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E-Book

Strindberg

Ein Leben

AutorPer Olov Enquist
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641081355
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Die große Strindberg-Biografie von Per Olov Enquist
August Strindberg (1849-1912) gilt als einer der wichtigsten schwedischen Autoren der Neuzeit. Der Dramatiker, der zugleich Lyriker, Romancier und Essayist war, beeinflusste nachhaltig die Literatur der Moderne und provozierte auch mit seinem Privatleben. Per Olov Enquist, einer der renommiertesten Autoren des zeitgenössischen Schweden, verwebt in seiner einzigartigen Biografie über Strindberg das private Leben des Schriftstellers mit seinen Werken und eröffnet so einen ganz neuen Blickwinkel auf das Leben des berühmten Dramatikers.

Per Olov Enquist, geboren 1934 in Schweden, arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und zählt heute zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Europas. Unter anderem wurde er mit dem renommiertesten Literaturpreis Schwedens, dem August-Preis, ausgezeichnet. Enquist lebt in Stockholm.

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Leseprobe

I


Der Sittenschilderer


Zuerst alles weiß; nichts als weiß. Nur eine langsam tröpfelnde Melodie, ein Hammerklavier, ein kleines Lied. »Adieu, Mignon, Courage«. Eine Gestalt tritt langsam aus dem Weiß hervor: kleine Bleistiftstriche, graue Schattierungen, ein Gesicht. Ein Mann in Hut und Mantel. Es ist Winter, es schneit. Ein Mann, der durch den Schnee geht, wir sehen es immer deutlicher. Wir erkennen ihn: August Strindberg, wie auf der berühmten letzten Fotografie, beim Spaziergang im Schneetreiben auf der Drottninggatan.

Er ist alt. Sein Gesicht hat manchen Schlag abbekommen. Am eindringlichsten die Augen: furchtsam, aggressiv, hell. Doch, er hat einiges mitgemacht.

 

Er geht durch den Schnee, ins Theater hinein. Er sitzt unten im Zuschauerraum, der nahezu leer ist. Oben auf der Bühne wird Ein Traumspiel geprobt. Es ist das Schwedische Theater in Stockholm.

Er ist nicht allein: Neben ihm sitzt der Regisseur, Herr Castegren. Herr Castegren ist ein nervöser kleiner Mann mit großen, unbegreiflichen Gesten und einem hektisch zuckenden Gesicht. Er redet zuviel. Offenbar ist er auch ein bisschen besorgt, ob der große Dichter womöglich nicht zufrieden sein könnte.

»Herr Strindberg«, flüsterte er, »wir konnten leider! leider! die Lichtbildapparate aus Dresden nicht verwenden … und daher … und daher …«

Strindberg schweigt gequält und verfolgt hartnäckig das Spiel auf der Bühne. Indras Tochter wandert unter den Kindern der Welt umher, das Leben ist Schmutz, alles ist Schmutz. Er schweigt, doch Herr Castegren flüstert nervös weiter: Ref. 1

»Gefällt Ihnen das Bühnenbild, Herr Strindberg … der Theatermaler Grabow hat versucht, diesen Traumcharakter zu gestalten … aber es ist ein schwieriges Stück, Herr Strindberg, schwierig … sehr schwierig …«

Dort oben auf der Bühne holpert die Probe weiter, der Offizier sagt Wenn man mich aber doch ungerecht behandelt. Und die Mutter sagt Du spielst auf das eine Mal an, als du zu Unrecht bestraft wurdest, weil du angeblich einen Groschen genommen hattest, der sich später wiederfand! Und der Offizier antwortet Ja! Und diese Ungerechtigkeit gab meinem ganzen Leben eine verkehrte Richtung… Es klingt nicht besonders gut.

Herr Castegren schielt unruhig zur Seite, flüstert weiter monoton:

… schwierig … ein schwieriges Stück …«

Es zuckt in Strindbergs Gesicht. Er sagt leise, beinahe feindselig:

»Das Kind meines größten Schmerzes, Herr Castegren.«

»Selbstverständlich, Herr Strindberg. Selbstverständlich.«

Es ist, als höre Strindberg ihn nicht. Er sagt leise, wie zu sich selbst:

»Mir ist … als hätte dies nie gespielt werden dürfen. Es ist vermessen. Eine Lästerung. Es ist doch… mein ganzes Leben.«

»Ihr Leben, Herr Strindberg?«

Auf der Bühne steht der Offizier jetzt vor einer Tür. Die Tür ist mattgrün, und ein Luftloch in Form eines vierblättrigen Kleeblatts ist hineingeschnitten. Herr Castegren schwitzt jetzt, er flüstert:

»Wir haben es genau nach Ihren Angaben gemacht, Herr Strindberg, ein vierblättriges Kleeblatt an der Tür. Da es so wichtig war …«

Er verstummt, starrt Strindberg an und fragt schließlich, wie unter Zwang:

»Warum … war es so wichtig?«

Keine Antwort. Aber da oben sagt der Offizier:

Und diese Tür habe ich zweitausendfünfhundertfünfundfünfzigmal angesehen, ohne herauszufinden, wohin sie führt! Und dieses Kleeblatt, das Licht hereinlassen soll … Ist jemand da drinnen? Wohnt da jemand? … Diese Tür, die mir keine Ruhe lässt … was ist dahinter? Die Tür muss geöffnet werden.

Langsam, fast unbewusst, erhebt sich Strindberg. Sein Gesicht ist angespannt. Den Blick auf die Tür mit dem vierblättrigen Kleeblatt gerichtet, flüstert er leise, fast wie ein Zischen zwischen halb geschlossenen Lippen:

»Nein!«

Und dann:

»Mein Leben.«

 

Hinter dem vierblättrigen Kleeblatt – ein Zimmer voller Gegenstände. Tisch, Kerzenleuchter, Stuhl, ein Bild an der Wand, Lampe, Sofa: ein Wohnzimmer in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Wohnung ist nicht groß, doch recht komfortabel. Alles, was zur üblichen Einrichtung gehört, ist vorhanden.

Das Gesicht eines Jungen. Er ist etwa dreizehn Jahre alt, dunkles Haar, ernste Augen. Behutsam, konzentriert betastet er ein Ornament: lässt den Finger daran entlanggleiten, in jeden Schnörkel hinein, langsam, fast zärtlich. Es ist das vierblättrige Kleeblatt, eingelassen in die Tür.

Hinter ihm ein Mann, der an einem Tisch sitzt. Der Junge heißt August Strindberg, der Mann ist sein Vater.

Der Finger gleitet um das Ornament herum: Es ist, als suche er nach einer Unregelmäßigkeit oder nach einem Geheimnis. Wonach sucht er wirklich? Der Vater hat den Tisch mit Reagenzgläsern vollgestellt; nein, nicht den ganzen Tisch, rechts liegt ein Kassenbuch, in das er Einträgungen macht. Langsam, methodisch füllt er die Seite mit einer langen Zahlenkolonne. Die Reagenzgläser rührt er nicht an. Dann sagt er, ohne von dem Kassenbuch aufzusehen:

»Geh zu Mama hinein, August.«

Der Junge antwortet nicht. Er scheint es nicht gehört zu haben, oder er will nicht hören. Er geht zum Tisch vor, tippt vorsichtig an einen der Kolben. Darin ein gelber, matt schimmernder Staub. Hingerissen betrachtet er das Pulver.

»Geh zu Mama hinein«, sagt der Vater. »Hast du nicht gehört, was ich sagte?«

Der Junge fragt atemlos:

»Ist das … Gold?«

Der Vater schreibt ruhig weiter, sagt nach einer Weile nachdenklich:

»August … niemand kann Gold machen… schon gar nicht solche Amateurchemiker wie ich. Gold … mein Gott, lernt ihr denn gar nichts in der Schule? Aber du solltest … du solltest… in deiner Freizeit etwas mehr forschen. Die Wissenschaftler werden die großen Männer der neuen Zeit sein. Die neuen Könige. Die Entdeckungsreisenden … die Wissenschaftler … das sind die großen Männer der Zukunft. Wie … wie …«

Er hält inne, der Federhalter stockt, er sieht vor sich hin wie in tiefe Gedanken versunken und fügt hinzu, als spreche er zu sich selbst:

»Die Helden des neunzehnten Jahrhunderts.«

Dann schreibt er weiter. August geht still an ihm vorbei, zur Tür mit dem vierblättrigen Kleeblatt, streckt die Hand nach der Türklinke aus. Hinter seinem Rücken hört er die Stimme des Vaters:

»Du musst jetzt lieb zu Mutter sein, denn sie hat Schmerzen.«

Da öffnet er vorsichtig die Tür mit dem vierblättrigen Kleeblatt.

 

Als der Junge die Tür öffnet, schreckt die Mutter aus dem Schlaf hoch: bleich, hohlwangig, trotzdem irgendwie jung. Sie starrt ihn einen Augenblick mit einem wilden, wirren Blick an, erinnert sich dann plötzlich, wo sie ist, richtet sich mühsam auf, fischt das Gebiss aus dem Glas mit Salzwasser, beugt sich zur Seite, verbirgt hinter der Hand, was sie tut.

Den Rücken hat sie August zugewendet. Mit einer scheuen, hastigen, fast verschämten Gebärde steckt sie das Gebiss in den Mund. Setzt sich vorsichtig auf die Bettkante, sieht ihn an, sagt entschuldigend:

»Ich will nicht, dass du mich ohne sie siehst, kleiner August. Du sollst deine Mutter nicht so hässlich in Erinnerung behalten.«

Er steht still und verlegen vor ihr und weiß nicht, was er sagen soll.

»Mama, solltest du nicht im Bett bleiben?«

»Doch.«

Schweigen.

»August«, sagt sie. »Kleiner August. Irgendwie habe ich nie so recht die Zeit gefunden, mit dir zu reden. Es war doch so viel zu tun, August, aber du warst immer lieb zu mir. Hol den Zettel.«

»Was?«

»Den Zettel! In der Schublade!«

Während er sich vorbeugt, um die Schublade herauszuziehen, setzt sie murmelnd ihren Monolog fort.

»Immer betrügen sie einen, August, du musst mir versprechen, dass du dich nie von ihnen betrügen lässt. Versprich es mir. Und du musst versprechen, ein richtiger Christ zu werden. Du sollst Pfarrer werden, aber kein Heuchler, du musst glauben, was du sagst. Kleiner August. Ich möchte wissen, ob man mich in Onkel Axels Grab legen wird.«

»Mama … du darfst nicht …«

»Die Strindbergs meinten immer, ich sei für ihre Familie nicht fein genug. Aber du schämst dich meiner doch nicht, August. Onkel Axels Grab ist so schön, das mit dem Eisengitter. Hast du den Zettel, kleiner August?«

Der Zettel ist zerknittert. Ihre Schrift ist fahrig, strebt in verschiedene Richtungen, aber sie hat es zweifellos selber geschrieben. Er liest mühsam, während sie nickend jedes Wort zu bestätigen scheint.

»… und den Ring, den ich in die linke untere Schublade vom Schreibtisch gelegt habe, den soll August bekomen, und da ich …«

Er verstummt, er kann nicht mehr. Die Mutter wiegt sich langsam vor und zurück, sagt wie zu sich selbst:

»Wie schade, dass wir nie richtig zum Reden gekommen sind, solange … ich Zeit hatte … den Ring sollst du bekommen. Gib mir ein wenig Wasser, August.«

Der Wassereimer in der Ecke, die Schöpfkelle. Er hält sie ihr an den Mund, sie versucht zu trinken, dann fließt etwas in die Kelle zurück: rot. Er starrt es an wie verhext. Sie sieht ihn an, atmet rasch mit offenem Mund. Hebt die Hand, berührt behutsam seine Wange.

Stille. Völlige Stille. Da kommt der Vater herein, bleibt in der Tür stehen: ein Standbild, ein Schatten. Dann bettet er sie in die Kissen.

...
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