Es war einmal – und ist immer noch
„Im Besonderen fällt der öffentlichen Wirtschaft die Aufgabe zu, in Unterstützung der staatlichen Wirtschaftspolitik den Ausgleich gegenüber den durch die private Wirtschaftsbetätigung geschaffenen Einseitigkeiten und Härten herbeizuführen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen soll sie die Kräfte entwickeln, die ein Gegengewicht gegen die großkapitalistischen Monopolisierungstendenzen bilden.“
Josef Hoffmann, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Sparkassen- und Giroverbandes Deutschland
„There is no Alternative!“, es gibt keine Alternative zum sozialen Kahlschlag des Marktradikalismus!
So verkündete es Anfang der Achtzigerjahre die „Eiserne Lady“ Margaret „Maggie“ Thatcher unverkennbar britisch näselnd der eifrig mitschreibenden Presse. Die resolute Dame kündigte jegliche Schonung der unteren Gesellschaftsschichten auf, zwang die dereinst starke Bergarbeitergewerkschaft in die Knie, verscherbelte Staatsbetriebe für ’n Appel und ’n Ei. Im verschärften globalisierten Wettkampf um Marktanteile könne man sich keine Kultur des Mitgefühls und der Rücksichtnahme mehr leisten. Die Radikalrasur der Frau Thatcher hat im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Nachahmer gefunden. Fast scheint es, als gäbe es tatsächlich nichts anderes mehr als die bitteren Pillen des Neoliberalismus.
Es fand sich jedoch ein Häuflein Aufrechter, zusammengesetzt aus Alt-Achtundsechzigern und jungen Leuten, die sagten: Doch, es gibt Alternativen zum TINA-Syndrom („There Is No Alternative!“). Sie organisierten sich in der Gruppe Attac. In Seminaren und Kongressen hält man Ausschau nach Alternativen zum zerstörerischen Neoliberalismus. Hier erfährt man Interessantes über das Bioenergiedorf Jühnde bei Göttingen oder die Energiegenossenschaft Schönau im Schwarzwald. Dann gibt es Regionalwährungen wie den Chiemgauer, wo das Geld nicht als Spekulationskapital auf Amokfahrt gehen kann, sondern allein den Menschen im Chiemgau dient.
Das ist alles wunderschön und durchaus zukunftweisend. Was ich aber nie verstanden habe: warum sagt kein Mensch aus dieser Alternativwelt, dass wir in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Skandinavien schon seit über hundert Jahren über Kräfte und Strukturen verfügen, die so ganz anders sind als der Radikalkapitalismus angloamerikanischer Prägung?
Die Alternative zum Neoliberalismus ist keineswegs ein Nischen-Phänomen einer Handvoll Exzentriker mit Studienabschluss.
Die Wirtschaft besteht in Deutschland aus drei Teilen: neben dem privatwirtschaftlichen Sektor mit seiner Profitorientierung haben wir den öffentlich-rechtlichen Sektor und dazu als dritte Komponente die zahlreichen Genossenschaften. Daran zu erinnern, mag zunächst wie Nachhilfeunterricht in Staatsbürgerkunde klingen. Jedoch sind diese Binsenweisheiten aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verdrängt worden. Es wird so getan, als seien diese Errungenschaften, die unsere Vorfahren in geduldiger Kleinarbeit in die Welt gebracht haben, überflüssige Blinddärme, die man mal eben so weg operieren kann.
Ein Beispiel: Da werden in einem Handstreich öffentliche Landesbanken liquidiert. „Wozu brauchen wir DIE denn?“, fragt sich dann auch die Öffentlichkeit und applaudiert. Da werden unfähige Landesbankchefs wie Dirk Jens Nonnenmacher vorgeführt, und mit ihrer Entmachtung werden auch gleich deren Opfer, die dem Volk gehörenden Landesbanken nämlich, mit entsorgt. Wie ist so viel Unwissenheit möglich? Landesbanken sind nämlich nicht um ihrer selbst willen da. Landesbanken sollen Geld für die Wirtschaft aus der Region bereitstellen. Geld, das Privatbanken, die den großen internationalen Konzernen verpflichtet sind, nicht zur Verfügung stellen wollen. Landesbanken sind ein Schutzdeich gegen die Übernahme einer ganzen Region durch übermächtige Konzerne!
Dasselbe gilt für Sparkassen oder Raiffeisenbanken. Es gäbe in Deutschland schon lange keine bäuerliche Landwirtschaft mehr, wenn nicht Genossenschaftsbanken den Bauern in schwierigen Zeiten Geld vorstrecken würden. Wir hätten dann schon lange keine kleinen Äcker mehr mit ihren Schutzräumen für vielfältige Flora und Fauna. Sondern riesige agroindustrielle Monokulturen wie in den USA. Im Mittelwesten der USA werden Landschaften nämlich einfach verbraucht, bis sie unwiderruflich ruiniert sind. Dann ziehen die Farmer weiter. Oklahoma ist schon seit den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts ausgelaugt und wird als „Sandbüchse der USA“ belächelt. Oklahoma ist seitdem ein Schauplatz sich abwechselnder Naturkatastrophen. Und das Gleiche zeichnet sich auch für andere US-Bundesstaaten ab.
In Deutschland ist noch Platz und flüssiges Kapital da für kleinräumige Landwirtschaft. Saftige Äcker und Wiesen führen uns vor Augen, was wir an unserer so ganz anders gearteten Wirtschaftsform immer noch haben. Lassen wir uns durch das immer gleiche Lied vom Vorbild Amerika, das uns die Mainstreampresse unermüdlich vorsingt, nicht die Sinne vernebeln: unser Modell der Dreiteilung der Wirtschaft ist eindeutig dem angloamerikanischen Marktradikalismus überlegen! Überlegen, wenn wir den Menschen und seine natürlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und nicht die optimalen Profitmöglichkeiten einiger weniger Elitemenschen.
Unsere belächelte „Konsensgesellschaft“
Die Segnungen der Dreiteilung sind uns ja auch nicht durch einen feudalen Gnadenakt zugefallen. Die Arbeiterbewegung hat Kolossales geleistet mit ihren Arbeiterbildungsvereinen, Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften und Wohnungsbaugenossenschaften. Die Bauern haben sich zusammengetan, gemeinsam Saatgut eingekauft und gemeinsam ihre Ernteerträge vermarktet. Hinzu kommt der glückliche Umstand, dass diese Basisbewegungen tatkräftige Unterstützung aus dem aufgeklärten Bildungsbürgertum erhielten. Hermann Schulze-Delitzsch stellte den jungen Genossenschaftsgründern seine Kenntnisse in der Organisation und Verwaltung zur Verfügung. Und er betrieb mächtig Lobbyarbeit für die neue Bewegung bei den Mächtigen im Preußen des Neunzehnten Jahrhunderts. Friedrich Wilhelm Raiffeisen tat dasselbe aus christlichem Antrieb, Ferdinand Lassalle aus sozialistischer Perspektive.
Die Obrigkeit in Preußen benötigte gewiss eine gehörige Zeit, bis der Groschen gefallen war. Bis man in Berlin begriff, dass man sich den Ast absägt, auf dem man sitzt, wenn man den unteren Ständen nicht entgegenkommt. Doch schon 1869 wurde ganz offiziell ein Gesetz angenommen, das den Genossenschaften einen anerkannten Platz in der preußischen Gesellschaft garantierte. Und die Initiative zu öffentlich-rechtlichen Sparkassen ging sogar von preußischen Ministerialbeamten aus. „Kleinvieh macht auch Mist“, wird man sich wohl gedacht haben. Die „Sparbüchse des kleinen Mannes“ ermöglichte segensreiche Investitionen in der Region, aus der das Geld stammte. Das Ersparte kam den Leuten direkt wieder zugute, zum Beispiel durch saubere Straßen mit Abwasserkanälen. Das gestiegene Bewusstsein für Hygiene und das Wissen um die Gefahr durch Bakterien verlängerte die Lebenserwartung und verbesserte die Lebensqualität.
Es herrschte in den aufgeklärten Kreisen des deutschen Adels durchaus eine Sensibilität für die Probleme der unteren Schichten, wie man sie in gehobenen Kreisen der USA und Englands nie wahrgenommen hat. Als im Jahre 1888 in Westdeutschland schwere Auseinandersetzungen zwischen streikenden Bergarbeitern und Streitkräften auszubrechen drohten, griff der gerade ins Amt gekommene blutjunge Kaiser Wilhelm II., der Nationalökonomie studiert hatte, in das Geschehen ein. Der Kaiser traf sich mit Delegierten der Bergarbeiter. Er forderte Bismarck auf, Gesetze zur Begrenzung der Arbeitszeit und für den Arbeitsschutz auf den Weg zu bringen. Bismarck entgegnete dem Kaiser, was auch Otto Graf Lambsdorff nicht anders gesagt hätte: wir verlieren unseren Wettbewerbsvorteil, wenn wir den Arbeitern zu sehr entgegen kommen. Woraufhin Wilhelm eine internationale Konferenz in Paris einberufen ließ, auf der die Arbeitszeit und die Sicherheitsnormen international verbindlich geregelt werden sollten.3 Wenn auch jene Konferenz keine sichtbaren Ergebnisse zeitigen sollte, so ist Wilhelms Initiative trotzdem bemerkenswert. Von Wilhelms Großmutter, Königin Victoria von England, oder vom amerikanischen Präsidenten ging niemals eine solche Initiative aus.
Zu dieser von neoliberalen Milchbärten als „Konsenskultur“ mokant belächelten Sensibilität der deutschen Regenten gehört auch folgende Episode: Kaiser Wilhelm wagte es im Jahre 1890, die Ikone Bismarck fristlos zu feuern, weil dieser einen Bürgerkrieg von oben gegen die Arbeiterbewegung auf den Weg bringen wollte. Seit jenem Zeitpunkt hatte Kaiser Wilhelm II. in den angloamerikanischen Oligarchien eine durchweg negative Presse. Und Bismarck ist zum Heiligen der Neoliberalen erhoben worden....