Peter Strutynski: Umkämpfte Drohnen
Ein im Juli 2013 vorgelegter Report der UN-Mission in Afghanistan, UNAMA, hat die bei Luftangriffen der Alliierten ums Leben gekommenen Zivilpersonen in Afghanistan im ersten Halbjahr 2013 zu erfassen versucht und kommt zum Ergebnis, dass 49 Menschen getötet und 41 verletzt worden seien. 15 Tote und sieben Verletzte unter ihnen gingen dabei auf das Konto unbemannter bewaffneter Drohnen (Unmanned Aerial Vehicles/ UAVs). Im Vergleichszeitraum des Vorjahres konnten laut dieser Quelle keine Drohnenopfer nachgewiesen werden.1
Diese Angaben klingen nicht gerade spektakulär – vor allem angesichts der hohen Gesamtzahl von 1319 der im selben Zeitraum getöteten Zivilpersonen. Sie dürften die Realität aber auch nicht zuverlässig abbilden. Die Datenlage über das Kriegsgeschehen in Afghanistan war schon immer höchst unbefriedigend. Über Drohneneinsätze schweigt sich nicht nur die US-Administration, sondern auch das britische Verteidigungsministerium aus. Großbritannien dürfte in Afghanistan den Großteil des Drohnenkrieges übernommen haben – die Rede ist von ca. 300 Angriffen seit 2008 –, die Regierung in London weigert sich aber beharrlich, Auskunft über die Lokalitäten und die Zahl der Opfer zu geben.2 Auch das Regime in Kabul hat wenig Interesse, über Angriffsziele und »Erfolge« der Drohnenattacken seiner Verbündeten zu berichten; möglicherweise werden ihm aber auch die dafür notwendigen Informationen vorenthalten.
Über ungleich bessere Berichte verfügen wir hinsichtlich des Drohnengeschehens im angrenzenden Pakistan. Nach Recherchen des unabhängigen »Bureau of Investigative Journalism« in London hat der US-Geheimdienst CIA seit 2004 mindestens 371 verdeckte Drohnenangriffe durchgeführt und dabei zwischen 2.514 und 3.584 Menschen getötet.3 Da sich die Verhältnisse in den pakistanischen Stammesgebieten Waziristans, wo die meisten Drohnenangriffe stattfinden, wenig von denen in den umkämpften Gebieten Afghanistans unterscheiden, muss auch für Afghanistan eine ähnlich hohe Zahl an Drohnenopfern angenommen werden.
Möglicherweise aber eine noch viel höhere. Ende 2012 berichtete die Internet-Plattform »wired.com«, dass von Januar bis November 2012 nach einer Statistik der Luftwaffe 447 US-Drohnenangriffe in Afghanistan stattgefunden hätten. Afghanistan sei damit das »Epizentrum« des US-Drohnenkriegs, nicht Pakistan (wo 2012 nach derselben Quelle »nur« 48 Drohnenangriffe verbucht wurden), Jemen oder Somalia.4 Von 2009 bis 2012 seien es insgesamt 1.273 Angriffe gewesen – ein Mehrfaches der Großbritannien zugeschriebenen Drohnenattacken. Im Zuge der Truppenreduzierung haben die Angriffe mit bemannten Flugzeugen ab- und die Angriffe mit unbemannten Drohnen zugenommen. 2011 gingen fünf Prozent aller Luftangriffe auf das Konto von Kampfdrohnen, 2012 waren es bereits elf Prozent. Dieser Trend werde sich fortsetzen und nach 2014 – dem offiziellen Ende des Kampfeinsatzes der NATO-Truppen in Afghanistan – werden wohl ferngesteuerte Kampfdrohnen den Hauptanteil übernehmen. »Während die Soldaten abziehen, springen die Roboter in die Bresche.«
Mittlerweile ist es auch kein Geheimnis mehr, dass Kampfdrohnen zunehmend im weltumspannenden »War on Terror« der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten eingesetzt werden. Alle paar Tage kommen Meldungen wie die folgende über die Ticker der Nachrichtenagenturen und finden sogar den Weg in die großen deutschen Zeitungen: »Von einer amerikanischen Drohne abgefeuerte Raketen haben im südlichen Jemen nach Medienberichten vier mutmaßliche Kämpfer des Terrornetzwerks al-Qaida getötet. Die Extremisten seien in der Provinz Abijan unterwegs gewesen, als ihr Fahrzeug von zwei Raketen getroffen wurde, berichteten das Nachrichtenportal Barakish.net und die staatliche Nachrichtenagentur Saba am Sonntag unter Berufung auf die Provinzbehörden.« (Süddeutsche Zeitung, 29.07.2013) Solche Berichte geben Anlass zu kritischen Fragen und Beunruhigung, zu Protest und Widerstand – nicht nur in den betroffenen Ländern, sondern auch in den Metropolen der Krieg führenden Staaten.
Dies bekommt auch US-Präsident Barack Obama zu spüren, der mit seinem Amtsantritt den Drohnenkrieg immens ausgeweitet hat, was ihm sehr schnell den Titel »Drohnenpräsident« einbrachte. Cornel West, ein prominenter afroamerikanischer liberaler Aktivist und Professor für Theologie an der Universität Princeton und am Union Theological Seminary in New York, verglich in einem Interview den amtierenden US-Präsidenten mit seinem Vorgänger und fällte das nicht eben schmeichelhafte Urteil: »Bush war der Haft- und Folter-Präsident. Nun haben wir den Präsidenten des gezielten Tötens, den Drohnenpräsident. Das ist kein Fortschritt.« Er fügte hinzu: »Das ist nicht das Erbe von Martin Luther King.« Dieser große Bürgerrechtskämpfer wäre nicht zu den offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestages seiner berühmten »I Have a Dream«-Rede am 28. August 2013 eingeladen worden, weil er dort selbstverständlich über Drohnen und die »Kriminalität der Wall Street« gesprochen hätte.5
Über Drohnen spricht Obama wenigstens. Er tut das nicht aus freien Stücken, sondern erst auf Grund der wachsenden Kritik im In- und Ausland an der von ihm zu verantwortenden Politik des »targeted killing«. In einer denkwürdigen Rede vor der »National Defense University Fort McNair« in Washington am 23. Mai 20136 erläuterte der US-Präsident Ziele und Vorgehensweise seiner Administration im Kampf gegen den Terrorismus. So plädiert er u. a. dafür, den seinerzeit von Bush als »endlos« konzipierten Krieg gegen den Terror zu beenden. Nicht sofort, aber in absehbarer Zeit, wenn Al-Kaida besiegt sei. Deren zentrale Schaltstellen in Afghanistan und Pakistan seien bereits entscheidend geschwächt und stellten keine besondere Gefahr mehr für die USA dar. Bedeutsamer seien stattdessen die Aktivitäten, die vom Al-Kaida-Ableger auf der Arabischen Halbinsel7 ausgingen und den Jemen, Irak, Somalia und Nordafrika bedrohten. Hier oder in Libyen, Syrien, Algerien operierten meist lokale Milizen oder Netzwerke – vielleicht in loser Verbindung mit Al-Kaida –, teils aber auch von Staaten unterstützte »Terrororganisationen« wie die Hisbollah im Libanon. Sie bildeten mitunter eine grenzüberschreitende Bedrohung; die meisten von ihnen operierten aber nur in den Ländern oder Regionen, in denen sie ihren Stützpunkt haben. Eine weitere Gefahr stellten »radikalisierte Einzelpersonen« in den USA selbst dar, vor allem dann, wenn sie vom gewalttätigen »Dschihad« inspiriert wären wie z. B. die Attentäter beim Boston-Marathon.
All diesen neuen Bedrohungen, die mit dem Terroranschlag von 9/11 nicht mehr zu vergleichen seien, müsse mit einer umfassenden Strategie begegnet werden. Die dürfe sich weder nur auf militärische noch nur auf juristische Mittel stützen, sondern müsse alle Elemente umfassen, die nötig sind, um eine »Schlacht des Willens und der Ideen zu gewinnen«. In dem Zusammenhang denkt Obama auch laut darüber nach, die Praxis der weltweiten Einsätze von Killerdrohnen zu überprüfen und sie transparenter und rechtlich unangreifbarer zu machen. So lässt er erstens keinen Zweifel daran, dass die Drohnenangriffe »effektiv« seien. Dutzende führender Al-Kaida-Kommandanten, Ausbilder, Bomben-Produzenten und Kämpfer seien erfolgreich dem »Schlachtfeld entzogen« worden. Drohnen hätten auch Anschläge in europäischen Städten oder auf die internationale Luftfahrt vereitelt und somit »Leben gerettet«. Drohnenangriffe seien zweitens »legal«. Nach dem Anschlag von 9/11 habe der US-Kongress den Gebrauch von Gewalt gebilligt. Die USA befänden sich seither nach heimischer Rechtsauffassung und nach internationalem Recht in einem regulären »Krieg gegen Al-Kaida, Taliban und deren Verbündete«. Es handle sich also um einen »gerechten Krieg«, der die Verhältnismäßigkeit der Mittel einhält, als »letztes Mittel« und zur »Selbstverteidigung« geführt werde. Dennoch dürfe dies nicht das Ende der Diskussion sein. Eine militärische Taktik mag legal und effektiv sein, eine andere Frage ist, ob sie auch klug und in jeder Hinsicht moralisch sei. Um die Lücke zwischen Legalität und Moral zu schließen, hat Obama einen Tag vor seiner Rede eine Präsidenten-Richtlinie unterschrieben, in der Einsatzregeln für Kampfdrohnen verbindlich festgelegt sind.8 Darin wird der Gefangennahme von vermeintlichen Terroristen Vorrang eingeräumt, sollte dies nicht möglich sein, kann »tödliche Gewalt« angewendet werden. Und hierfür gelten dann bestimmte »Standards«, die einzuhalten sind, die aber so vage formuliert sind, dass auch künftig munter weiter getötet werden kann.9
Obamas Rede und die von ihm seit Jahren forcierte Drohnen-Kriegführung passen nicht so recht zusammen. Eine für effektiv gehaltene militärische Praxis moralisch zu hinterfragen, sie aber nicht zu stoppen, gehört in dieselbe Kategorie wie die wiederholten Ankündigungen des US-Präsidenten, das völkerrechtswidrige Gefangenenlager auf Guantanamo zu schließen, oder sein Versprechen, die Welt von Atomwaffen zu befreien (»Global Zero«). Doch auch den Friedensnobelpreis 2009 hat Obama nicht für irgendwelche praktischen Schritte auf dem Weg zu mehr Frieden und Abrüstung in der Welt erhalten, sondern für seine wohl klingende Rhetorik.
Mögen manche Reden des 44. US-Präsidenten als Beispiele für beherzte und ethisch begründete Eloquenz in die Geschichtsbücher eingehen, der Lauf der Realgeschichte bleibt davon weitgehend unberührt. Eher hat der auf Drohnen gestützte Antiterror-Krieg der Welt in den...