Kurze Geschichte einer kontroversen Disziplin
Die Geschichte der Künstlichen Intelligenz beginnt ein ganzes Jahrhundert bevor der Begriff überhaupt erfunden werden wird. Der Industrielle, Nationalökonom und Erfinder Charles Babbage hatte sich im dampfbetriebenen industriekapitalistischen England daran gemacht, eine vollautomatische Rechenmaschine zu bauen, die Analytical Engine. Sie wies bereits alle wesentlichen Elemente moderner Computer auf: Eingabe, Ausgabe, Programmspeicher und -steuerung. Babbages 30 Meter langes mechanisches Monstrum, das der erste Computer der Welt hätte werden können, erblickte jedoch nie das Licht der Welt.
Die Erste, die eine schier unendliche Anwendungsvielfalt analytischer Maschinen erahnte, war Babbages Assistentin Lady Ada Lovelace. Sie sah voraus, dass solche Automaten zu deutlich mehr in der Lage wären, als reine Zahlen zu verarbeiten. Die deterministischen Automaten, über die Ada Lovelace nachdachte – es dauerte schließlich noch fast ein Jahrhundert, bis der erste funktionsfähige Computer von Konrad Zuse im elterlichen Wohnzimmer im Berlin-Kreuzberg des Jahres 1937 in Betrieb genommen wurde – könnten allerdings nicht über das in sie Hineinprogrammierte hinaus selbstständig denken. In ihren Anmerkungen zu Babbages nie fertiggestelltem Rechenautomaten schreibt die junge Engländerin 1843: »Die Maschine ist kein denkendes Wesen, sondern lediglich ein Automat, der nach Gesetzen handelt, die ihm auferlegt wurden.«1 Dieser Satz kann – zumindest aus informatischer Sicht – gut und gerne als erster Kommentar zur KI-Thematik in der gesamten Menschheitsgeschichte gelten.
Können Maschinen denken?
Dieser Frage widmete sich Alan Turing in seinem bahnbrechenden und darüber hinaus höchst amüsant zu lesenden Essay »Rechenmaschinen und Intelligenz« aus dem Jahre 1950. Aber was ist überhaupt Denken, und was ist eine Maschine? Er schreibt: »Man könnte diese Definition so formulieren, dass sie so weit wie möglich den allgemeinen Sprachgebrauch wiedergibt, aber diese Einstellung ist gefährlich.«2 Legten wir bei ihrer Definition die landläufige Verwendung zugrunde, argumentiert er, könnten wir die Antwort auf die Frage ebenso gut einer Meinungsumfrage überlassen. Das hält Turing allerdings für absurd, weil die Begriffe Maschine und Denken an sich schon so dehnbar seien, dass mehr als eine rein akademische Diskussion nicht zu erwarten sei. Stattdessen schlägt er vor, die Frage durch eine andere zu ersetzen. Turing verwirft den Versuch einer Definition und schlägt stattdessen ein Imitationsspiel vor, das ein eindeutiges Ergebnis liefern können soll auf die Frage, ob eine Maschine intelligent sei oder nicht: den berühmten Turing-Test der Künstlichen Intelligenz.
»Die neue Form des Problems lässt sich in Form eines Spiels beschreiben, das wir das ›Imitationsspiel‹3 nennen. Es wird von drei Personen gespielt, einem Mann (A), einer Frau (B) und einem Fragesteller (C), der beiderlei Geschlechts sein kann.«4 Die beiden Versuchspersonen A und B sowie der/die Fragenstellerin C sind voneinander isoliert, diese können mit jenem nur indirekt über Tastatur und Displays kommunizieren, sodass C nur auf dem Display dargestellte (Sprach)-Antworten der Testpersonen zu Gesicht bekommt. Das Imitationsspiel besteht nun darin, dass A so tun muss, als sei er eine Frau. In einer Art Travestie muss er C erfolgreich hinters Licht führen, das Verhalten einer Frau perfekt imitieren oder vielmehr der bei C existierenden Erwartung, wie sich eine Frau verhält, bestmöglich entsprechen. B wiederum muss ebenfalls versuchen, C von ihrer weiblichen Identität, also von der Wahrheit zu überzeugen. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Der homosexuelle Alan Turing schlägt eine Art queeres Quiz vor. Wer den Test besteht, wer also hinreichend oft bzw. statistisch signifikant das Spiel gewinnt, hat erfolgreich bestanden: Er oder sie ist eine Frau!
Das Imitationsspiel nach Turing
Bislang ging es also noch gar nicht um Maschinen, erst in einem zweiten Schritt stellt Turing die Frage: »Was passiert, wenn eine Maschine in diesem Spiel die Rolle von A übernimmt? Wird sich der Fragesteller beim Spielen des Spiels so oft falsch entscheiden, wie wenn das Spiel zwischen einem Mann und einer Frau gespielt wird? Diese Fragen ersetzen unser ursprüngliches ›Können Maschinen denken?‹«5 Die Maschine übernimmt nun die Rolle des Mannes, muss ihrerseits überzeugend ›weiblich‹ (inter)agieren und C von ihrer weiblichen Identität zu überzeugen versuchen.
Es geht Turing hier um zweierlei. Erstens vermeidet er jeglichen Essenzialismus und trennt die Frage nach der Intelligenz vom biologischen Substrat. Zweitens setzt er die Beantwortung der Frage gleich mit dem erfolgreichen »So tun als ob«. Statt der Frage, ob Maschinen denken können, wird also untersucht, ob sie sich so verhalten können wie ein (denkender) Mensch. Es geht ihm nicht um eine wie auch immer geartete »echte« Intelligenz. Die erfolgreiche Imitation derselben ist hinreichend – entscheidend ist, was hinten rauskommt. Mit anderen Worten: Intelligenz wird zur performativen Kategorie.
Der Turing-Test der Künstlichen Intelligenz
Erinnert seine Herangehensweise nicht an Judith Butlers Gendertheorie? Diese fragte in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter, was Geschlecht eigentlich ist.6 Ist es biologisch determiniert, oder ist, was wir als Frau und Mann bezeichnen, nicht vielmehr bestimmt durch Verhaltensweisen und gesellschaftliche Codes? Judith Butler ist es zu verdanken, die Beantwortung dieser Frage einerseits – in einer Turings Überlegung ähnlichen Entessenzialisierung – vom biologischen Geschlecht (sex) gelöst und andererseits als soziales Konstrukt (gender) definiert zu haben, das sich jeglichen körperlichen Essenzialismen verweigert und es ausschließlich als Emanation einer sozialen Praxis bestimmt. Auch bei Butler geht es darum, sich vom sex, also der körperlich-biologischen Essenz, zu lösen. Gender wird in performativen Akten konstituiert, in denen sich eine Person im Rahmen fester Rollenvorstellungen durch Handlungen, eben performativ, ihres sozialen Geschlechts versichert.
Gender als performative Praxis ist ein Imitationsspiel: Ich imitiere Verhaltensweisen, die als männlich oder weiblich gelten und konstruiere damit in einem unendlichen Prozess mein soziales Geschlecht, bis der Beobachter (C) restlos davon überzeugt ist, ich sei das eine oder das andere, etwa ein Mann, oder eine Frau. Ich wage an dieser Stelle die These, dass Judith Butler Inspiration für ihre Theorie bei Alan Turing erhalten hat.
Ein Marketing-Coup
Der Name für die Disziplin war da noch gar nicht erfunden, das gelang ein paar Jahre später dem Mathematiker John McCarthy. Dieser bereitete als junger Assistenz-Professor am Dartmouth-College ein Sommerlager für Mathematiker vor, das im Jahr 1956 stattfinden sollte. Den Geldgebern wurde vollmundig versprochen, eine Handvoll Mathematiker (ausschließlich Männer) würde das Thema Künstliche Intelligenz im Verlauf des Sommer-Workshops erschöpfend bearbeitet haben. Im Forschungsantrag für das zahlenverliebte Pfadfindertreffen taucht zum ersten Mal der Name für das neue Forschungsfeld auf: artificial intelligence. Auch wenn tatsächlich keinerlei praktische Ergebnisse des Sommercamps bekannt sind, war mit dem griffigen Namen für eine neue Disziplin der Weg geebnet worden: Die Künstliche Intelligenz war geboren. McCarthy bekam sein Geld, und das Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence konnte stattfinden.
Das Sommerlager dauerte etwa sechs bis acht Wochen und war »im Wesentlichen eine ausgedehnte Brainstorming-Session«7 – so Jerry Kaplan in seiner gelungenen Einführung in die Thematik. Viele berühmte Namen gaben sich hier ein Stelldichein, die die KI wesentlich prägen sollten. Neben McCarthy selbst nahmen auch der spätere Gründer des MIT-Labors für Künstliche Intelligenz, der Kognitionswissenschaftler Marvin Minsky, und der Begründer der Informationstheorie Claude Shannon als Autoren des Konferenzprogramms an der Gründung der neuen Disziplin teil.
Die Initiatoren gingen von der Annahme aus, dass »jeder Aspekt des Lernens oder jeder anderen Manifestation von Intelligenz letztlich so genau beschrieben werden kann, dass er auf einer Maschine simulierbar ist.«8 Das Programm des Symposiums war sehr ambitioniert: »Es wird versucht herauszufinden, wie man Maschinen dazu bringt, Sprache zu benutzen, Abstraktionen zu bilden, Konzepte zu entwickeln, Probleme zu lösen, die bisher Menschen vorbehalten waren, und wie man sie dazu bringt, darin besser zu werden«, so wird es in der Beschreibung des Forschungsvorhabens formuliert.
Anlässlich dieses historischen Ereignisses lieferte McCarthy auch gleich einen Definitionsversuch für die neue Disziplin KI: »die...