2. Kurze Kerzen, lange Kerzen
Die Analyse von Candlestick-Mustern orientiert sich maßgeblich am übergeordneten Trend und der Größe der Kerzenkörper. Wenn Sie ein Diagramm öffnen, erkennen Sie, dass viele Handelsperioden in etwa dieselbe „normale“ Kursspanne besitzen, das heißt dieselbe Bewegung vom Periodenbeginn bis zum Periodenende. Bei wesentlichen Abweichungen von dieser Spanne entstehen entweder kurze Kerzenkörper und Doji (im Fall sehr kleiner Kursbewegungen zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs) oder, im anderen Extrem, Kerzen mit sehr langen Körpern. In diesem Abschnitt geht es um die Interpretation von kurzen Körpern und Doji-Mustern.
In praktisch allen Aktiencharts treten verschiedene Candlestick-Typen mit kurzen Körpern auf. Sie finden sich an Tagen mit Aufwärts- und Abwärtsbewegungen und einige von ihnen besitzen Schatten, andere nicht. Abbildung 2.1 zeigt einige typische Kerzen mit solchen kleinen Körpern.
Spinning Tops
Die dargestellten Kerzen tragen den bezeichnenden Namen „Spinning Top“. Sie entstehen, wenn Käufer und Verkäufer in etwa den gleichen Druck auf den Markt ausüben. Da beide Seiten fast ebenbürtig sind, liegen Eröffnungs- und Schlusskurs nahe beieinander. Oberer und unterer Schatten zeigen die misslungenen Versuche, den Preis in die eine oder die andere Richtung zu treiben. Damit liefern Spinning Tops eine Information über die Marktdynamik: Da keine Seite den Preis wesentlich beeinflussen kann, hat die Marktbewegung zumindest für diese Periode Schwung verloren.
Das Spinning Top stellt ein wichtiges Signal dar. Zwei Beispiele für diesen Kerzentyp finden Sie in Abbildung 2.2, einem Kurschart des Netzwerk-Ausrüsters Lucent Technologies.
In einem Balkenchart erschiene der Kursverlauf einigermaßen stabil. Man würde registrieren, dass sich der Markt einem Widerstand nähert, aber man würde vielleicht die eng beieinanderliegenden Eröffnungs- und Schlusskurse der beiden Perioden am Hoch übersehen – und das ist ein Problem. Die Candlestick-Darstellung mit den Spinning Tops hingegen ist viel leichter zu lesen.
Abbildung 2.1: Kurze Kerzen – Spinning Tops
Ein Spinning Top ist eine Kerze, deren Eröffnungs- und Schlusskurs dicht beieinanderliegen. Zudem haben oberer und unterer Schatten etwa dieselbe Länge.
Abbildung 2.2: Spinning Tops bei Lucent Technologies
Bei steigenden Kursen sollten im Prinzip lange weiße Kerzenkörper vorliegen (weiß bedeutet, dass der Preis zulegt, und das lange Rechteck signalisiert einen starken, dynamischen Trend). Treten im Chart kleine Kerzenkörper auf, hat der Trend trotz weiter steigenden Kurses Kraft verloren – die Optimisten haben nicht länger die Oberhand. Vielmehr wächst vermutlich der Einfluss der Verkäufer, obwohl die Preise nach wie vor zulegen. Kurze Körper besitzen nur Hinweischarakter, nehmen jedoch häufig das Ende des Trends vorweg. Das Spinning Top ist ein starkes Signal für eine mögliche Trendwende.
Lange Candlesticks signalisieren eine besonders starke Kursbewegung. Bei einem weißen, überdurchschnittlich langen Körper ist der Trend aufwärts gerichtet, bei einem ungewöhnlich langen schwarzen Körper abwärts.
An dieser Stelle wird die Analyse interessant. Ein Spinning Top ist wie alle Umkehrsignale nur ein Indiz für eine bevorstehende Richtungsänderung. Doch auch ohne hundertprozentige Sicherheit erhöhen Sie Ihre Trefferquote, wenn Sie solche Signale berücksichtigen. Ein japanisches Sprichwort heißt: „Nur ein Blatt fällt – und wir wissen, der Herbst ist eingezogen.“ Spinning Tops sind genau wie dieses eine fallende Blatt: Sie sagen Ihnen, dass die Jahreszeit – oder die Marktstimmung – wechselt.
Werfen Sie nun einen Blick auf das Chart in Abbildung 2.3. Sie sehen einen steilen Preisanstieg mit einer markanten langen weißen Kerze. Darauf folgt unmittelbar ein Spinning Top und dann ein deutlicher Kursrückgang. Dieses Muster wird Ihnen bei der Analyse von Candlestick-Charts häufig auffallen: Das Spinning Top – gefolgt von einer langen weißen Kerze – kündigt das Trendende an.
Eine wertvolle Information stellt es auch dar, wenn die Kerzen einer ausgeprägten Kursbewegung von Periode zu Periode kürzer werden. Dieses Muster zeigt eine allmähliche Abschwächung des Trends an. In Abbildung 2.4 geschieht genau dies innerhalb einer Aufwärtsbewegung, die schließlich mit zwei Doji endet. Hier haben wir es mit einem besonders aussagekräftigen Umkehrmuster zu tun.
Bei einem solchen Kursverlauf gilt es in den Handelsperioden zu reagieren, in denen die Doji auftreten. Bereits eine Sitzung später hat man das Hoch verpasst – was die lange schwarze Kerze beweist. Wenn Sie ein Umkehrmuster entdecken, dürfen Sie nicht zögern, sondern Sie müssen dem Signal unverzüglich folgen.
Abbildung 2.3: Spinning Tops
Abbildung 2.4: Zwei Doji in Folge
Die Interpretation von Doji
Ein Doji steht für Unentschlossenheit. Weder Käufer noch Verkäufer können sich durchsetzen. Die Japaner betrachten einen auf eine lange Kerze folgenden Doji als Übergangspunkt. Die den Trend beherrschende Seite ist erschöpft und die Gegenpartei übernimmt die Führung.
Bei einem Doji sollten Sie sich fragen, ob der Markt (nach einem Anstieg) überkauft oder (nach einem Rückgang) überverkauft ist. Wenn der Kurs zu rasch in eine Richtung gelaufen ist, verrät der Doji, dass die dominierenden Kräfte müde sind. Allerdings liegt es bei einem sehr starken Trend nicht unbedingt nahe, schon nach einem einzigen Doji von einer Umkehr auszugehen. In dem Augenblick, in dem der Doji erscheint, brauchen Sie daher eine Form der Bestätigung – einen zweiten Doji, überdurchschnittliches Volumen, oder der Preis muss einen Widerstand (nach oben) bzw. eine Unterstützung (nach unten) erreichen. Diese Signale und ergänzenden Informationen erhöhen die Chance, den Zeitpunkt der Trendwende genau zu treffen.
Bei einem Umkehrsignal, dessen Wert ich im Augenblick nicht richtig einschätzen kann, reduziere ich oft meine Positionen, statt sie völlig zu schließen. Ich verkaufe zum Beispiel die Hälfte einer Long-Position oder stelle die Hälfte einer Short-Position glatt. Zudem schütze ich mich in dieser Situation mit Optionen gegen das Risiko. Auf diese Weise realisiere ich einen Teil meines Gewinns, habe bei falschem Timing aber immer noch die Chance auf weiteren Profit.
Der Doji tritt in mehreren Formen auf, von denen drei besonders erwähnt werden sollen (s. Abbildung 2.5). Der erste, der nur aus einem Querstrich und einem unteren Schatten besteht, wird Dragonfly Doji (Libellen-Doji) genannt. Nummer zwei und drei sind Varianten des Spinning Top.
Steht der Dragonfly-Doji auf dem Kopf, heißt er Gravestone Doji (Grabstein-Doji). Dabei sollte man auf jeden Fall wissen, dass die jeweilige Form eines Doji und seine Bedeutung als Umkehrsignal davon abhängen, wo er im Trend erscheint.
Der Grabstein-Doji ist ein Doji, dessen horizontaler Strich ganz unten liegt, sodass der untere Schatten fehlt.
Abbildung 2.5: Doji – verschiedene Formen
Abbildung 2.6: Doji nach einer langen weißen Kerze
Betrachten wir beispielsweise das Muster in Abbildung 2.6. Dort tritt nach einem steilen Kursanstieg ein Spinning Top mit einem außergewöhnlich langen oberen Schatten auf. Dieser Verlauf ist schwer zu deuten. Der lange Schatten zeigt, dass die Käufer den Preis nicht mehr weiter nach oben treiben konnten. Der Trend lief aus. In den folgenden neun Sitzungen bewegte sich der Kurs jedoch seitwärts, demnach war der Kampf zwischen Käufern und Verkäufern noch nicht vorüber. Nach der Seitwärtsbewegung gibt der Markt dann nach. Wie soll man sich hier verhalten?
Abbildung 2.7: Doji nach einer langen weißen Kerze – Bearish Harami Cross
Aus meiner Sicht spricht der lange obere Schatten des Spinning Top stark für das Ende des Aufwärtstrends. Dabei ist es unwesentlich, ob es noch einige Handelsperioden dauert, bis die Verkäufer den Markt in die Gegenrichtung bewegen können. Es wäre also klug, wie bei einer Trendumkehr zu reagieren, da die Wende verzögert, aber nicht verhindert wird. Die Käufer sind erschöpft, was sowohl am Doji als auch an den immer kürzer werdenden weißen Kerzen abzulesen ist. Ein weiteres Beispiel sehen Sie in Abbildung 2.7. Hier erfolgt die Trendumkehr sofort, was wieder belegt, dass ein Doji nach einer langen weißen Kerze häufig eine unmittelbare Wende ankündigt. Zusätzlich zeichnet sich das Muster dadurch aus, dass die gesamte Kursspanne des Doji in die Spanne des langen weißen Candlestick fällt. Dieses Muster wird Bearish Harami Cross genannt.
Beachten Sie die Doppelformation: Der langen weißen Kerze folgt ein Doji mit niedrigerem Hoch und höherem Tief, das heißt mit einer viel kleineren Kursspanne.
Als Harami – japanisch für „schwanger“ – bezeichnet man eine Zweierfolge aus einer langen und einer kurzen Kerze, wobei die Handelsspanne der kurzen komplett in die Spanne der langen Kerze fällt.
Bei einem Harami Cross handelt es sich um ein Harami, dessen zweite Kerze sogar die Form eines Doji annimmt.
Unterstützung und Widerstand
Ein Doji oder eine Kerze mit kurzem Körper liefert jedoch oft noch einen weiteren Hinweis, nämlich auf eine neu auftretende...