 60, erinnerte sich an die Sitzungen des Politbüros: »Es war die Atmosphäre eines Klassenzimmers. Wer etwas sagen wollte, meldete sich, und manchmal nickte der eine oder andere auch schon mal ein.«
Das änderte sich nun im Herbst 1989 schlagartig. Noch am Tag des Sturzes von Erich Honecker waren im Zentralkomitee, dem erweiterten Führungszirkel der Partei, ganz neue Töne zu hören. Sie zeigten die Götterdämmerung als Angst um den Verlust der Macht. »Wir haben keine Minute mehr Zeit«, mahnte Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann (60): »Uns steht das Wasser bis hierher. Wir stehen vor neuen gewaltigen Demonstrationen, die der Feind organisiert. (…) Wenn wir jetzt, wenn auch verspätet, uns nicht zu Wort melden, dann sind wir in der Gefahr, dass wir das Wort nicht mehr bekommen.«
Bauminister Wolfgang Junker (60) kam gerade aufgeregt aus Leipzig zurück. Dort hatte er sich anhören müssen, wie die Stadt verrottete. Bitter beklagte er: »… ja, die Stadt zerfällt, was ja nicht wahr ist, es sind Teile der Stadt. Da werde ich als Idiot hingestellt. Was soll das alles? Wenn ich ein Idiot bin, muss die Partei darüber befinden.«
Das tat sie nicht, denn andere Probleme drängten. Der geschmähte Minister eilte einige Tage später zu seinem Vertrauten Alexander Schalck-Golodkowski (57) und versuchte, ihn zur gemeinsamen Flucht nach Moskau zu überreden: »Alex, es ist alles aus. Krenz hat keine Macht mehr. Die werden uns alle aufhängen!« Auch der immer noch mächtige Staatssekretär im Außenhandelsministerium geriet mehr und mehr in Panik: »Irgendwann sagte ich zu meiner Frau: ›Es ist alles aus. Ich kann mich nur noch erschießen.‹« Sie reagierte sofort und schloss die persönliche Pistole ihres Mannes ein.
Sich um derartige Befindlichkeiten Einzelner zu kümmern, stand auf keiner Tagesordnung. Es ging um den Versuch, politisch zu überleben. Sorgen ums Geld gab es dabei nicht, denn die Kassen der Partei waren prall gefüllt.
Deshalb diskutierte im Zentralkomitee auch niemand darüber, als wenige Tage nach dem Sturz Erich Honeckers das Gerücht kursierte, er sei in Wirklichkeit ein schwerreicher Mann mit geheimen Konten in der Schweiz gewesen. In seinem Fall basierte es auf einem Telegramm aus Genf. Am 24. Oktober 1989 ging es bei der Ostberliner Staatsanwaltschaft ein. Die Botschaft lautete:
teletex message ttx d
24.10.89
betr.: ihr nummernkonto 738654 saldenbestaetigung
sehr geehrter herr honecker.
bestaetigen hiermit den saldo ihres kontos zum 18.10.89, 24 uhr:
schweizer franken 367.534.192,12 in worten
dreihundertsiebenundsechzigmillionen, fünfhundertvierunddreißigtausend 192 franken und 12 rappen.
soll der betrag weiterhin als tagesgeld angelegt bleiben oder planen sie den transfer zu einer anderen bank???
wir bitten um diesbezuegliche nachricht.
hochachtungsvoll
s. suessli verwaltungsrat
chredit suisse et rhône
genf schweiz
Offenbar wurde das Telegramm auch anderswo lanciert. Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher: »Diese Unterlagen sind an den verschiedenen Stellen aufgetaucht, unter anderem erinnere ich mich, dass wir ein Exemplar unter den Unterlagen von Herrn Mittag hatten und noch bei mindestens zwei weiteren Politbüromitgliedern in der Wohnung gefunden haben.«
Wie gesagt: In den hektischen Diskussionen im Zentralkomitee der SED spielte das Gerücht um das viele Geld keine Rolle.
Am 8. November stand die nächste große Tagung an. Eine neue »Reiseregelung« sollte den Druck aus dem Kessel nehmen. Günter Schabowski verkündete sie am Abend des 9. November eher nebenbei. Er hatte die Sperrfrist für die Nachricht übersehen.
Verteidigungsminister Heinz Keßler (69) versuchte, zu retten, was nicht mehr zu retten war. Während Zehntausende einen ersten Blick hinter die Mauer warfen, verkündete er: »Es wird vorgeschlagen etwa, das Grenzgebiet an der Staatsgrenze zur BRD von gegenwärtig fünf Kilometer auf 500 Meter bis maximal 1.000 Meter zu verringern. Dadurch würden circa 450 Ortschaften mit 170.000 Einwohnern aus dem Grenzgebiet herausgelöst werden.« Im »Sperrgebiet« stauten sich derweil die Trabis.
Andere, wie der ZK-Abteilungsleiter für Planung und Finanzen, Günter Ehrensperger (58), träumten nicht mehr von den alten Zeiten, sondern redeten Klartext: »Wenn man mit einem Satz die Sache charakterisieren will, warum wir heute in dieser Situation sind, dann muss man ganz sachlich sagen, dass wir mindestens seit 1973 Jahr für Jahr über unsere Verhältnisse gelebt haben und uns etwas vorgemacht haben. Es wurden Schulden mit neuen Schulden bezahlt … Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart arbeiten und weniger verbrauchen, als wir produzieren.«
Von einer selbstverschuldeten Misere wollte Chefideologe Kurt Hager (77) nichts wissen. Er machte am 10. November den Feind in Bonn als Schuldigen aus: »Wem das noch nicht klar ist, der hätte das vielleicht heute Nacht erkennen können, als der Bundestag geschlossen das Deutschlandlied sang und damit offenkundig wurde, welche Pläne realisiert worden sind und was noch beabsichtigt ist. Es ist beabsichtigt, mit unserer Partei Schluss zu machen, und es ist beabsichtigt, die DDR zumindest in eine große Abhängigkeit zu bringen.«
Seinen Anteil an dieser Entwicklung sah er eher milde: »Ich muss auch sagen, dass ich ganz offensichtlich immer weiter mich entfernt habe vom tatsächlichen, realen täglichen Leben, von dem, was in den Betrieben oder in den Kaufhallen oder sonst wo vor sich ging.«
Für den neuen SED-Chef Egon Krenz blieb hingegen keine Zeit zur Rückbesinnung. Am Morgen des 10. November hatte er die Sitzung mit einer Warnung eröffnet: »Ich weiß nicht, ob wir alle noch nicht den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet.«
Von »Panik und Chaos« war nun die Rede, und Egon Krenz konstatierte: »Die Lage hat sich in der Hauptstadt, in Suhl und in anderen Städten äußerst zugespitzt. Arbeiter verlassen Betriebe …«
Drei Tage später, am 13. November, kündigten sämtliche DDR-Parteien in der Volkskammer der SED die Gefolgschaft auf. Erich Mielke sprach seine berühmten Worte von der Liebe zu allen Menschen, die er stets gepflegt habe, und wurde öffentlich ausgelacht. Ab 13 Uhr ging es im Zentralkomitee weiter.
ZK-Kandidat Siegfried Funke, bislang nur einer der mehr als 200 Statisten im Zentralkomitee, berichtete Erschreckendes: »Zurzeit werden draußen in den Betrieben Parteisekretäre reihenweise abgeschlachtet. Sie müssen sich gerade bekennen für das, was das Politbüro getan hat.« Das stimmte zwar nicht, aber dem einen oder anderen jagte es schon einen gehörigen Schrecken ein.
Hans Modrow, damals 61 Jahre alt, SED-Chef im Bezirk Dresden und gerade zum neuen Ministerpräsidenten gekürt, machte sich Gedanken über die nächsten Wahlen. Sie sollten möglichst verzögert werden: »Wenn wir gegenwärtig Wahlen machen, können wir uns alle ausrechnen, wie hoch der Prozentsatz für die SED sein wird. Das können sich auch die anderen Parteien ausrechnen, wie sie aussehen …«
Es war allerhand in Bewegung geraten, und es waren nicht nur die Zehntausende, die täglich die DDR verließen. Am 16. November versprach Neues Deutschland auf Seite eins: Wir »haben die Ursachen der ernsten Mängel zu analysieren versucht und einen Standpunkt erarbeitet, wie wir...