|11|Kapitel 1
Grundlagen
1.1 Aggressives Verhalten: Symptomatik und Häufigkeit
Aggressives Verhalten von Kindern tritt häufig im Kontext aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen auf. Die Therapie dieser Probleme stellt eine besondere Herausforderung dar, weil diese Störungen häufig auftreten, oft einen chronischen Verlauf haben und insgesamt schwer zu behandeln sind (Petermann, Döpfner & Görtz-Dorten, 2016). Kadzin betonte bereits 1997 zu Recht, dass es sich bei den aggressiv-dissozialen Verhaltensweisen um einen der häufigsten Vorstellungsanlässe in der kinder- und jugendpsychotherapeutischen und der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis handelt, was sich bis heute nicht verändert hat. Da im Allgemeinen eine schlechte Langzeitprognose und eine unzureichende Therapiemotivation vorliegen (vgl. Döpfner et al., accepted for publication), handelt es sich damit um eine der kostenträchtigsten psychischen Störungen überhaupt (Ewest, Reinhold, Vloet, Wenning, & Bachmann, 2013).
Es gibt verschiedene Klassifikationsmöglichkeiten von aggressiv-dissozialen Verhaltensauffälligkeiten. Neben der Klassifikation von DSM-5 und ICD-10 hat sich die von Frick et al. bereits 1993 vorgeschlagene Einteilung durchgesetzt (siehe Abb. 1). Danach lassen sich aggressiv-dissoziale Verhaltensweisen entlang zweier Dimensionen beschreiben, die durch folgende Endpole charakterisiert werden: Aggressiv-dissoziales Verhalten kann offen oder verdeckt erfolgen und es kann destruktiv versus nicht destruktiv sein. Entlang dieser Dimensionen lassen sich die vier in Abbildung 1 aufgezeigten Klassen bilden. Dieses Manual fokussiert auf aggressives Verhalten von Kindern, wenngleich diese häufig auch oppositionelles Verhalten gegenüber Erwachsenen zeigen und auch schon verdeckte dissoziale Verhaltensweisen aufweisen können. Aggressives Verhalten gegenüber Personen kann sich auf Gleichaltrige oder auch auf Erwachsene beziehen, wobei aggressive Attacken gegenüber Erwachsenen eher die Ausnahme darstellen und sich dann eher in oppositionell verweigerndem Verhalten äußern.
Nach Vitiello und Stoff (1997) kann man verschiedene Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens unterscheiden (siehe Tab. 1): feindselig versus instrumentell, offen (direkt) versus verdeckt (indirekt), reaktiv versus proaktiv, affektiv versus „räuberisch“. Aktuell kommt dieser Gegenüberstellung in der Forschung zu callous unemotional traits eine besondere Bedeutung zu. Während Kinder mit reaktiv aggressivem Verhalten eher unkontrolliert, ungeplant und impulsiv als Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung oder Provokation handeln, handeln Kinder mit überwiegend proaktiv aggressivem Verhalten versteckt, instrumentell und eher kontrolliert und zielgerichtet, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Schwerpunktmäßig richtet sich dieses Manual eher an Kinder, die überwiegend reaktiv aggressive Verhaltensweisen gegenüber Gleichaltrigen zeigen, verfügt aber auch über einzelne Bausteine, die sich speziell an Kinder mit proaktiv aggressivem Verhalten richten.
In den Diagnosesystemen wird der Terminus der Störung des Sozialverhaltens benutzt, um diese Gruppe aggressiv-dissozialer Auffälligkeiten zu bezeichnen. Kennzeichnend ist ein sich wiederholendes Verhaltensmuster, das die Verletzung grundlegender Rechte anderer sowie wichtiger altersrelevanter Normen und Regeln umfasst und das typischerweise in der Kindheit oder im frühen Jugendalter beginnt. Nach DSM-5 (APA/Falkai et al., 2015) muss eine bestimmte Anzahl an Verhaltensweisen vorliegen, um eine Diagnose zu rechtfertigen. Darüber hinaus müssen klinisch bedeutsame psychosoziale Beeinträchtigungen auftreten.
Ausdrucksform aggressiven Verhaltens | Erläuterung |
feindselig vs. instrumentell | mit dem Ziel, einer Person direkt Schaden zuzufügen mit dem Ziel, indirekt etwas Bestimmtes zu erreichen
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offen vs. verdeckt | feindselig und trotzig, eher impulsiv und unkontrolliert versteckt, instrumentell und eher kontrolliert
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reaktiv vs. proaktiv | als Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung oder Provokation zielgerichtet ausgeführt, um etwas Bestimmtes zu erreichen
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affektiv vs. „räuberisch“ | unkontrolliert, ungeplant und impulsiv kontrolliert, zielgerichtet, geplant und versteckt
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Sowohl DSM-5 als auch ICD-10 unterscheiden zwischen den oppositionellen Verhaltensstörungen (ICD-10: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten; DSM-5: Störung mit oppositionellem Trotzerhalten) und den Störungen des Sozialverhaltens im engeren Sinn, bei denen auch dissoziale Verhaltensauffälligkeiten vorliegen müssen. Im DSM-5 kann des Weiteren auch noch die Diagnose Disruptive Affektregulationsstörung gestellt werden, bei der schwere, wiederkehrende Wutausbrüche vorliegen müssen mit dazwischen anhaltender reizbarer oder ärgerlicher Stimmung.
Abbildung 1: Zweidimensionales Modell für aggressiv-dissoziales Verhalten nach Frick et al. (1993)
Mehrere Symptomkriterien für oppositionelles Trotzverhalten beziehen auch gleichaltrigenbezogene Aggression mit ein (Formulierung nach DISYPS III: DCL-SSV; Döpfner & Görtz-Dorten, 2017):
Ärgert andere häufig absichtlich.
Schiebt häufig die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere.
Ist häufig reizbar oder lässt sich von anderen leicht ärgern.
Ist häufig zornig und ärgert sich schnell.
Ist häufig boshaft oder rachsüchtig.
Allerdings wird bei einigen Symptomkriterien für die Störungen des Sozialverhaltens im engeren Sinn ebenfalls gleichaltrigenbezogene Aggression angesprochen (Formulierung nach DISYPS III: DCL-SSV; Döpfner & Görtz-Dorten., 2017), vor allem bei:
|13|Bedroht, schikaniert oder schüchtert andere häufig ein.
Beginnt häufig körperliche Auseinandersetzungen.
Das gleiche gilt für die disruptive Affektregulationsstörung (Formulierung nach DISYPS III: DCL-SSV; Döpfner & Görtz-Dorten, 2017):