Kinderwelten heute
Unsere Welt hat sich verändert. Wir alle haben zu tun mit der wachsenden Informationsflut, wir müssen unseren Weg finden zwischen all den Nachrichten, Empfehlungen, Werbehinweisen und einer zunehmenden Unsicherheit darüber, was gut für uns ist – und was gut ist für unsere Kinder. Denn diese wachsen in einer beschleunigten Welt auf, die uns Erwachsenen manchmal Angst macht, auch weil wir fürchten, die nachfolgende Generation werde zu einer beziehungsgestörten, medienabhängigen Monstergruppe. Als Arzt, der Kinder behandelt, sehe ich viele dieser vorgeblichen »Monster« bei mir, und es sind gar nicht sie, die mir Angst machen, ich habe vielmehr Angst um sie. Warum das so ist? Dazu reicht ein genauerer Blick auf das Leben der Kinder, die sich mir vorstellen – und ich wähle als Beispiele bewusst Kinder, die aus psychiatrischer Sicht zum Glück gesund sind. Und doch bin ich um sie besorgt, denn ich stelle mir die Frage: In welcher Welt wachsen unsere Kinder auf? Wie sieht sie aus, diese Lebenswelt, die vordergründig durch die Macht der Smartphones und der PCs dominiert wird?
Mascha ist 13. Ein schwieriges Alter, findet sie. – Wie kann ein dreizehnjähriges Mädchen ihr eigenes Alter schwierig finden? Ist das nicht typischerweise die Aussage von Eltern eines Kindes in diesem Alter? Ich spiele die Frage, die sich mir stellt, zurück an das Mädchen vor mir.
»Warum, Mascha? Wie kommst du darauf?«
Mascha streicht sich ihr blondes, glattes Haar lang und wirft es entschlossen zurück. »Ich finde es schwierig, dass ich mich einerseits älter fühle und andererseits die Welt mir manchmal so kompliziert vorkommt, dass ich große Angst vor der Zukunft habe. Wenn ich auf der Hausparty einer Freundin bin, denke ich, ich könnte eigentlich schon in einen Club gehen und bei den Partys der Großen mitmachen. Wenn ich dann manchmal traurig werde, ohne dass ich weiß, weshalb, dann möchte ich am liebsten bei Mama auf den Schoß. Das passt alles nicht zusammen. Und wenn ich Zeitung lese, bekomme ich Angst. Es passiert so viel Schlimmes! Neulich hat Papa gesagt, dass der IS eigentlich schon in Europa angekommen ist, weil jetzt auch die Türken gegen sie kämpfen müssen. Und dann sitze ich in der Schule oder ich chatte mit meinen Freundinnen und denke, ich bin im falschen Film, wenn wir uns nur über Designerklamotten austauschen. Manchmal trinke ich dann auf den Partys mehr, als meine Eltern erlauben würden. Das dürfen Sie denen aber nicht sagen! Meine Eltern wollen wirklich immer das Beste für mich. Ich liebe sie sehr. Aber wenn ich dann ein paar Wodkashots getrunken habe, fühle ich mich leicht und frei. Ich passe schon auf, dass es nicht zu viel wird. In der Schule bin ich ganz gut, so im Zweier-Bereich. Mir kommt die Mittelstufe, bei der ich ja gerade am Anfang stehe, ziemlich lang vor. Und ich habe nur einen Lehrer, bei dem ich das Gefühl habe, der arbeitet gerne mit uns, und wenn ich dann daran denke, wie lange es noch dauern soll, dann denke ich: oh nein!«
Mascha sitzt vor mir, weil ihre Eltern die von ihr beschriebene Zerrissenheit ebenfalls spüren und die daraus resultierenden Stimmungsschwankungen aus Elternsicht manchmal sehr heftig sind. Familie M möchte nichts übersehen. Die Eltern sind freundlich, nicht übermäßig besorgt, aber auch ohne Scheu, einen Kinder- und Jugendpsychiater einzubeziehen. Die Mutter ist Lehrerin und der Vater Ingenieur in einem Vermessungsbüro. Eine gesunde Familie des Mittelstands im besten Sinn.
Mascha erzählt weiter. »Eigentlich habe ich alles, was ich brauche: wir haben ein gutes Auskommen, unsere Wohnung ist groß, okay, mein kleiner Bruder ist manchmal doof, aber sonst kann ich mich über nichts beschweren. Meine Eltern sind tolerant, ich habe genug Taschengeld, und unsere Urlaube finde ich immer toll, weil mein Vater sich besondere Reisen ausdenkt für uns. Ich habe schon lange Klavierunterricht und gehe gerne zum Volleyball, wir sind eine gute Mannschaft. Meine Eltern haben alles richtig gemacht. Und trotzdem bin ich manchmal unzufrieden und unglücklich, ohne dass ich sagen kann, warum. Meine Mutter ist angestrengt, aber sie sagt immer, ich soll mir darum keine Sorgen machen. Sie will immer alles besonders richtig machen mit meinem Bruder und mir. Sie macht es auch, das ist das Problem. Dass ich jetzt vor Ihnen sitze, ist okay, aber auch da macht sie wieder alles richtig. Wenn sie bloß mal einen Fehler machen würde, dann könnte ich auch mal sauer sein!«
Dabei kommt das von den Eltern ganz natürlich. Zu SuperKids passen oft auch entsprechende Supereltern: »Ich habe mich immer darum bemüht, meine Kinder optimal zu erziehen, ohne mich zu verbiegen und ohne zu übertreiben. Ich habe immer alle Unterstützung in Anspruch genommen, die mir sinnvoll erschien, damit die Kinder sich optimal entwickeln. Mascha ist auch wunderbar, aber im Moment weiß ich nicht, wie ich sie fördern kann, ich weiß nicht, ob ich mehr von ihr fordern muss oder ob sie Schutz braucht. Für mich ist es normal, hierzu auch Ihre Expertise als Kinder- und Jugendpsychiater in Anspruch zu nehmen«, so Frau M im Gespräch mit mir.
Wer jetzt dem Reflex unterliegt, dass hier »Luxusprobleme« und keine ernst zu nehmenden kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen oder Probleme zur Sprache kommen, erliegt dem fatalen Irrtum, dass es ein von außen zu objektivierendes Maß wie Schweregrad o. Ä. gibt, mit dem ich als Arzt feststellen kann, wie berechtigt ein Anliegen mir gegenüber ist. Immerhin ist die Familie zu mir gekommen.
Ja, die Zeiten haben sich geändert, worüber ich mich sehr freue, weil früher Familien oft erst kamen, wenn der Schweregrad einer Erkrankung so ausgeprägt war, dass die Erfolgsaussichten der Behandlung eingeschränkt waren. Die Unterscheidung zwischen Befindlichkeitsstörungen und manifesten psychischen Erkrankungen führt zwangsläufig in die Gefahr, alles, was nicht Krankheit heißt, abzuwerten und weniger ernst zu nehmen. Entscheidend für mich ist das Leiden eines Kindes. So, wie es sich nicht gehört, in bestimmten Situationen zu einem Kind zu sagen: »Stell dich nicht so an«, so haben alle erst einmal ein Anrecht darauf, mit Sorgen oder Symptomen angehört zu werden.
Doch die Sorgen und Symptome von Mascha habe ich in der letzten Zeit öfter gehört. Und ich bin sicher: Mascha ist ein Beispiel für ein SuperKid. Ihre Eltern haben »alles richtig« gemacht, und Mascha beeindruckt durch ihr Reflexionsvermögen, durch ihre Vernunft, ihre Fähigkeit, sich anzuvertrauen und mein Angebot anzunehmen. Sie ist liebenswert und berührt mich durch ihre Offenheit und ihr Ringen um einen Weg.
Das sind normale Turbulenzen, wie sie nun einmal in der Pubertät auftreten, höre ich viele sagen. Ja, natürlich, das stimmt, aber ist nicht der Umgang damit entscheidend? Wie viele Generationen haben es erlebt, dass sie in dieser Zeit mit den wirklich wichtigen Fragen keinen Ansprechpartner hatten? Wie viele haben in der Einsamkeit mit sich selbst versucht, die Fragen und inneren Spannungen mehr oder weniger gut zu lösen. Mascha erlebt, dass die Eltern ihre Pubertät so ernst nehmen, dass sie sich Hilfe holen und ausschließen lassen, ob eine andere seelische Erkrankung dahinterstecken könnte. Auch das ist super von diesen Eltern. Und Mascha als SuperKid stellt das nicht in Frage, sondern ist dankbar dafür.
Nachdem ich also eine seelische Erkrankung ausgeschlossen habe, bleibt die Frage, wie es weitergeht. Mascha selber wird sehr nachdenklich bei der Frage, ob sie Unterstützung haben möchte. Einerseits ist die Idee verlockend, regelmäßig außerhalb der Familie jemanden zu haben, der sich Zeit nimmt für sie und ihr hilft, die aktuellen Turbulenzen mit den vielen Fragen und Unsicherheiten zu überstehen. Andererseits bedeutet noch ein Termin automatisch weniger Zeit mit den Freundinnen. Ihre Eltern, erleichtert, dass keine psychische Krankheit vorliegt, überlassen die Entscheidung Mascha. Schließlich nimmt sie gerne meine E-Mail-Adresse entgegen, um sich jederzeit melden zu können, falls es ihr schlechter gehen sollte.
Ich verabschiede Mascha und ihre Familie mit dem Gefühl, es war gut, dass sie da waren, und dass die Familie und vor allem Mascha aber genügend Kräfte hat, um alleine weiterhin gut zurechtzukommen.
Drei Monate später erhalte ich eine Mail, in der Mascha ziemlich verzweifelt den aktuellen Konflikt mit ihrer besten Freundin beschreibt, der dazu geführt hat, dass sie zum ersten Mal Gedanken daran hatte, nicht mehr weiterleben zu wollen. Wir verabreden einen kurzfristigen Termin, in dem Mascha von einer komplizierten Dreiecksgeschichte zwischen einem Jungen, ihr und ihrer Freundin berichtet. Es gelingt schnell, gemeinsam mit Mascha herauszufinden, was sie in dieser Situation möchte. Vor allem aber filtern wir heraus, wie sie mit der Kränkung durch eine Zurückweisung so umgehen kann, dass sie diese nicht gegen sich selbst wendet. Rasch ist Mascha wieder entlastet und findet zu sich selbst zurück. Wir verabreden einen zweiten Termin drei Wochen später, zu dem auch die Eltern dazustoßen. Hierbei »übergebe« ich Mascha wieder komplett in die Hände der Eltern, mit denen ich noch ein ausführliches Beratungsgespräch ohne Mascha durchführe. Warum ich das tue? Gerade in diesen Fragen ist es wichtig, die Eltern in ihrer Kompetenz zu stärken. Und wirklich: Ich höre von Mascha danach nichts mehr. Ich bin mir sicher, dass sie gut zurechtkommt, und ich verlasse mich darauf, dass sie oder ihre Eltern sich melden, wenn es wieder schlechter ginge.
Doch Mascha ist nur ein Beispiel für ein SuperKid. SuperKids sind allgegenwärtig. Sie sind keine...