[2|3]Christiane Wyrwa
Das Werk eines Wort-Monomanen
Kuno Raeber wusste schon früh, dass Dichtung seine Lebensaufgabe werden muss. Seit der Schulzeit fesselten ihn Gedichte, und sein letztes Buch »Bilder Bilder« endet mit einer Variation von Brentano-Versen. Er hat sein Leben lang poetische Texte geschrieben und zugleich über das Schreiben nachgedacht. Über allen Wandel der Formen hinaus verknüpfen seine Gedanken zur Poetik aus fünf Jahrzehnten sein Werk zur Einheit.
Raebers Überzeugung, wie die Dichtung beschaffen sein muss, entwickelt sich aus den Voraussetzungen seines Lebens. Er stammt aus Luzern und sagt, er sei in seiner Jugend so katholisch gewesen, dass es außerhalb der Kirche für ihn keine Realität gab. Angeregt vom »Zauberer und Beschwörer« Hans Urs von Balthasar wurde er 1945 als Student Novize bei den Jesuiten, aber nach wenigen Wochen floh er aus dem Orden und verlor abrupt die Kirche, dieses »Vater- und Mutterhaus voller geliebter Bilder, Tröstungen und Träume«.1 Sein gesamtes literarisches Werk nach den Schüler-Etüden verdankt sich einer erstaunlichen Wandlung. Zwei Jahre nach dem Sturz aus der Kirche erlebt er beim ersten Besuch in Rom den Katholizismus im Licht des Südens nicht als das verlorene Dogmengebäude, sondern als Teil eines viel umfassenderen kulturellen Bezugssystems, wie es in den Mythen der alten Welt überliefert ist. Er benutzt für sein Erlebnis Goethes Ausdruck von der Wiedergeburt in Rom, die ihn jetzt dazu führt, »schreibend einen Kosmos zu errichten, der den verlorenen Kosmos der Kirche, ihre Mythologie und ihre Ordnung ersetzte«.2
In der Übertragung der religiösen Heilsordnung mit ihren wirkmächtigen Bildern in die »Kunstwelt, Wortwelt, die ich errichte«3, liegt der Kern von Raebers Poetik, der vitale Ansporn, »dieses enorme Gedicht, dieses Wortgebirge, dieses totale Buch«4 zu schaffen. In der Kunst gelte es, »hinabzusteigen ins Innere, in die Gewölbe der Seele«5, wo man das Allgemeine und allen Gehörende, das verborgen ist, hervorholen und zeigen müsse. Dort gebe es kein Vergehen, alles Vergangene bleibe potenziell stets gegenwärtig, man müsse nur die Entsprechungen und Verwandlungen in den verschiedenen Masken erkennen. Das Einzelne habe stets nur die Funktion, das Allgemeine vertretend darzustellen, und die Kunst bestehe darin, »dem Urbild immer das Bild zu finden, das ihm möglichst genau entspricht.«6 Dieser Prozess, das »wahre Bild« sprachlich zu umkreisen, ihm immer näher zu kommen, setzt [3|4]»die Architektur, die Bildung der Bögen der Sätze, das Geschiebe der Wörter und Worte«7 in eine Bewegung, die in Rhythmus und Klang eine wohlgeordnete Fülle und einen überquellenden Reichtum an sprachlichen Formen aufweist. Einen Höhepunkt erreicht der wirbelnde Wörterstrom in dem aus der Literatur der Vergangenheit vertrauten »erfüllten Augenblick«, in dem die Spannung aufgehoben sei, der »die Ruhe darstellte, die Mitte, das Gleichgewicht zeigte nach dem Getümmel der Schwerter«, wie es in »Bilder Bilder« heißt.8
Raeber tritt als Lyriker mit dem Band »Die verwandelten Schiffe« 1957 ins literarische Leben. Die Gedichte finden ein positives Echo, er zieht nach München, schließt Freundschaft mit Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger, knüpft Kontakte zu Helmut Heißenbüttel und Horst Bienek. Zwei Lyrikbände folgen 1960 und 1963, und in allen ist erkennbar, wie seine Bildpoetik umgesetzt wird. In »Warnung an einen Besucher von San Clemente« von 1957 liegen die Bilder geschichtet wie in einem Palimpsest, die neun Teile der »Miracula Sti. Marci« von 1960 erkunden Splitter und Spiegelungen im Bild des wundersam gegenwärtigen Stadtheiligen. Der Lyriker Raeber hatte zunächst einen Platz mitten im Literaturbetrieb.
Die Bewegung an den Rand beginnt mit der Prosa. Zuerst entstehen zwei Romane über die Umschwünge seines Lebenswegs. »Die Lügner sind ehrlich« über den Verlust der kirchlichen Bindung wurde 1959 bei der Gruppe 47 verrissen. »Die Düne« hat den Appell von Rilkes Apollo »Du musst dein Leben ändern« als Zentrum; der 1964 abgeschlossene Text wurde zu Lebzeiten nie gedruckt. Die Richtung der Veränderung zeigen zwei Hörspiele, die Raeber »Funkgedicht« nennt. In »Der Brand« steht ein Vulkanausbruch im Zentrum und die Sprache kreist spiralförmig um den Zusammenhang von Zerstören und Bewahren. »Der Tod des Diokletian« stellt den Kaiser zwischen zwei Stimmen, aus denen das untergehende Heidentum und das aufkommende Christentum sprechen. Der Kommentar eines Senders belegt, wie sehr die wegweisenden Schritte, Formen seiner Lyrik in Prosa einzubinden, auf Kritik stoßen. Die »artifiziellen, sich ständig wiederholenden Satzumstellungen« seien nur »bild- und kraftlose Zeilenschinderei«, schreibt ein Redakteur.9
Doch Raeber hatte Mitte der 1960er Jahre Borges entdeckt und lobt ihn für »seine Verachtung der bloßen Aktualität« und dafür, dass er »die im Gedicht übliche Methode des Assoziierens, der Aufreihung, Durchführung, Variation und Wiederholung von Motiven, Gedanken, Bildern« in Prosa anwendet.10 Im Lob steckt ein Programm für die eigene Arbeit. In den Kurzerzählungen »Missverständnisse« steht immer ein Bild im Zentrum. Dädalos aus Ovids »Metamorphosen«, König Assurbanipal bei der »Löwenjagd« oder Philipp II. im »Palast« des Escorial, sie alle zeigen im Maskenspiel der [4|5]Kunst, dass »alle längst ausgebrannten Brände«11 noch immer in uns brennen. Wenn man auf Anerkennung im Literaturbetrieb hoffte, war 1968 eine denkbar schlechte Zeit für solche Spiele.
Raeber besuchte New York und entwarf dort den Roman »Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze«.12 Der Heilige der Legende haust in Greenwich Village bei den Hippies und durchläuft im Drogentraum ständige Metamorphosen. Hier gelingt Raeber das Grundmuster der folgenden Prosawerke. Statt fortlaufender Handlung wird in kurzen Szenen ein Bild aus der kulturellen Überlieferung der ganzen Welt aufgerufen und ausgeführt, darauf folgen steigernde Variationen oder Spiegelungen bis zum Höhepunkt im erfüllten Augenblick. Wer viele Herz-Jesu-Freitage erlebt hat, wird leichter aufnehmen, wie hier das Herz des Dogen den Höhepunkt der rauschhaften Alexius-Fasnacht auslöst und in Manhattan die schöne Ordnung stiftet, in der sich alle zum harmonischen Tanz finden. Für manche war dieses Spiel aber ungehörig, für andere war es nicht zeitgemäß. Die Verwandlung religiöser Stoffe in Elemente einer ästhetischen Ordnung, dieses konstitutive Element der Dichtung Raebers, war einem breiteren Lesepublikum schwer zu vermitteln.
Der nächste Roman »Das Ei« von 1981 wurde mehr geschmäht als gelesen und verbannte den Autor endgültig an den Rand der literarischen Welt. Das vom Attentat auf Michelangelos Pietà im Petersdom ausgelöste Werk ist in vielen Facetten ein Kampf der Söhne gegen die Übermacht der Mütter und zugleich ein Kampf der Künstler gegen die Anpassung an ein Leben gesellschaftlicher Nützlichkeit. Dieses Thema aus Künstlerromanen der Romantik bestimmt den Ich-Erzähler im Caféhaus am Anfang und Schluss.13 Sprachlich ist der Roman einfacher gehalten, »von Strauss und Mahler zu Orff«, wie Raeber sagt, der sein Schreiben gern mit Musik verglich und dem Bau von Mozarts Klavierkonzerten nacheifern wollte. Auch »Das Ei« ist in einer Folge von Bildern aufgebaut, die Mütter und Söhne erscheinen als biblische, historische und gegenwärtige Figuren. Den Höhepunkt löst eine Bombe aus, »höchstens so groß wie ein Kuckucksei«, die das Machtzentrum Peterskuppel in Staub legt. Zwar wurde die sprachliche Kraft des Werkes gelobt, doch es gab eine tiefe Ablehnung von vielen aus dem Literaturbetrieb, die mit Raeber bekannt oder befreundet waren. Das machte ihn, der früher sehr gesellig war, mehr und mehr zum »Reklusos«, und ihm wurde schmerzhaft klar, dass er nicht mehr richtig dazugehörte.
Als Raeber 1981 die Lyrik mit dem Band »Reduktionen«14 wieder aufnahm, in dem die »paar alten Bilder, die seit jeher in mir lagen«, zu einer »Musik der Worte« verdichtet sind, kamen wie bei dem letzten Gedichtband »Abgewandt Zugewandt« die positiven Stimmen aus der Schweiz, und ohne den Einsatz des Verlegers Egon Ammann hätte das Spätwerk gar nicht das Licht der Welt erblickt.
[5|6]Zwei Theatertexte der frühen 1980er Jahre »Vor Anker« und »Bocksweg« wurden nie aufgeführt, sodass ihre thematische Einbindung in Raebers Schaffen verborgen blieb.15 In beiden steht eine Alltagswelt der Regeln und Gesetze im Konflikt mit einer Gegenwelt der Triebwünsche und Träume, die ihre Bilder erneut aus dem Bereich des Heiligen bezieht, wobei Marterqualen und die magische Wirkung von Reliquien das Bühnengeschehen prägen.
1989 erschien das Prachtstück Raeber’scher Sprachkunst »Wirbel im Abfluß« zuerst als »Sacco di Roma«. Ein spiralförmig kreisendes punktloses Satzgefüge macht keine Aussagen über etwas, sondern die Wörter führen in mimetischer Präzision die Bewegung des Wassers auf, die sie zugleich aussagen. Im Zentrum steht die Engelsburg16 als wandelbarer Ort der Dauer, und drinnen ist in ständigen Metamorphosen der Stadtpatron Laurentius mit dem Lorbeer des Dichtergottes im Namen rastlos tätig, dem Verschwinden aller Menschen und Dinge das Bemühen um Bewahrung entgegenzusetzen. Höhepunkt ist erneut die Auffindung des verlorenen Herzens, und in einer Annäherung an Formen der Lyrik nehmen die Schlusszeilen den Anfang des Textes auf. Dieses letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Werk wurde zwar positiv rezensiert, doch es wurde...