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E-Book

Tiefrot und radikal bunt

Für eine neue linke Erzählung

AutorJulia Fritzsche
VerlagEdition Nautilus
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783960541936
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Ein selbstbewusstes Plädoyer für die neue linke Erzählung, die wir jetzt so dringend brauchen Aus der bedrängenden Gegenwart schlagen vor allem die Rechten Kapital - dabei sind es linke Themen, die zentral fu?r eine bessere Gesellschaft sind, und sie werden längst angepackt. Julia Fritzsche trägt sie zusammen: Elemente zu einer verführerischen, begeisternden linken Erzählung, die einerseits die soziale Frage völlig neu und den Kapitalismus wieder in Frage stellt, andererseits keinen Rückschritt in Sachen 'diversity' macht. Anhand der großen Themen Care, Ökologie, Wohnen, Migration und Queerness geht die Autorin auf Spurensuche: bei streikenden Pflegekräften, bei Indigenen in den Anden, die gegen Ölförderung auf ihrem Land kämpfen, bei Stadtnetzwerken und Flüchtlingshelferinnen, beim Slut Walk. Sie hat die Menschen in ihrem Alltag begleitet und mit ihnen gemeinsam weitergesucht. Überall findet sie Geschichten, die von einem anderen, besseren Leben erzählen, und Menschen, die es schon umsetzen: Ein Leben und Arbeiten, das an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an ihrer Verwertbarkeit ausgerichtet ist. Wirkliche soziale Gerechtigkeit statt nur ein bisschen Umverteilung - Klassenfrage und Minderheitenschutz zusammengedacht. Julia Fritzsche zeigt, was die verschiedenen Ansätze gemeinsam haben und wie sich alte und neue linke Ideen, feministische, ökologische, soziale und migrationspolitische Entwürfe zu einer Erzählung zusammenführen lassen, die das Potenzial hat, die Welt zu verändern.

Julia Fritzsche, geboren 1983, ist Journalistin, sie schreibt für den Bayerischen Rundfunk, arte, 'analyse und kritik' u. a. Sie lebt in München. Für ihr Hörfunk-Feature '?Stell dich nicht so an!? Indizien für eine Rape Culture' (zusammen mit Laura Freisberg) bekam sie den Juliane Bartel Medienpreis 2013. Ihr Feature '?Prolls, Assis und Schmarotzer!? Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet' (zusammen mit Sebastian Dörfler) wurde 2016 mit dem 2. Preis des Otto-Brenner-Preises sowie mit dem Deutschen Sozialpreis ausgezeichnet. Das Feature 'Das Pogrom von Hoyerswerda: Eine Reise in die Gegenwart' (ebenfalls mit Sebastian Dörfler) erhielt den Pechmannpreis 2018.

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Leseprobe

Bedrängende Gegenwart:
Eine Begegnung im Treppenhaus


»Wie geht’s?«, frage ich Paul beiläufig am Briefkasten. »Nicht gut«, sagt er. Ich bleibe stehen. »Die Arbeit?« »Ja«, sagt er. »Es wird ja alles immer schlimmer, die Pausen kürzer, die Kollegen unzuverlässiger und immer billiger.«

Paul ist Busfahrer, wir begegnen uns oft abends wie jetzt, wenn er zur Nachtschicht geht und ich nach Hause komme. Ich mag Paul. Er ist ein ruhiger Typ. Auch seiner Freundin Marilena begegne ich oft abends, wenn sie Arztpraxen putzen geht, eigentlich hat sie eine Ausbildung zur Mechanikerin für Brillenoptik in Bukarest gemacht.

Nach zwei Minuten Gespräch mit Paul am Briefkasten kommt, womit ich nicht gerechnet habe: »Und wenn du dann morgens um drei an der Haltestelle die Flüchtlinge in ihren Schlabberhosen siehst – ich bin wirklich kein Rassist, aber die kriegen eine Wohnung und Jobs und alles. Und wir?«

Paul guckt mich an.

Was jetzt antworten? Wo anfangen? Wie reagieren, ehe er weitergeht und das so im Raum stehenbleibt? Ich stelle meine Einkaufstüte ab, als würde ich zu einer Antwort ausholen. »Also …«

Die bedrängende Gegenwart ist auch bei mir im Treppenhaus angekommen. Andere erleben sie auf Familienfeiern oder in Facebook-Chats, wo fast alle plötzlich ihren slightly racist uncle oder Ähnliches haben. Welche Antworten bringen uns raus aus dieser bedrängenden Gegenwart, in der Migration und Islam zunehmend als Gefahren dargestellt werden. In der die Politik Rechte auf Asyl, Abtreibung, Seenotrettung in Frage stellt und immer autoritärer wird, indem sie Polizeiaufgaben und Überwachung in fast allen deutschen Bundesländern ausweitet, Gewaltenteilung aufhebt wie in Ungarn, Kontrolle durch kritische Medien behindert wie in Österreich. Bedrängend ist die Gegenwart schließlich vor allem durch Menschenjagden und Brandanschläge auf Menschen. Hate crimes gegen Marginalisierte gibt es zwar schon lange – seit dem Mauerfall starben mindestens 169 Menschen an rechtsextremer Gewalt, und an misogynem Hass stirbt jede dritte Nacht eine Frau in Deutschland –, in den letzten drei Jahren nimmt die Gewalt aber zu.1 Antworten auf die bedrängende Gegenwart sind schon lange nötig. Spätestens aber jetzt, im Angesicht von Menschenjagden, Bürgerwehren und Demokratiekrise. Paul, der mir gegenübersteht, ist friedvoll, er äußert seine Ressentiments nur verbal, trotzdem brauche ich jetzt und hier eine Antwort auf ebendiese. Und auf seine Sorgen. Denn seine Andeutungen zu Wohnungsnot und Lohndruck machen klar: Antworten brauchen wir auch auf die bedrängende kapitalistische Gesamtlage, die Paul nicht mal am schlimmsten trifft. Eine kapitalistische Gesamtlage, in der die ärmere Hälfte der Menschen in der Bundesrepublik über 2,4 Prozent des Vermögens verfügt.2 In der vor allem Marginalisierte, Frauen und Migranten, ein System am Laufen halten, das sie krank macht. In der Menschen an und unter der Armutsgrenze zehn Jahre früher sterben als Reiche. In der das Leben für Menschen im Globalen Süden so bedrängend ist, dass sie ihrer Welt entfliehen. Paul bedrängt die Gegenwart und ist bedrängt von ihr. Was da antworten?

Meine Einkaufstüte ist zusammengesackt. »Äh, naja, ich finde ja, nicht Flüchtlinge sind unser Problem, sondern Steuerflüchtlinge«, sage ich knapp. Mehr fällt mir nicht ein. Paul nickt. Puh. »Und an teuren Wohnungen und schlechten Löhnen sind ja auch eher Immobilienunternehmen, Arbeitgeber und Regierungen schuld«, sage ich. Paul nickt nochmal. Echt? Reicht das schon? Einfach ein bisschen über Verteilung sprechen?

Ich war mal bei Paul in der Wohnung, da stand Sarrazin im Regal. Paul fand nicht alles richtig, was da drinstand, vor allem nicht, dass »südlichere Menschen« einen niedrigeren IQ hätten.

Ich nehme meine Einkaufstüte, drehe mich zum Gehen. »Was wirst du wählen?«, frage ich noch. »AfD«, sagt Paul. Verdammte Axt. »Weil so kann es nicht weitergehen«, sagt er. »Was hast du denn früher gewählt?«, frage ich. »Rot, immer, aber die Roten kannst du ja heute vergessen, die vertreten uns doch nicht mehr.« Was mit Rot-Rot-Grün sei, will ich wissen. Die Linkspartei kenne er nicht gut, meint Paul, nur den Gysi. Aber die SPD wolle er nie wieder an der Regierung haben. In keiner Koalition.

Paul ist jetzt an der Haustür. »Du bist eher so Antikapitalist, oder?«, fragt er, öffnet die Tür. Ich reagiere nicht gleich, denn mein Gehirn braucht immer eine halbe Sekunde länger, wenn ich in der männlichen Form angesprochen werde. Ehe ich antworte, sagt Paul: »Das ist im Prinzip ja richtig. Aber da kannst du viel reden. Das ist doch total unrealistisch.«

Paul erwartet gerade keine Ideen von Linken, er hat eine Antwort rechts gefunden. Damit ist er nicht allein. Das hat zuletzt eindrücklich der Pariser Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims beschrieben: Große Teile der Linken haben die arbeitenden Menschen vergessen. Eribon meint mit »Linken« vor allem die Mehrheit der linken Intellektuellen wie sich selbst und das linke parlamentarische Lager, die französische sozialistische Partei. Wie Sozialdemokratien in anderen Ländern habe sich diese kaum mehr um die Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse geschert. Lebensbedingungen wie die von Eribons Mutter, einer Arbeiterin, mit einem »geschundenen, schmerzenden Körper, der fünfzehn Jahre lang unter härtesten Bedingungen gearbeitet hat – am Fließband stehen, Deckel auf Einmachgläser schrauben, sich morgens und nachmittags höchstens zehn Minuten von jemandem vertreten lassen, um auf die Toilette gehen zu können«.3 Solch geschundene Körper haben auch viele der »Gelbwesten«, die im Winter 2018/2019 begannen, gegen die Politik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu protestieren. »Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände«, schreibt der Pariser Schriftsteller Édouard Louis.4

Paul und Eribons Mutter, die beide früher leidenschaftlich links gewählt haben, wählen heute leidenschaftslos rechts, weil sich ihre früheren Vertreter*innen der neoliberalen Weltsicht von Eigenverantwortung und Wettbewerb, von Sozialstaatsabbau, Privatisierung und Steuerbefreiung für Wohlhabende und Unternehmen angeschlossen haben. Und nicht nur sie wählen heute rechts, Menschen aus vielen ökonomischen Milieus tun das. Denn die Erzählung, in einem globalen System aus Wettbewerb könne es jeder zu einem guten Leben bringen, die Geschichte der Fahrstuhlgesellschaft (Ulrich Beck), derzufolge Klassenunterschiede an Bedeutung verlieren, verfängt nicht mehr. Für Frauen, »Gastarbeiter« und Menschen im Globalen Süden traf sie ohnehin nie zu, und ab dem Wirtschaftseinbruch Mitte der 70er Jahre auch nicht mehr für weiße Männer der arbeitenden Klasse. Es gab und gibt kein Durchsickern des Wohlstands, kein Entkommen aus der Klasse: Arbeiterkinder, die es zu Reichtum und Ruhm schaffen, sind statistische Ausnahmen. Bildungssysteme hängen arme und migrantische Kinder ab, Sozialstaatsabbau und Schließungen von Bibliotheken treffen eben diese armen Kinder, Macht und Vermögen verfestigen sich bei wenigen. Die große Erzählung vom Aufstieg durch Leistung, die Idee der Meritokratie, der heute beide großen politischen Lager anhängen, wird immer unglaubwürdiger.

Dabei geben sich ihre neoliberalen Vertreter*innen viel Mühe, diese Erzählung am Leben zu erhalten. Vor allem bei ökonomischen Umbauten und in Krisen hilft ihnen dabei das Bild des faulen Arbeitslosen, wie unter anderem der Sozialwissenschaftler und Journalist Sebastian Friedrich erforscht.5 Danach sind nicht ökonomische Zyklen, konkrete politische Maßnahmen oder das Wirtschaftssystem schuld an Armut und Erwerbslosigkeit, sondern die Armen und Erwerbslosen selbst, weil sie »dumm, faul und unmoralisch« seien, wie auch der britische Autor Owen Jones in Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse (2013) beschreibt. Dieser Mechanismus zeigte sich auch beim neoliberalen Umbau in der Bundesrepublik: Die Regierung Kohl hatte ihre Politik der Deregulierung, Lohnkürzung und Lockerung des Kündigungsschutzes mit Bildern vom »Freizeitpark« Deutschland (Helmut Kohl 1993) und einer »sozialen Hängematte« (Wolfgang Schäuble 1994) illustriert. Kanzler Gerhard Schröder bereitete dann 2001 seine Agenda-Politik mit dem BILD-Interview »Es gibt kein Recht auf Faulheit« vor, das Wirtschaftsministerium unter Wolfgang Clement nannte im Jahr der Agenda-Einführung 2005 Erwerbslose in einem Atemzug mit »Parasiten«. Als in den Folgejahren Armut und Armutsgefährdung anstiegen,6 prägte ab 2006 die »Unterschichten«-Debatte das Bild von Armen als »einem Milieu, wo vielfach Verwahrlosung herrscht«...

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