I. Definition der religionswissenschaftlichen
Gegenstandperspektive
Religionswissenschaft ist nach Hock (2006, S. 7) „die empirische, historische und systematische Erforschung von Religion und Religionen“. Heine (2005, S. 16) spezifiziert, dass wenn man von Religionen spricht, die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften gemeint sind wie Judentum, Christentum, Islam oder Buddhismus. „Religion in der Einzahl signalisiert hingegen keinen Außenbezug auf eine bestimmte Gemeinschaft hin, sondern einen Innenbezug wie ‚Religion haben‘ bzw. ‚religiös motiviert‘ sein.“ (Heine, 2005, S. 16)
Der Begriff ‚Religion‘ lässt sich vom lateinischen Ausdruck ‚religio‘ (fromme Scheu, Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht) ableiten. Zinser (2010, S. 12) führt dazu aus, dass Cicero den Begriff wie folgt definiert: „religio id est cultus deorum (‚de natura deorum‘, II, 8). Damit ist ‚religio‘ durch zwei Elemente: die Götter und deren Verehrung bestimmt.“ Der Begriff ‚religio‘ wiederum lässt sich auf zwei mögliche Quellen zurückführen - ‚relegere‘ (sorgfältig beachten, die sorgfältige Verehrung) oder ‚religare‘ (zurückbinden, wiederanbinden). Hock (2006, S. 10) weist darauf hin, dass kürzlich eine dritte Variante vorgeschlagen worden ist, nämlich „rem ligare“, im Sinne von „die Betriebsamkeit ruhen lassen“.1
Zinser (2010, S. 35) schreibt, dass der Begriff der Religion völlig umstritten sei, da sich die Religionswissenschaft „bis heute nicht auf eine Definition verständigen konnte“. Es kommt zunächst darauf an, ob der Begriff der Religion substanzialistisch, also durch den kleinsten gemeinsamen Nenner der Religionen oder funktional, also durch die Frage, welche Funktion die Religion erfüllt, bestimmt wird. Beim Definieren von Religion treten somit die ersten systematischen Probleme auf. Vergrößert man den Umfang des Religionsbegriffs, umfasst er zwar umso mehr Fälle, wird aber auch entsprechend diffuser. Umgekehrt fasst ein genauer definierter Begriff auch weniger Phänomene, die man vielleicht doch als religiös bezeichnen wollte. Dann gibt es noch den Konflikt zwischen der deskriptiven und normativen Definition. Soll die Definition sagen, wie man Religion beschreiben kann, oder soll sie sagen, was Religion sein sollte? Zinser (2010, S. 67) folgert, dass alle Definitionen von Religion scheitern müssen, „da sie eine der Seiten der Religion jeweils zum Kriterium herausheben […]. Damit schließen sie zugleich andere Erscheinungsformen von Religion aus, werden praktisch normativ. Die Begründung für diese Norm entstammt offen oder verdeckt einer Religion oder theologischen Tradition.“
Zudem gibt es das Problem der Übersetzbarkeit. Außereuropäische Sprachen haben oft kein eigenes Wort, keinen Begriff für Religion. Zinser (2010, S. 13) vermerkt, dass es viele Völker gab, „die ihre kulturellen Schöpfungen nicht als Religion bezeichneten und auch kein sprachliches Äquivalent, das ohne Bedeutungsverschiebungen mit Religion übersetzt werden könnte, dafür hatten und haben.“ (vgl. Antes, 2006)
Die Religion kann auf horizontaler Ebene, also von uns aus oder auf vertikaler Ebene, also aus der höheren Sicht verstanden werden. (Van der Leeuw, 1925/1970, S. 778) Das erste entspricht dem verständlichen Erlebnis, das letztere der „nicht mehr verständlichen Offenbarung“. (Van der Leeuw, 1925/1970, S. 778) In beiden Fällen impliziert Religion, dass der Mensch im Leben Macht sucht, um sein Leben zu erhöhen. Entweder versucht er sich der Macht zu bedienen oder sie anzubeten. (vgl. Van der Leeuw, 1925/1970, S. 778) Die Offenbarung ist kein Phänomen und ist weder erfass- noch verstehbar, gerade weil in ihr etwas Fremdartiges wirkt. Rudolf Otto (1869 - 1937) schlug dafür die Wortschöpfung „das Numinose“ vor. (vgl. Van der Leeuw, 1925/1970, S. 780) Aber es gibt auch noch andere Begriffe, die sich dem Fremdartigen annähern wollen. So finden sich in den Religionen die Bezeichnung „das Ganz-Andere“, das Wort „heilig“, das lateinische „sanctus“ sowie der Ausdruck „tabu“. Nach Van der Leeuw (1925/1970, S. 780) „richtet sich die Religion immer auf das Heil (Steigerung des Lebens, Vertiefung; Anm. d. Verf.), nie auf das Leben selbst, wie es gegeben ist“.
Ein weiteres Problem ist der Konflikt zwischen Innenperspektive und Außenperspektive. Hier stellt sich die Frage, ob die Definition des Begriffes ‚Religion‘ besser aus dem jeweils eigenen Glauben heraus vorgenommen werden soll oder von einem distanzierten Betrachter von außen. Ratschow (1973, S. 354) fordert, „daß die Religionswissenschaft einen Forscher verlangt, der selbst um ‚Religion‘ weiß […]. Dies ist die wesentliche Voraussetzung, denn ohne daß der Religionswissenschaftler ein lebendiges Verhältnis zu ‚seinem‘ Gott hat, vermag diese Wissenschaft nicht zu geschehen.“ Stolz (2001, S. 39) plädiert im Gegensatz dazu dafür, dass man in der Religionswissenschaft „neben dem methodischen Zugang zum Phänomen der Religionen, der die eigene Verwurzelung in einer Religion zum methodischen Ausgangspunkt macht“, auch „von Anfang an eine größtmögliche methodische Distanz zum eigenen Standort“ einführt.
Religion wird auch häufig durch die „Beziehung der Menschen zu Gott, Göttern, Geistern, Transzendenz und anderen übermenschlichen Mächten“ bestimmt. (Zinser, 2010, S. 52) Aus religionswissenschaftlicher Sicht sind nach Zinser (2010, S. 37) jedoch alle Definitionen der Religion abzuweisen, „die in ihrer Bestimmung einen Bezug zu Gott, zu Überweltlichem, zu Übermenschlichem, zur Transzendenz, der wissenschaftlichen Erfahrung entzogenen Instanzen oder Ähnlichem enthalten“. Zinser (2010, S. 15) konkretisiert an anderer Stelle, dass „im Unterschied zu Gegenständen der Naturwissenschaften […] Religionen nicht unabhängig vom Menschen, sondern von ihm gemacht und gestaltet“ sind.
Damit schließt Zinser die Transzendenz2 als Gegenstand der Religionswissenschaft aus, weil sie die Empirie und Theorie überschreitet. Zinser (2010, S. 17) formuliert diesen Umstand wie folgt: „Da eine empirische Wissenschaft keine Mittel und Methoden hat, um Transzendentes, Nichtempirisches und Nichttheoretisches zu untersuchen, muß auch die Religionswissenschaft sich auf Geschichtliches und Gesellschaftliches beschränken. Aussagen über Transzendentes werden nicht gemacht, da diese wissenschaftlich in einem strengen Sinne nicht überprüfbar und wiederholbar sind.“
Religion kann zudem ihrem Wesen nach viele Antworten auf Lebensfragen geben und auch von der Sinnfrage3 aus bestimmt werden, da diese den Menschen „angesichts der unausweichlichen Endlichkeit seiner Existenz durch die Zeit hindurch begleitet“. (Neumann, 2010, S. 44) Die Verbindung zwischen Leben und Sinn wird dadurch sowohl als gegenseitige Verweisung wie als Spannungsverhältnis sichtbar. Nach Zinser (2010, S. 23) lässt sich „ein objektiver, absolut gültiger, von den Individuen unabhängiger Sinn des Lebens […] nicht erweisen“, was sich am Beispiel der Medizin erläutern lässt. „Die wissenschaftliche Medizin gibt natürliche Erklärungen der Genese von Krankheiten und bietet vielfach erfolgreiche Therapien an. Eine ‚Erklärung‘ im Zusammenhang des Lebens, etwa als Strafe der Götter für Fehlverhalten und Hybris, kann sie nicht geben. Damit wird Krankheit sinnlos, was das Leiden bei chronischen und hoffnungslosen Fällen subjektiv vergrößern kann. Der Religion wird dann vielfach die Aufgabe überantwortet, einen Sinn zu stiften […].“ (Zinser, 2010, S. 45) Zinser (2010, S. 40f.) wendet zudem ein:
„So verbreitet nun in den Religionen Antworten auf viele Lebensfragen sind, so darf man dies nicht als Definition oder Bestimmung von Religion ansehen. Vielmehr handelt es sich um eine Bestimmung der Aufgaben oder Funktionen von Religionen. Es ist auch nicht gesagt, daß alle Religionen diese Funktion in gleicher Weise übernommen haben. […] Philosophen suchen auch Antworten auf diese Fragen und verstehen ihre Aussagen ebenfalls nicht religiös. […] Wenn man diese Funktionen als Bestimmung von Religion ausgibt, werden alle Menschen für die Religion vereinnahmt, ob sie selber es wollen oder nicht. Es gibt dann nichts mehr, was nicht Religion ist.“
Zu den Funktionen von Religion gehören neben der Kompensationsthese und der Legitimation von Herrschaft und sozialer Ordnung auch „die Stiftung von sozialer Synthesis oder ihr Gegenteil, die Motivation von sozialem Protest“. (Zinser, 2010, S. 46) Die Kompensationsthese beschreibt den Gedanken, „dass viele Menschen im Diesseits ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht befriedigen“ und sich deshalb im Jenseits „einen tröstenden Ersatz, sozusagen als Ausgleich für die Frustrationen und Ungerechtigkeiten im hiesigen Leben“ schaffen. (ebd.) Karl Marx (1844/1974, S. 378f.) schrieb nicht von...