Des Sängers Fluch
(A66, Hofheim)
Als Kevin Richard Russell gegen 9 Uhr die Bühne betritt, wird es im Publikum totenstill. Es ist nicht die Bühne, auf der er sich heimisch fühlt. Auf der ihn seine Anhänger sehen wollen. Aber er hat keine Wahl. Den Saal des Landgerichts Frankfurt, den größten, den es dort gibt, betritt Kevin Russell mit unsicheren Schritten. Ein vorzeitig gealterter, schwer kranker Mann kommt da. Russell verläuft sich fast auf dem Weg zur Anklagebank. Dann findet er seinen Platz für die nächsten Tage doch noch. Er lässt sich in den Stuhl sinken, fängt an zu wippen und glotzt ins Leere. Minutenlang. Die Kameras klicken. Plötzlich kommt etwas Leben in den Mann. Russell lächelt wie blöde ins Blitzlicht, dann dringt es heiser und halblaut aus ihm heraus: „Eins für Mama, eins für Papa, eins für Onkel ...“ Er nuschelt. Lallt ein bisschen. Das Frankfurter Landgericht hat schon viele gespenstische Momente erlebt. Dies ist der wohl Gespenstischste seit Langem. Oben auf der Tribüne, wo Platz für 50 Journalisten ist, herrscht ebenfalls Stille. Alle starren auf diesen Mann dort unten.
Kevin Russell, 46 Jahre alt und Ex-Sänger der Böhsen Onkelz, hat zum Prozessauftakt seine langen Haare abgeschnitten. Das strähnige Haar ist zurückgekämmt. Die Sonnenbrille hat er hochgeschoben. Die Richter betreten den Saal: zwei Berufsrichter, zwei Schöffen. Die Zuschauer vergessen, aufzustehen. Sie schauen weiter gebannt auf den Mann, der mal ein böser Onkel gewesen sein will. Einer, der auf furchtlos machte, der vor Kraft kaum laufen konnte. Trotzig. Widerspenstig. Der Vorsitzende Richter schickt die Kameraleute und die Fotografen raus. Sie haben ihre Bilder. Bessere, als sie erwartet hatten. Sie haben Fotos eines Mannes, der gefragt nach seinen Personalien stammelt: „Ich bin mehr oder weniger in Frührente.“ Seine Stimme ist brüchig. Dünn. Da röhrt nichts mehr. Russell, das tätowierte Kraftpaket von einst, das auf der Bühne seinen Zorn herausschrie. Ein Mann, der mit jeder Faser zu sagen schien: Je mehr ihr mich hasst, desto stärker werde ich. Der kultiviert hatte, wofür ihn seine Anhänger noch Jahre nach der Trennung der Onkelz verehrten: an den Rand gedrängt, Außenseiter und vor allem stolz darauf zu sein. Doch der Mann, der heute auf der Anklagebank sitzt, ist nur noch der Schatten eines bösen Onkels. Nichts dringt mehr durch. In keine Richtung. Seine Miene ist versteinert. Er wirkt vollkommen abwesend. Mit letzter Kraft hält er sich am Stuhl fest, erträgt die erstaunten Blicke, die auf ihm ruhen. Wenn er sie denn wahrnimmt. Noch vor wenigen Monaten sah er völlig anders aus. Dieser Mann ist binnen Wochen um Jahrzehnte gealtert.
Kevin Russell steht vorm Frankfurter Landgericht, wobei es so aussieht, als sei er schon von einem anderen Richter verurteilt worden. Dem gnadenlosesten, den es gibt: nämlich sich selbst. Dem einzigen, der es geschafft hat, ihn kleinzukriegen.
Kevin Russell, sagt der Staatsanwalt, hat sich der Unfallflucht, der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung und der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht. Er hat, glaubt der Ankläger, am Silvesterabend 2009 um 20.25 Uhr einen Unfall mit verheerenden Folgen verursacht. Er saß an diesem letzten Abend im Jahr am Steuer eines geliehenen Sportcoupés, eines Audi R8. Russell stand unter Drogen: Kokain, Methadon und Diazepam. Das soll gegen Angst helfen und ist ein Schlafmittel. Junkies wie Russell greifen gerne dazu, um sich zu beruhigen, wenn die Wirkung des Rauschgiftes nachlässt. Mit diesem Cocktail im Leib jedenfalls raste er über die viel befahrene Autobahn zwischen Frankfurt und Wiesbaden. Mit 230 Sachen. Dabei streifte er mit seinem Sportwagen auf der rechten Fahrspur ein Auto, das mit etwa Tempo 100 vor ihm fuhr. Ein Kleinwagen. Russells Auto kostet dagegen gute 120.000 Euro. Beide Autos prallten zusammen und schleuderten in die Leitplanke. Der Opel, in dem zwei junge Männer saßen, fing an zu brennen. „Der Fahrer trug Verbrennungen an mehreren Körperstellen, eine Leberblutung, eine Milzruptur sowie eine Verletzung der linken Niere davon“, sagt der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift. Und fährt fort: Der Beifahrer hat Verbrennungen erlitten. Ihm musste außerdem eine Hand amputiert werden.
Kevin Russell dagegen stieg beinahe unversehrt aus dem Sportwagen, schaute kurz auf das brennende Fahrzeug und lief davon. Es waren andere Autofahrer, die den beiden schwer verletzten Männern das Leben retteten. Sie zogen sie aus dem brennenden Opel. Kevin Russell war da schon auf den Feldern Richtung Frankfurt-Höchst unterwegs. Ziel: Bahnhof.
Der Rocksänger ist laut Anklage erst geflüchtet, als bereits Helfer an der Unfallstelle waren. „Daher musste er nicht davon ausgehen, dass er die Unfallopfer in einer hilflosen Lage zurückgelassen hatte“, formuliert es der Ankläger in Juristenlogik. Und meint damit, dass jemand da war, der den Opfern geholfen hat. Das hat Russell wahrgenommen und ist deshalb nicht wegen versuchter Tötung durch Unterlassen und unterlassener Hilfeleistung angeklagt worden. Allerdings: Wegen der besonderen Bedeutung des Falles hat die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Landgericht und nicht wie sonst üblich vor dem Amtsgericht erhoben. Besonders deshalb, weil klar war: Hier kommt viel Publikum. So viel, dass ein Amtsrichter möglicherweise überfordert wäre, der auf Wachtmeister verzichten muss, wenn der Angeklagte nicht in Haft sitzt. Und Kevin Russell lief frei herum. Ein einzelner Richter wäre wohl auch überfordert gewesen, wenn renitente Onkelz-Fans erschienen wären. Und damit war zunächst gerechnet worden. Es hatte versteckte Drohungen gegeben. Vor allem im Netz gegen den Staatsanwalt.
Kevin Russell besitzt keinen Führerschein. Er hat keine gültige Fahrerlaubnis für Deutschland. Die verlor er bereits 2004 wegen Gefährdung des Straßenverkehrs. Er hat sie nie wieder erlangt. Auch damals saß er betrunken hinterm Steuer und ist danach abgehauen. Das Amtsgericht in Königstein hat ihn damals zu einer Geldstrafe von 2.275 Euro verurteilt.
Am Morgen nach dem verheerenden Unfall auf der Autobahn 66 stand die Polizei im Foyer des 5-Sterne-Hotels Villa Rothschild, wo es Zimmer ab 300 Euro gibt. Kevin Russell lebte hier. Die Beamten wollten wissen, ob er am Steuer des Unfallautos saß. Er verneinte. Sie nahmen ihn trotzdem mit. Sein Manager kam auch. Der Rocksänger erklärte, der Manager sei am Abend zuvor gefahren. Der Manager bestätigte das. Aber die Spuren waren eindeutig. Am Airbag des Sportwagens sind DNA-Spuren von Kevin Russell entdeckt worden. Sein Gebiss lag im Fußraum, sein Körper zeigte die typischen Zeichen eines Unfalls. Dort, wo der Gurt saß, waren blaue Flecken. Und die Überwachungskamera der nahe gelegenen Autobahntankstelle zeigte, wie Russell Minuten vor dem Unfall in der Nähe vom Tatort einkaufte. Es sei ihm dort speiübel geworden, er habe sich übergeben, sei nicht mehr ins Auto eingestiegen, sagte Russell den Polizisten. Doch die glaubten ihm nicht und fanden an der Tankstelle auch keine Hinweise für seine Version. Kevin Russell hinterlegte 50.000 Euro als Sicherheitsleistung. Damit kaufte er sich von der Untersuchungshaft frei. Und blieb auf freiem Fuß.
Während die Ermittler Beweise und Indizien sammelten, es öffentlich wurde, dass wohl Kevin Russell der Unfallfahrer aus der Silvesternacht war, sprach seine Mutter Karin mit der Presse. Die 73-Jährige, die in einem Reihenhaus in Bayern wohnt, erzählte den Journalisten, sie habe regelmäßigen Kontakt zu ihrem Sohn gehabt. Doch nach dem Unfall habe er sich nicht gemeldet. Wo er wohnt, wisse sie auch nicht. Aber dass er jeden Monat 500 Euro an sie überwies. Beleg dafür, dass er eben doch ein guter Sohn sei. „Kevin hat oft eine Weltuntergangsstimmung, alles ist schlecht, jeder ist sein Feind“, diktierte die Mutter den Journalisten. Und zeigte ihnen einen Brief, in dem er sie Mumsken nannte. Und alte Sumpfkeule. Die Probleme ihres Sohnes, sagte die 73-Jährige, habe sie immer im Blick behalten. Sie wisse von seiner schweren Drogensucht, davon, dass er nach einem heftigen Rückfall lange im künstlichen Koma gelegen hatte. Und das Sorgerecht für Sohn Julian entzogen bekommen habe. „Kevin“, sagte seine Mutter, „hatte sehr viel für seinen Sohn übrig, aber erzieherisch hat er versagt. Er dachte immer, mit Geld kann man alles kaufen, auch Glück.“
Fahdi hat am Silvesterabend drei Finger der rechten Hand verloren. Aber was schwerer wiegt, er hat an diesem Abend auch sein Selbstwertgefühl verloren. Das bisschen, was er hatte. „Ich bin im Krankenhaus aufgewacht als Krüppel“, sagt er als erster Zeuge im Prozess. Er sagt das immer und immer wieder: das Wort „Krüppel“. Aber eigentlich sagt er es nicht, er speit es aus. „Ein Behinderter bin ich jetzt, er hat mich zum Krüppel gemacht. Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas antun?“ Er finde keine Arbeit mehr, könne sich nicht allein die Hose zumachen, werde immer aggressiver, sei lieber tot, als so weiterzuleben: als Krüppel. Er streckt Russell anklagend die Linke entgegen. Der glotzt ins Leere. An den Abend kann sich Fahdi kaum mehr erinnern. Er weiß nur noch: „Ich wollte feiern gehen und bin als Krüppel im Krankenhaus aufgewacht.“ Dann schaut er zu Kevin Russell. Und sagt wieder voller Hass und Wut: „Du hast mein Leben kaputt gemacht, ich wäre lieber gestorben.“
Die Opfer Fahdi (22) und Jamal (20) sind durch den Unfall gezeichnet. Sie erlitten schwerste Verbrennungen und wurden mehrfach operiert. In Kleidern sieht man den beiden, die als Nebenkläger auftreten, kaum etwas an. Niemand würde sich nach ihnen auf der Straße umdrehen.
Auch der Schüler Jamal hat keine Erinnerung mehr – weder an den Unfalltag noch an den...