[8|9]Anna Bers
Zum Umgang mit Kanoninstanzen und Klassikern bei Felicitas Hoppe
Was würde passieren, wenn man Felicitas Hoppe fragen würde, wer ihre literarischen Vorbilder sind? (Es sei einen Absatz lang so getan, als wäre das noch nie geschehen.1) Würde sie in ehrfürchtiges Raunen verfallend eine Liste großer Namen, gewichtiger Titel und alter Herren abliefern? Würde sie, die – höchstens ein klein wenig kokett – über sich gesagt hat, sie sei »nicht ernsthaft belesen«2 und »in einem Haus ohne Kanon«3 aufgewachsen, wie ein arrivierter Feuilletonist schwärmerisch und selbstgewiss zugleich über den frühen Mann, den letzten Grass, den immerwährenden Goethe sprechen? Wohl kaum. Felicitas Hoppe, deren Umgang mit der Tradition als spielerisch, ironisch, niemals aber als blind-affirmativ charakterisiert wird, ist eine derartige Antwort nicht zuzutrauen. Ebenso wenig lässt sich aber denken, dass Hoppes Reaktion ein schlichtes Verleugnen oder gar ein Schweigen sein könnte. Nicht vorstellbar, ausgerechnet Hoppe wolle tatsächlich »mutterseelenallein von vorn (…) beginnen, als hätte ich nie eine Zeile gelesen«.4 Viel besser ist vorstellbar, dass sie in der ihr eigenen leisen, aber nicht verlegenen Art eine Antwort gibt, die völlig klar zu sein scheint, dann aber doch Zweifel aufwirft: an ihrer Ernsthaftigkeit, an ihrer Vollständigkeit. Und genau diese Antwort hat sie gegeben. Sie formuliert sie als Autorin, die über ihre Texte spricht, und ebenso tun dies ihre Texte als Zeugnisse der ihnen eigenen Poetologie. Hoppes Vorbilder, so liest man immer wieder, das sind Märchen, Legenden und Sagen, Ritter- und Stadtmusikanten-Geschichten; im wahrsten Sinne des Wortes Erzähltes also, mündliche Traditionen5 – Texte ohne Autoren und große Helden. Kanonisch sind auch diese Texte, ja, aber sie sind nicht an die alten Herren, die sogenannten Klassiker und ihre Sprache gebunden. Hoppes Haltung gegenüber der mündlichen Tradition lässt sich dabei als ein ernst gemeintes Verneigen beschreiben: »Das war die Kindheit aus Bibeln und Märchen, der gründlich versenkte Grundstein des Hauses aus Text und Erinnerung, von dem ich immer noch wünsche, ich hätte es selber gebaut.«6 Gerade wenn sie über Märchen spricht, ist da nicht mehr allzu viel von Ironie und Spiel. Ehrfurcht ist es auch nicht – wie sonst könnte sie sich den Iwein und Jeanne d’Arc so radikal zu eigen machen, wie sie es getan hat –, wohl aber Respekt.
Aber ist das alles? Sollte es Felicitas Hoppe tatsächlich gelungen sein, all die anderen Traditionen, die sie auf den Kopf stellt, durchschüttelt und [9|10]denen sie eine neue Ordnung gibt, unbewertet zu lassen? Wie verhält es sich mit Hoppe und den alten Herren? Geht man diesen Fragen nach, dann tritt neben den Gestus des respektvollen Verneigens vor der anonymen Tradition – und dies scheint bisher nicht gesehen worden zu sein – eine gewisse Haltung des Von-oben-herab-Blickens als Kennzeichen für Hoppes dethronisierenden Umgang mit der »Hohen Literatur«.7 Nur selten fällt es Hoppe allerdings leicht, die Alten von ihrem Olymp zu holen. Im Zusammenhang mit der Würdigung von Max Frischs Tagebüchern unterläuft ihr eine für ihre Verhältnisse recht klare Kritik an Frisch, Brecht (und Schiller), die sie ein »Vorurteil« nennt, an dem sie »hartnäckig hänge«.8 Aus sicherer Distanz, mit Blick auf etwas so Abstraktes wie den Kanon als solchen nämlich, ist es für Hoppe ein Leichtes, Haken schlagend aus der bedrängenden Notwendigkeit einer Positionierung herauszukommen, die es irgendwie von ihr zu verlangen scheint, Farbe gegen diese Instanz zu bekennen. Eine klare Absage gibt es nicht. Es gelingt aber mit Zitaten, Beispielen, Satirischem und Anekdoten der Kanon-Frage das Wort im Munde herumzudrehen: »Kanon habe mit Literatur nichts zu tun, sondern sei ein Begriff aus der Musik, ›was einer singt und die anderen nachsingen, nur etwas später‹«,9 zitiert sie – vier Fünftel Wortspiel, ein Fünftel Kritik – ihren jüngsten Neffen.
Im Folgenden soll gezeigt werden, welche Entsprechungen ihre ironisch leise Absage an die »sogenannten großen Geister«10 in anderen Texten des Labels ›Hoppe‹ hat, wobei ich vier Strategien des Umgangs mit großen Namen und ihren Werken vorstellen möchte.
Re-Oralisierung als Entschriftlichung und De-Originalisierung
Grundsätzlich lässt sich vieles von dem, was Hoppes Umgang mit großen Namen und ihren Werken angeht, als Tendenz zur Re-Oralisierung beschreiben. »Für Familienmitglieder gilt das gesprochene Wort!«,11 lautet das Motto des Romans »Hoppe«. Die Re-Oralisierung ist allerdings keine Huldigung, sondern dient dazu, die individuelle Sprache und den Originalitätswert der alten Herren im Erzählen zu tilgen. Die sogenannte Literatur mit großem ›L‹ kritisiert Hoppe: Literatur »schrumpft die Welt auf tradierte Muster herunter, im schlimmsten Fall auf ideologische Slogans«.12 Für den Umgang mit jenen Musterknaben, die diese ideologischen Standards setzen, bedeutet das, dass deren berühmte Worte, Bonmots, Rhythmen und Reime ihnen genommen werden dürfen, damit sie zu Stofflieferanten werden. Und so wird auch Schillers kanonische Stimme zum Schweigen gebracht: Statt ihn nämlich selbst zu Wort kommen zu lassen, wird in »Verbrecher und Versager« eine Biografie ausgebaut, die keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat:13 die seines wenig vorbildhaften Wegbegleiters Kapf, der in doppeltem [10|11]Sinne »nicht zitierfähig«14 ist – ohne greifbaren Text und ohne moralische, ästhetische oder andere Autorität.
Diese erste Strategie, bei der Stoffe aus ihrer Gebundenheit an die Sprache ihrer prominentesten Verwender befreit werden, zielt auf beide Aspekte des Originalitäts-Konzepts: das Original als Ersturheberschaft und das Originelle des Genies. Sie ist insofern eine Re-Oralisierung, als sie eine De-Originalisierung ist. Dadurch erklärt sich auch, wieso Hoppes Vorurteil etwa Hartmann von Aue als Vorbild nicht ausschließt. Außerhalb gelehrter Diskurse ist dessen spezifische Stimme vergessen und zum Dichterfürsten-Originalgenie hat ihn nicht seine Zeit, sondern das 19. Jahrhundert gemacht, das wie kein anderes für Hoppe im Ideologie- und Kanonisierungsverdacht stehen muss. »Anna und Hamlet, Swann und Godot, Don Quichotte, Odysseus, Ulysses, Faust, Josef K., Effi Briest und Madame Bovary«15 dagegen haben ihren (nicht geringen) Wert für Hoppe vor allem als Stichwortgeber und -geberinnen in einem mündlichen Diskurs: »Anna Karenina gehört zu meinen Lieblingsbüchern, weil ich es nie gelesen habe. Ich liebe eines der bekanntesten Bücher der Weltliteratur ausschließlich aufgrund meiner Erinnerung an mündliche und mütterliche Überlieferung.«16
Re-Oralisierung als Reduktion
Ein anderer Aspekt der Re-Oralisierung ist die Tendenz zur Reduktion klassischer Texte auf einen (märchenhaften) Kern. Diese Tendenz lässt sich am besten anhand ihres Verhältnisses zu Schillers »Die Räuber« zeigen. Ganz uneingeschränkt bekennt Hoppe dort ihre Bewunderung: »Ich liebe Die Räuber seit meiner Schulzeit.«17 Dann aber macht sie aus dem Großtext – wie soll es anders sein – einen Universal-Märchenstoff: »Ein Vater, zwei Söhne, feindliche Brüder, die auch feindliche Töchter sein könnten, der eine gut, der andere böse, der Böse hässlich, der Gute schön, der Gute die Augenweide des Vaters, der böse ein hässlicher Stachel im Fleisch«,18 und beschreibt, wie das Kind Hoppe mit ihren Freundinnen selbstbewusst den Tod der Amalia streicht, weil sie »am Ende den scheußlichen Satz (…): ›Zeuch dein Schwert, und erbarme dich!‹«,19 nicht sagen wollen. Schon als Kind tilgt Hoppe allzu berühmte Worte zugunsten einer Reduktion auf die Räubermär.
Die einzigen Worte, die des Zitierens würdig von Schiller / Moor bleiben, sind solche, die sich gegen die Schrift selbst richten: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum!«20 In doppelter Weise findet eine Befreiung statt, die die kanonischen Texte zu allgemein zugänglichen Gegenständen des (mündlichen) Weitererzählens macht und ihnen ihre ideologische Bindung nimmt: erstens werden die Figuren von der nur (schriftlich konservier[11|12]baren) Sprache der Klassiker gelöst und zweitens die Stoffe von einer konkreten und kanonisch berühmten Repräsentation auf der discours-Ebene.
Re-Oralisierung als freies Zitieren
Mit dieser Reduktion auf einen überzeitlichen Stoff-Kern und der Bevorzugung von autorlosen Gattungen geht auch die Tendenz einher, als Mechanismen der Bedeutungsvermittlung vor allem intertextuelle Systemreferenzen (etwa auf Gattungen)21 in Anspruch zu nehmen und seltener solche der konkreten Einzeltextreferenz. Die Systemreferenz hält die notwendigen Mechanismen zur Einordnung von Texten in eine Gattungs-, Narrations-, Ästhetiktradition bereit. Märchenhaftes, legendarisches Erzählen als Grundmuster lässt sich mittels einfachster Operationen aufrufen und dennoch unbeschadet spielerisch modifizieren. Ebenso wie die Verehrung dieser Tradition als aufrichtig zu beschreiben ist, findet hier so etwas wie eine ernst gemeinte Systemreferenz statt. Es scheint im Hoppe-Kosmos erlaubt zu sein, die anonyme und originalsprachenlose Märchenform als solche aufzurufen und weiterzuführen. Die Einzeltextreferenz dagegen ist zumeist eher ein parodistisches Zitieren der autoritativen Praxis des (Klassiker-)Zitats selbst. Die Stimmen der Großen werden zum Schweigen gebracht, indem sie als...