Der Sumpf, aus dem sie stammen
Batman und Superman sind die beiden beliebtesten Protagonisten und kommerziellen Hauptsäulen des Verlags DC. Zusammen nennt das Haus sie gern die Besten der Welt, »World’s Finest«. Sie sind mehr als das, nämlich die beiden Extrema, die zwei Enden des Superhelden-Spektrums überhaupt: Der eine, Batman, ist als Mensch geboren. Er arbeitet sich dank Begabung und mit an Besessenheit grenzendem Fleiß bis in übermenschliche Bereiche des Leistungsvermögens, der Ausdauer und moralischen Statur empor.
Der andere, Superman, ist ein Außerirdischer, dem in unserer Menschenwelt die Eigenschaften eines Halbgotts unerbeten zufallen. Von dem Moment an, da er sie an sich entdeckt, stellen sie ihn vor die Wahl, ob er uns damit helfen oder schaden, ob er uns überhaupt beachten und wie er sich zu anderen Übermenschen verhalten soll, guten wie bösen.
Selbsterschaffen oder vom Himmel gefallen, erworben oder aufgezwungen: Dazwischen fallen alle Segnungen und Lasten, die Superheldinnen und Superhelden von der »Fabrikware der Natur« (Schopenhauer), dem Homo sapiens, den andere Tiere mit Recht fürchten, mehr oder weniger weitreichend unterscheiden.
Auch diejenigen Superheldinnen und Superhelden freilich, die das, was sie sind, auf dem Weg der Selbstermächtigung wurden, haben dabei nicht durchweg aus freien Stücken gehandelt. Batmans Eltern wurden von Kleinkriminellen ermordet, weswegen er später Riesenkriminelle jagt. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen handeln im Zug ihrer Selbsterziehung zu überlebensgroßen Gestalten unter einem ähnlichen Zwang zur Rache oder verarbeiten dabei schlecht und recht irgendeine körperliche oder seelische Verletzung, die ihnen das Schicksal zugefügt hat, vom DC-Superbogenschützen Green Arrow (aus dem Fernsehen inzwischen als »Arrow« geläufig), der nach einem Schiffbruch zum Überleben auf einer menschenfeindlichen Insel genötigt war und dort über sich hinauswachsen musste, bis zum grimmigen Punisher der Marvel-Comics, einem ehemaligen Elitesoldaten, der Frau und Kinder bei einer Drogenbandenkriegsschießerei verlor und sein Leben fortan der Vergeltung weiht. Dabei wird er vom Gesetzlosen (bei seinem ersten Erscheinen in der Marvel-Welt als Gegner von Spider-Man) schließlich zu einer Art herrenlosem Samurai und Ein-Mann-Ausnahmezustand, dessen Methoden das normale Vorgehen der Sicherheitsbehörden ins Maßlose, mitunter Absurde überzeichnen – ganz so, wie die Anatomie der Superheldinnen und Superhelden, von der Muskulatur beider Geschlechter bis zu den Brüsten, Hintern und bestimmten Gesichtsmerkmalen der Frauen, systematisch nach den von Biologie vorgeprägten (und von Kunst wie Werbung ausgenutzten) menschengemäßen Reiz-Reaktions-Schemata überzeichnet ist.
Die erzählerischen Rechtfertigungen dieser Überzeichnungen sind vielfältig. Sie greifen auf alles zu, was im Fundus der mythologisch, wissenschaftlich oder einfach spekulativ ästhetisch genährten Fantasien der Kulturgeschichte vorkommt: Der Hammerwerfer Thor aus den Marvel-Comics ist ein nordischer Gott, sein Verlagskollege Spider-Man wurde von einer radioaktiven Spinne gebissen, Dr. Strange ist ein dank fernöstlicher Mystik erleuchteter ehemaliger Arzt, Iron Man ein genialer Ingenieur und Mechaniker, der Hulk wurde im Gammastrahlenschauer zum kraftstrotzenden Prügelbrocken, die WildC. A. T.s (Wild Covert Action Teams) der Marvel-Konkurrenzfirma Image Comics sind außerirdische Flüchtlinge eines intergalaktischen Krieges, die X-Men dagegen Mutanten, die gemeinsam eine neue Spezies bilden, den »Homo Superior«.
Die Adressen der Superhelden
BATMAN:
c/o Bruce Wayne
Wayne Manor
1007 Mountain Drive, Gotham
AVENGERS:
Avengers Mansion
980 Fifth Avenue, New York
SUPERMAN:
c/o Clark Kent
1938 Sullivan Place, Metropolis
FANTASTIC FOUR:
Baxter Building
42nd St and Madison Avenue, New York
Derlei erzählbare Herleitungen des Übermenschlichen kennt man in der Genre-Fachsprache als »Origin Stories«, Herkunftserzählungen. Weil die Serien, in denen diese Figuren leben, im Erfolgsfall Jahre, ja sogar Jahrzehnte lang weitergehen, werden ihre Herkunftserzählungen immer wieder Überarbeitungen unterzogen, oft in Rückblenden, die nicht selten vollständige Neufassungen darstellen. Das hat nicht nur, aber doch recht häufig kommerzielle Gründe, etwa die über längere Zeiträume veränderte Aufnahmebereitschaft des Publikums für bestimmte Formen von haarsträubendem Quatsch, die dieses Publikum früher oder später als überholt oder aus anderen Gründen unglaubwürdig betrachtet und deshalb lieber durch neuen, zeitgemäßen oder anderweitig glaubhafteren haarsträubenden Quatsch ersetzt sieht.
Nicht immer werden die dabei unvermeidlichen Widersprüche zwischen der bis zum jeweiligen Revisions- und Wendepunkt angesammelten Überlieferung (in Comic-Fansprache: »Continuity«) und den nachfolgenden, neu erfundenen, aber rückwirkend in die Vergangenheit verlegten Begebenheiten (»Retcon«, kurz für »retroactive continuity«) so intelligent aufgelöst wie bei Alan Moore in Saga of the Swamp Thing:
Als man dem Autor die seinerzeit nicht sonderlich populäre Serie anvertraute, hatte der Titelheld bereits zwei Inkarnationen hinter sich, erzählerisch konzipiert von Len Wein, visuell entworfen vom Zeichner Bernie Wrightson. In beiden war das Swamp Thing ursprünglich ein Mensch gewesen, der zunächst »Alex Olsen«, in einer zweiten Origin Story dann »Alec Holland« geheißen hatte. In beiden war dieser Mensch bei einer Explosion mit Material aus der Flora und bizarren biochemischen Agenzien zu einem Mischwesen verschmolzen, einem sogenannten »humanviridischen Hybriden«. Dessen Hauptanliegen war über viele Folgen die Rückverwandlung in eben den Mann, der er zuvor gewesen war und unbedingt wieder sein wollte. Moore jedoch war nicht bereit, diese mit evolutionsmystagogischen Versatzstücken aus alten Horrorfilmen durchsetzte Fabel ernst zu nehmen.
Dass es sich dabei um Fantastik handelte, störte ihn weniger – wer Superheldencomics schreibt und einem grünen Ungeheuer aus Kraut und Rüben am Schreibtisch so etwas wie Leben einhauchen will, ist für Haltungen wie Realismus und Naturalismus ohnehin verloren und lässt sich von Anfang an auf Fantastik ein.
Das Thema, das die beiden »Swamp Thing«-Ursprungserzählungen Alan Moore vorgaben, schien ihm indes zu abgegriffen: »Entmenschte Gestalt ringt um ihre Menschlichkeit«, das ist ein Topos aus der Gruselkiste, in der Genrestandards wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Werwölfe und das Frankensteinmonster wohnen.
Moore war klar, dass die Qualität einer Heldengeschichte nicht zuletzt davon abhängt, ob im jeweiligen Werk ein einleuchtender Grund dafür entwickelt wird, dass die erzählten Handlungen, Erlebnisse und Erleidnisse der Hauptfigur gerade ihr zugerechnet werden und eben nicht irgendeiner anderen, die ihr bloß ähnelt (wie ein Horrortypus dem andern): Wenn man eine Geschichte vom Swamp Thing genauso gut mit einem Werwolf im Mittelpunkt erzählen kann, dann ist es eben keine Gute Swamp-Thing-Geschichte.
Moore überlegte sich also, was für eine Sorte Geschichte eigentlich nach einem überdimensionalen Pflanzenmenschen verlangt. Die Lösung lag Mitte der 1980er Jahre gleichsam auf der Straße, wo eine noch junge Ökologiebewegung gerade ihre ersten Großdemonstrationen abhielt. Beherzt griff Moore nach Situationen, Konflikten und Zuständen, bei denen es um den gestörten Stoffwechsel der menschlichen industriellen Zivilisation mit ihrer Umwelt, ihren natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch allen nicht ins industriell-kapitalistische Entwicklungsschema passenden Zivilisations- und Kulturformen ging.
Den Instant-Ursprungsmythos vom Menschen, der zur Pflanze wurde und nun wieder Mensch werden will, überschrieb Moore so mit einem neuen, in seinem Sinne griffigeren, der die Sache sozusagen vom Kopf auf die Füße, genauer: vom Kopf auf die Wurzeln stellte. Swamp Thing ist bei ihm deshalb kein Mann, der zur Pflanze wurde, sondern eine Pflanze, die durch komplizierte, von Giften und industriell-gentechnischen Substraten katalysierte biochemische Prozesse eine Art Nervensystem ausgebildet hat, das beim Überschreiten einer spezifischen quantitativen Komplexitätsschwelle einen qualitativen Sprung seiner Informationsverarbeitungskapazitäten erlebt.
Das Zufallsgeschöpf wird damit seiner selbst bewusst und hält sich zunächst irrtümlich – das war Moores geniale Einverleibung des schon vorliegenden Quellenmaterials – für einen Menschen, nämlich einen gewissen Alec Holland, der in derselben Sumpfexplosion ums Leben kam, die im Swamp Thing den Funken des Bewusstseins zündete. Kurz: Es hat folglich seinen neu erwachten Geist mangels anderweitiger Anleitung nach den sterbenden, letzten Signalen einer verlöschenden Menschenseele modelliert und dabei deren Selbstidentifikation übernommen.
Wie gesagt: Weniger fantastisch als das, was Wein und Wrightson ihm hinterlassen hatten, war Moores neue Ursprungserzählung nicht. Um aber zu verstehen, wie Moore die Möglichkeiten der Fantastik hier vor allem geschickter beansprucht hat als seine Vorgänger, sollte man sich zunächst klarmachen, was das eigentlich ist, das Fantastische – und dabei einigen beliebten Missverständnissen und zu kurz greifenden Bestimmungen vorbeugen, die als leidiger Ballast auch die Erforschung des fantastischen Subgenres »Superheldengeschichten« oft...