Gabriele Radecke
Nachdem Kurt Tucholsky Theodor Fontanes »Causerien über Theater« gelesen hatte, schrieb er in seinem Gedenkartikel »Der alte Fontane. Zum hundertsten Geburtstag«, der in der »Weltbühne« am 25. Dezember 1919 veröffentlicht wurde: »Der Theaterkritiker hats schlecht mit der Nachwelt. Die holt ihn wohl einmal hervor, wenn sie etwas nachschlagen will – aber im großen ganzen kümmert sie sich nicht viel um den Mann, der damals das theatralische Tuch mit der Elle gemessen hat. Und doch: Lest vom alten Fontane seine ›Causerien über Theater‹ (bei F. Fontane & Co. in Berlin erschienen) – und ihr werdet schmunzeln und lächeln und blättern und lesen und immer weiterlesen …«.1 Tucholsky war einer von wenigen, der gerade nicht Fontanes Romane und Erzählungen empfahl, weil er nach deren Lektüre eine »tief(e), so menschlich(e) Erschütterung« vermisste. Zwanzig Jahre nach seinem Tod berührte Fontanes erzählerisches Werk, wie es Tucholsky meinte, längst nicht mehr so, wie das beim zeitgenössischen Lesepublikum offensichtlich noch der Fall war. Vielmehr waren es Fontanes Theaterkritiken, die Tucholsky faszinierten und von deren sprachlicher Gestaltung, vom »Ton«, vom »Hauch« und vom »Takt« er so beeindruckt war, dass er »diese Aufsätze (…) zu einem der schönsten deutschen Sprachgüter« erhob. Er schwärmte weiter vom »alten Fontane« als »eine(m) der feinsten und entzückendsten Theaterkritiker (…) die es je gegeben hat«, und bewunderte Fontanes außergewöhnliche Begabung, die Schauspielerinnen und Schauspieler so zu beschreiben, dass beim Lesen der Kritiken auch 1919 noch eine genaue Vorstellung von ihnen zurückbleibe, obwohl diese schon längst nicht mehr bekannt waren.2
Fontane, der von 1870 bis 1889 das Referat für Theaterkritik bei der liberalen »Vossischen Zeitung« für die Aufführungen im Königlichen Schauspielhaus Berlin übernommen hatte und in dieser Zeit 649 Aufführungen besuchte und besprach,3 veröffentlichte seine Kritiken lediglich in der Tagespresse und verzichtete, im Unterschied zu seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« und zum Sammelband »Aus England«, auf eine Zweitverwertung in Buchform.4 Vermutlich ist das einer der Gründe, warum sich Fontane unter den Zeitgenossen zwar einen Namen als Theaterkritiker gemacht hatte, aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch in dieser Funktion rezipiert worden ist. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Fontane als Theaterkritiker ist der Öffentlichkeit nach wie vor weitgehend unbekannt, und auch innerhalb der Fachwissenschaft gibt es erstaunlicherweise nur wenige Arbeiten, die sich Fontanes Theaterkritiken gewidmet haben.5 Das ist insofern merkwürdig, als die Theaterkritiken seit 1905 in einigen Editionen vorliegen und die Texte somit auch längst wieder verfügbar gemacht wurden.
1 Editionen der Theaterkritiken Fontanes
In Zusammenarbeit mit Fontanes jüngstem Sohn, dem Buchhändler und Verleger Friedrich Fontane, hatte Paul Schlenther, Fontanes Nachfolger als Theaterkritiker und später als Direktor des Wiener Burgtheaters tätig, die erste Buchausgabe ausgewählter und gekürzter Theaterkritiken 1905 herausgegeben. Mit dieser Ausgabe, die Tucholsky vorlag und die in drei Auflagen und 1908 noch einmal in erweiterter Form in der ersten postumen Gesamtausgabe, »Gesammelte Werke«, als Band 19 erschienen ist,6 waren etwa ein Drittel aller Theaterkritiken Fontanes nach dem Erstdruck erstmals wieder veröffentlicht.7 Schlenther, der von dem Literaturwissenschaftler und Direktor des Märkischen Museums Berlin, Otto Pniower, beraten wurde, hatte sich gegen eine strikt chronologische Anordnung und Vollständigkeit der Kritiken entschieden und stattdessen eine lesefreundliche inhaltlich-chronologische Systematik in drei Teilen – Dramatische Werke, Schauspieler und Aphoristisches – bevorzugt. Im Vorwort rechtfertigt er sein Konzept, das auch die gekürzte Wiedergabe einzelner Kritiken einschloss, weil es ihm einzig um »den kritischen Causeur Fontane«, um dessen »Charakteristik seiner Kunst- und Weltanschauung oder seiner schriftstellerischen Weise« gegangen ist.8 Hinzu kommt, dass sich die Ausgabe nicht an ein fachwissenschaftliches, sondern an ein breites Lesepublikum richtet.
1926 folgte eine weitere Ausgabe unter dem Titel »Plaudereien über Theater«, die Fontanes Söhne Theodor und Friedrich Fontane besorgt hatten. Diese ebenfalls populäre, in zwei Bänden angelegte Auswahlausgabe, von der nur der erste Band realisiert wurde, folgt der dreiteiligen Systematik der Erstausgabe, ergänzt um weitere Kritiken, Briefe, Texte aus dem Nachlass und Abbildungen. Erst 1964 wurde im Rahmen der sogenannten Nymphenburger Fontane-Ausgabe die erste kommentierte wissenschaftliche Edition aller bekannten Theaterkritiken Fontanes vorgelegt. Kurt Schreinert und Edgar Groß haben Pionierarbeit geleistet, denn im Unterschied zu allen bisherigen editorischen Bemühungen9 verzichteten sie auf Textkürzungen und legten einen Kommentar vor, der zumindest in Ansätzen die theaterhistorischen Kontexte berücksichtigt hat. Außerdem wurden mit der Nymphenburger Ausgabe die Kritiken der französischen Stücke erstmals wieder nach den Zeitschriftenabdrucken publiziert.10 Die Hanser-Fontane-Ausgabe hingegen, die 1969 erschienen war, ist ein editorischer Rückschritt, denn sie bietet nur eine erneute Auswahl von Kritiken, die sich zudem an dem Stücke-Kanon im 20. Jahrhundert orientiert und somit viele Besprechungen von damals noch beliebten und viel gespielten, heute nahezu unbekannten Dramen und Lustspielen unberücksichtigt lässt. Durch diese Entscheidung, die nicht begründet wird, ist es zudem nicht möglich, Näheres über den Spielplan des Königlichen Schauspielhauses zu erfahren. Der Kommentar, in dem vorwiegend Parallelstellen zu Fontanes erzählerischem Werk zitiert werden, trug schließlich dazu bei, dass die Theaterkritiken einmal mehr vorwiegend in Verbindung mit Fontanes erzählerischem Werk gelesen wurden.11
Im Rahmen der Großen Brandenburger Ausgabe ist im November 2018 nun eine weitere kommentierte Studienausgabe erschienen, in der nicht nur 24 Kritiken erstmals wieder seit der Erstveröffentlichung in der »Vossischen Zeitung« abgedruckt werden. Vielmehr war es Ziel des editorischen Konzepts, Fontanes Profil als Theaterkritiker zu schärfen. Das erfolgte vor allem durch die Eingliederung der Bände in die Abteilung »Das kritische Werk«, durch die erstmals innerhalb einer Fontane-Gesamtausgabe Fontanes journalistische Tätigkeit als Theater-, Literatur- und Kunstkritiker deutlich hervorgehoben wird. Für die Kommentierung wurden nicht nur systematisch die theaterhistorischen Hintergründe aufgearbeitet, sondern auch die Besprechungen der Kritiker-Konkurrenten Friedrich Adami, Karl Frenzel und Paul Lindau hinzugezogen, um Fontanes Texte mit der zeitgenössischen Kritik zu kontextualisieren. Mit dieser grundlegend neuen editorischen Konzeption wird es vielleicht möglich sein, Fontanes Theaterkritiken nun nicht mehr nur in Verbindung mit seinem erzählerischen Werk zu lesen, sondern vielmehr als eigenständige journalistische Texte des Autors.
2 Fontanes Theaterkritiken-Notizbücher
Die Veröffentlichung in der Tagespresse hatte zur Folge, dass der Produktionsprozess der Theaterkritiken sehr schnell gehen musste und dass die Anzahl der Druckfehler im Unterschied zu Buchausgaben weitaus höher war.12 Fontane begann mit der Arbeit häufig noch am Abend der Vorstellung. Der Schreibdruck vergrößerte sich, als 1880 in der »Vossischen Zeitung« die Nachtkritik13 eingeführt wurde, die schon am nächsten Tag als eine kurze Vorbesprechung auf die dann noch folgende Kritik einstimmen sollte. Aber selbst für die ausführliche Kritik, die in der Regel spätestens am dritten Tag nach der Aufführung gedruckt wurde, blieb nur wenig Zeit für eine gründliche weiterführende Recherche, Lektüre oder Fehlerkorrektur. Dennoch geht aus den veröffentlichten Kritiken hervor, dass Fontane nach der Vorstellung hin und wieder in Literaturgeschichten recherchierte14 und bei Bedarf sogar die Stücke noch einmal nachlas, so etwa das französische »Les pattes de mouche« von Victorien Sardou15 oder auch Wilhelm Oechelhäusers Bearbeitungen von Shakespeares »Macbeth«16 und »Heinrich IV. erster Teil«.17 Wenn man berücksichtigt, dass Fontane neben den Theaterkritiken noch parallel an vielen unterschiedlichen journalistischen und poetischen Texten arbeitete sowie seine »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« kontinuierlich umschrieb, dann werden das Arbeitspensum und die damit einhergehenden Belastungen für den Schriftsteller einmal mehr deutlich. Insbesondere seine 67 Notizbücher, die Notizen, Entwürfe, Konzepte und Niederschriften sowie Skizzen und Exzerpte zu nahezu allen Textsorten und -gattungen innerhalb des Fontane’schen Werkes enthalten, belegen den aufwendigen und komplexen Entstehungsprozess, der auch viel logistisches Geschick abverlangte. So unterbrach Fontane seine Reise durchs Ruppiner Land, zu der er am 16. September 1873 aufgebrochen war, um für die dritte Auflage des ersten »Wanderungen«-Bandes vor Ort zu recherchieren, weil er am 20. September 1873 seinen Dienst als Theaterkritiker wahrnehmen und die Aufführung von Sophokles’ »König Ödipus« besprechen musste.18
Ebenso wie für die »Wanderungen...