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Einführung Der Tod: Eine Tragödie?
In der Medizin gibt es eine Regel, die ist sehr einfach und so grausam zugleich. Wenn ein Mensch tot ist, erkennen das Angehörige sofort. Eltern, Partner, Geschwister, alle sehen sie auf den ersten Blick, wenn etwas nicht stimmt. Wenn etwas nicht stimmt, man sagt das so einfach. Ein toter Mensch, frisch gestorben, die Kleidung noch warm, das Herz schon kalt, ist nicht blau, wie man es aus Filmen kennt. Das Gesicht ist grau. Ein Grau ist das, das es sonst nirgendwo gibt, kein Stein, kein Himmel, kein Beton hat dieses Grau. Es ist ein Grau aus Wachs, ein Grau des Abschieds, ein furchtbares Grau.
Und während Rettungskräfte und Notärzte lernen, sich nicht sofort zu sicher zu sein, dass ein Patient tatsächlich tot ist, wird sich dieses Grau in deine Gedanken fressen. Obwohl die allermeisten Menschen es noch nie bei einem Toten gesehen haben, spüren sie: Dieses Grau ist für immer. Vorbei, das war’s, adieu.
Sterben lernen.
Man kennt Leichen aus dem Fernsehen, klar, aber ein Mensch direkt vor dir, den das Leben verlassen hat, sieht anders aus. Es ist dieses Grau, das du nicht vergessen wirst, es brennt sich ein.
Eigentlich ist es verrückt, fast schon anmaßend. Ich meine, was zur Hölle soll ich als junger Mensch, als Journalist von Anfang 30, über das Sterben sagen? Die Lektorin und ich sitzen an einem eiskalten Januartag in einem Münchner Wirtshaus an einem speckigen Holztisch, zweimal Pfefferminztee bitte, draußen minus vier Grad, und beugen uns über Papier: Ein Buch über das Sterben soll es werden, ok? Ein waches Buch, kein langweiliges Buch. Ein nahes Buch, kein Fachaufsatz. Hmm.
Der Tod hat mich immer begleitet, als Sanitäter auf der Straße, als Medizinstudent im Leichenkeller, als Journalist in meinen Texten, oft in meinem Kopf. Mich fasziniert das Sterben in gewisser Hinsicht, denn es ist ein erstaunliches Programm des Körpers, das wir alle in uns tragen. Meine Zeit als Praktikant auf einer Palliativstation: beeindruckend. Das Gefühl, einen Menschen erfolgreich wiederbelebt zu haben, mit den eigenen Händen: überwältigend. Die Erfahrung, eine Leiche aufzuschneiden: prägend. Aber ein Buch darüber schreiben, kann ich das? Kann ich das? Ausgerechnet in einer Zeit, in der dann ganz nah bei mir neues Leben entsteht? Ich lese Fachartikel über den Tod, während meine Tochter, keine drei Wochen alt, auf meinem Schoß schläft. Es ist absurd.
Was, bitte schön, berechtigt mich, Erkenntnisse und Ratschläge zum Sterben auf Papier zu bringen? Gute Frage. Antwort: Nichts. Oder? Und dann auch noch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zu duzen? Das macht Ihre Ärztin doch auch nicht. Ich glaube allerdings, dass wir uns duzen können, denn wir sprechen jetzt über den Tod, und das ist genug Grenzüberschreitung, genug Intimität. Blut, Speichel, Stuhlgang, Urin, da ist oft keine Zeit für ein »Sie«. Und das braucht es auch nicht. Der Tod kommt uns allen, dir, mir, jeden Tag näher, und wenn jemand stirbt, dann geht einem das meist unglaublich nah, darum »du« und nicht »Sie«. Das macht die Vorstellung vom Sterben leichter, vielleicht auch den Anblick einer Leiche.
Der erste Tote meines Lebens sieht, ein Glück, ganz friedlich aus. Kein Schwerverletzter, kein Blut, nur Schlaf. Es passiert ausgerechnet in meiner ersten Nachtschicht als Rettungssanitäter. Ich komme frisch von der Ausbildung und soll lernen, wie die Dinge im echten Leben laufen, nachts, in der Großstadt. Wir sind zu dritt auf einer Rettungswache am Stadtrand stationiert, es riecht nach Motoröl und Käsefüßen. Ich schlafe auf dem Sofa, als der Alarm losgeht. Es ist drei oder vier Uhr in der Nacht, und meine Schnürsenkel wollen sich partout nicht zu Knoten zusammenfinden. Wir fahren lange durch die Dunkelheit, die Hauswände schießen das Blaulicht zurück auf den Wagen, bis wir endlich ankommen, weit draußen, die Rückseiten der Häuser schauen auf Felder. Uns öffnet eine Frau, sicher über 70 Jahre alt. Ihren Name sage ich hier nicht, denn ich konnte sie damals nicht fragen, ob sie mit ihrer Geschichte in diesem Buch erscheinen möchte. Überhaupt habe ich in diesem Buch manche Details verändert, um die Privatsphäre von Menschen zu schützen, habe ich die Namen aller Patienten und Angehörigen variiert oder abgekürzt, denn die Schweigepflicht gilt auch über den Tod hinaus.
Die Frau öffnet also die Tür, lässt uns in ihr Leben, die Wände von Holz verkleidet, 40 Jahre Ehe, die Luft hier steht schon lange. Sie trägt eine Schürze über ihrem Nachthemd, was bitte sollte sie auch anderes tragen, morgens um halb fünf? Im Schlafzimmer ist ihre Decke aufgeschlagen, ihr Mann liegt daneben, rechte Seite, die Matratze noch warm, jetzt also fünf Männer darum: der Notarzt, drei Sanitäter und ich.
Wir hätten alle gerne dieses Zimmer wieder verlassen und für die Frau den Pfarrer gerufen, den sie sich so sehr herbeiwünschte. Angst im Zimmer, Angst vor uns, Angst vor unseren schweren Alukoffern, den schwarzen Stiefeln, den roten Jacken. Tragbare Beatmungsmaschine, Medikamente, Blaulicht. Angst vor dem Tod.
Wir reißen den Mann zu viert aus dem Bett, Reanimation auf altem Teppich, die Frau steht im Türrahmen und weint. Wir hängen ein Kreuz von der Wand ab, um an den Nägeln in der Tapete Infusionen zu befestigen. 10 Milligramm Adrenalin, zwei Zugänge, drücken, drücken, hundertmal in der Minute, im inneren Ohr laufen die Bee Gees, »Stayin’ Alive«, immer schön den Takt halten.
Nach einer Dreiviertelstunde kommt endlich der Pfarrer. Wir ziehen den Tubus aus dem Mund des Mannes, die Zugänge aus den Venen. Wozu das Ganze, wozu diese unnötige Qual für den Patienten, dessen Herz nach 70 Jahren einfach nicht mehr schlagen wollte? Wozu die unnötige Qual seiner Frau, wozu diese Tragödie?
Es muss nicht immer so schwierig sein.
Wenn du stirbst, ist das immer ein Abschied, mal von Erleichterung begleitet, weil das Leid endlich ein Ende hat. Mal von Schmerz, weil Abschiednehmen grausam ist. Sterben gehört zum Leben, das ist eine banale Weisheit, aber niemand weiß so richtig etwas mit ihr anzufangen.
Dieses Buch erzählt eine andere Geschichte vom Sterben. Es erzählt von der Frage, ob der Tod wirklich immer eine Tragödie sein muss. Drei Patienten und ihre Geschichten werden dich in diesem Buch begleiten. Alle drei Geschichten haben mit Krebs zu tun. Das ist blöd, denn man stirbt auch beim Fahrradfahren, an einer Lungenentzündung oder durch das Schwinden der Lebenskräfte. Andererseits ist Krebs eine Krankheit, die viele Menschen trifft, und zwar ins Mark. Für Krebs braucht es Zeit, Zeit, die Diagnose zu verdauen, Zeit zu trauern, Zeit, sich vorzubereiten und zu akzeptieren, dass du sterben wirst. Zeit, dich mit dem Tod zu beschäftigen, Zeit zu verstehen, was Sterben bedeutet. Genau diese Zeit nehmen wir uns, deshalb drei Geschichten über Krebs in diesem Buch, die stellvertretend stehen für den Prozess, sich mit dem Tod vertraut zu machen. Die Natur sieht den Tod vor, der Tod ist wie ein Berg am Ende jedes Weges. Man kann den Berg nicht sprengen, aber kann man ihn erklimmen?
Für Simon ist diese Frage wichtig, denn Simons Geschichte in diesem Buch beginnt genau damit, dass er auf einen Berg hinauf will, eine Wanderung zum Gipfel, als er zu taumeln beginnt. Seither geht er auf einem rutschigen Pfad, und niemand weiß, wann es passieren, leider nur, dass es passieren wird. Der Tumor in seinem Kopf ist nicht zu heilen, und Simon damals wie heute noch ein Kind. Das ist schrecklich. Aber wenn es um die Frage geht, wie du stirbst, dann hast du dennoch eine Chance: Du kannst — und sei es in ganz kleinen Schritten — zum Gestalter deiner Geschichte werden. Wenigstens ein bisschen, Simon zeigt dir das.
Bitte nicht falsch verstehen: Sterben ist schlimm, und viele Menschen leiden fürchterlich. Menschen erbrechen, sind immer müde und schlafen doch nicht. Menschen wie Herr Moos, den du noch besser kennenlernen wirst. Herr Moos kämpft gegen das alles an. Es ist eine Einsamkeit in ihm, die ist kalt und fürchterlich, und Herr Moos hat Krämpfe und Ängste, hat Durchfall und dann wieder Verstopfung. Sterben ist scheiße, es ist einfach so, Sterben ist eine Tragödie.
Sterben ist aber auch schlicht, und Sterben ist privat, so privat, dass Frau B., Mitte 50, nur schwer darüber sprechen kann, wie es ist, wenn der eine geht und der andere bleibt. Man kann nicht immer gut sterben, sagt Frau B., die ihren Mann in den Tod begleitet hat, aber man kann oft ein kleines bisschen besser sterben. Und genau darum geht es in diesem Buch: dass das Sterben ein Stückchen leichter werden kann, wenn du ein paar Dinge im Kopf hast, die etwa Frau B. nicht wusste...