Einführung
Wenn Chuck Berry am Rand einer Klippe oder auf einem Berggipfel steht, hat er den Drang, nach unten zu springen. Ist er im Flugzeug, will er sich wahnsinnig gern hinauswerfen. Wir haben es hier allerdings nicht mit dem berühmten Rock’n’Roll-Sänger zu tun, sondern mit Chuck Berry, dem »Kiwi-König des Skydivens und Basejumpings«. Gut möglich, dass Sie ihn schon einmal in einer Werbung für Erfrischungsgetränke gesehen haben. Für die Limonadenmarke Lilt setzte er sich etwa aufs Fahrrad und sprang damit aus dem Hubschrauber – und das gleich zwei Mal. Derzeit wird er von Red Bull gesponsert, aber mit Sicherheit erlebt er mehr als nur einen Koffeinrausch, wenn er mit einem Fallschirm auf dem Rücken Richtung Erde rast und diesen erst im allerletzten Moment öffnet.
Über 30 Jahre macht Chuck Berry solche Absprünge schon, sei es in Form von Skydiving, Hanggliding (Gleitschirmflug), Micro-Light-Flying oder Fallschirmspringen (einmal sogar mit einem speziell präparierten Zelt). Seine Spezialität ist aber das Basejumping. Diese besonders extreme »Extremsportart« ist nach den vier Kategorien fester Objekte benannt, von denen man abspringen kann – Gebäuden, Groß-Antennen, aufgespannten Dingen (Brücken) und der Erde selbst (in der Regel eine Klippe). Seit 1981 gab es dabei mindestens 136 tödliche Unfälle – dieser Sport ist so gefährlich, dass statistisch gesehen einer von 60 Basejumpern umkommt.
Für Chuck ist der Schlüssel zum Überleben, dass er die Kontrolle über sein Denken behält. Bevor er springt, geht er im Geist die Schritte durch, die für die Erreichung seines Ziels nötig sind. Während unsereiner auf dem Dach des K. L. Tower in Kuala Lumpur (siebthöchster freistehender Turm der Welt) im Kopf durchgehen würde, was alles passieren kann – dass einen der Wind in ein anderes Gebäude weht, der Fallschirm zu spät aufgeht und man 400 Meter tiefer bald nichts als einen blutigen Fleck bildet –, überprüft Chuck genau die Windrichtung, bestimmt die exakte Höhe für das Öffnen des Fallschirms und malt sich aus, wie er dann sanft nach unten schwebt und auf dem ausgewählten Punkt eine perfekte Landung hinlegt. Hilfreich ist dabei natürlich auch, dass er sich auf diesen Moment seit Monaten vorbereitet hat.
Mit seiner jahrelangen Erfahrung hätte der Swift-Flug, den Chuck eines Neujahrsmorgens unternahm, eigentlich total unproblematisch sein müssen. Ein Swift ist eine Art Kreuzung aus Flugzeug und Gleitschirm, und wie es heißt, verbindet er das Segelpotenzial eines Gleitschirms mit der Bequemlichkeit, bergab laufen und einfach abheben zu können – es braucht also kein Flugzeug, das einen hinauf in den Himmel bringt. Obendrein kann das Ding so klein zusammengefaltet werden, dass es auf den Dachständer eines Autos passt. Vorne sieht es aus wie ein eleganter Papierflieger mit langen, aerodynamischen Flügeln, wohingegen der Rumpf ganz kurz ist und das Heck komplett fehlt. Für den Pilot gibt es ein kleines Cockpit, das aber nur Kopf, Schultern und Arme umschließt; die Beine ragen unten heraus, damit man den Berghang hinunterrennen kann. Stellen Sie sich Fred Feuerstein vor, wie er zu seinem Steinzeitauto läuft – und dann hinter dem Klippenrand verschwindet und sich in die Lüfte erhebt.
Für seinen Flug mit dem Swift wählte Chuck den Coronet Peak aus, der sich nicht weit von der neuseeländischen Bungeejumping-Hauptstadt Queenstown erhebt. Es war ein herrlicher Sommertag und der Berg zeichnete sich wie in einer Filmkulisse gegen den blauen Himmel ab. Eigentlich die ideale Location, nur dass Chuck die Vorstellung, in dieser gewaltigen Landschaft einfach so herumzusegeln, eher langweilig fand. Etwas Luftakrobatik würde die Sache doch spannender machen. Unter Ausnutzung der Thermik brachte er den Gleitschirm auf eine Höhe von 5500 Fuß, bevor er ihn vornüber kippte und steil nach unten schoss. Der Plan war, den Sturzflug im letzten Moment abzubrechen und erneut in den Himmel aufzusteigen. Kein Problem, richtig?
Falsch. Der gesamte Gleitschirm fing an zu beben und sich wild aufzubäumen, und als gelernter Flugzeugingenieur wusste Chuck genau, was da passierte. Es war das, was in der Flugbranche als »Flattern« bezeichnet wird (wobei der Begriff von einem echten Meister der Untertreibung stammen muss): Die Tragflächen des Flugzeugs biegen sich in rasanter Folge nach oben und nach unten, bis sie sich schließlich selbst totgeschlagen haben.
Innerhalb weniger Sekunden hatten sich beide Flügel komplett vom Rumpf gelöst, und Chuck befand sich im freien Fall. Mit vollem Tempo auf die Erde zuzurasen, machte ihm ansonsten eigentlich Spaß. Aber diesmal gab es nichts, was seinen Fall hätte bremsen, seinen brutalen Aufprall auf der Erde hätte verhindern können. Trotzdem war Chuck auch jetzt in der Lage – sein GPS-Gerät zeigte dem Rettungsteam später an, dass er mit 200 km/h zu Boden raste –, so präzise wie rational zu denken.
Er sah, dass er zwar außerhalb des Cockpits eines flügellosen Gleitschirms hing, mit dem Wrack aber immer noch verbunden war. Seine Gedanken überschlugen sich. Er erinnert sich genau, was ihm damals durch den Kopf ging:
Es muss doch möglich sein, wieder in die Überreste des Gleitschirms hineinzukommen. Warum kann ich nicht einfach ins Cockpit klettern? Das muss doch irgendwie machbar sein. Kann ich mich hochziehen? Müsste eigentlich gehen. Was würde James Bond machen? Komm schon, Alter, mach was! Ich muss etwas tun. Nicht nach unten sehen. Der Boden ist viel zu nahe. Ich habe keine Zeit. Irgendwas muss doch gehen. Das war wohl ein Flattern. Der Hebel! Der Griff für den Rettungsfallschirm. Wenn ich nur diesen Griff erreichen könnte. Der muss noch da sein! Klar ist er noch da. Wie lange falle ich schon? Das dauert ja ewig. Dort sind schon die Hügel. Nicht mehr viel Zeit übrig. Zu windig zum Nachdenken. Das ist die wichtigste Entscheidung meines Lebens. Na los, mach was! Rette dich! Greif irgendwie nach diesem Notdingens und zieh es raus!
Machen Sie sich klar, dass nach dem, was das GPS-Gerät später anzeigte, dieser innere Monolog, dieser ganze Denkprozess mit seiner präzisen Kalkulation, nur wenige Sekunden dauerte. Für Chuck fühlte er sich aber erheblich länger an. Er wusste, dass er schnell reagieren musste, und dennoch hatte er genügend Zeit – oder sogar ziemlich viel –, um nachzudenken und dann entsprechend zu handeln. Für den Betrachter rasten die Sekunden vorbei. Für Chuck dehnte sich die Situation aber fast ins Unendliche aus. Ein und derselbe Zeitrahmen, aber zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungen des Zeitflusses. Der kurze Blick auf die Ewigkeit, den er am Neujahrstag erhaschte, ist ein gutes, wenngleich extremes Beispiel für das zentrale Thema dieses Buches: die Subjektivität der Zeitwahrnehmung. In einer Situation, wie Chuck sie erlebte, ist die Zeit etwas verstörend Elastisches.
Jeder von uns hat schon Momente erlebt, in denen sich die Zeit irgendwie verzerrt. Wenn wir so wie Chuck um unser Leben fürchten, scheint sie sich zu verlangsamen. Wenn wir glücklich sind, vergeht sie »wie im Flug«. Beim Älterwerden kommt es uns vor, als würde die Zeit immer schneller rasen. Jedes Jahr kommt Weihnachten ein bisschen früher. Aber als Kind wollten die Sommerferien gar nicht mehr aufhören.
In diesem Buch möchte ich der Frage nachgehen, ob diese Ausdehnung und Schrumpfung der Zeit eine Illusion ist oder ob unser Gehirn in diversen Momenten unseres Lebens unterschiedlich mit ihr umgeht, sie anders verarbeitet. Die Zeitwahrnehmung – also die Art und Weise, wie die Zeit subjektiv erlebt wird, wie sie sich für das Individuum jeweils anfühlt –, ist ein so faszinierendes wie gleichermaßen endloses Thema. Die Zeit ist immer für eine Überraschung gut – und wir gewöhnen uns einfach daran, wie sie uns täuscht und hinters Licht führt. Ein schöner Urlaub geht rasend schnell vorbei: Kaum ist man angekommen, muss man auch schon wieder ans Packen denken. Daheim angekommen, fühlt es sich an, als sein man ewig weggewesen. Wie ist es möglich, dass man ein und denselben Urlaub auf so widersprüchliche Art wahrnimmt?
Den Kern des Buches bildet die Vorstellung, dass die Wahrnehmung der Zeit etwas ist, das von unserem Verstand aktiv erzeugt wird. Etliche Faktoren sind an der Konstruktion der Zeitwahrnehmung beteiligt – das Gedächtnis, die Konzentration, unsere aktuelle Verfassung und das Gefühl, dass die Zeit irgendwie mit dem Raum verknüpft ist. Dieser letztgenannte Faktor ermöglicht uns, etwas ganz Außergewöhnliches zu tun – nämlich nach Belieben in der Zeit zu...