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Tot auf Probe

Noch einmal zurück ins Leben

AutorIrja Kass
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644433410
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Reisen verlängert mein Leben: Je mehr ich erlebe, desto mehr lebe ich auch.» Mit 35 Jahren erfährt Irja Kass die niederschmetternde Diagnose: Brustkrebs ohne Chance auf Heilung. Im Frühjahr 2008 bricht sie zu der thailändischen Trauminsel Koh Samui auf. Doch das Paradies aus Meer, Palmen und Sand wird zur Hölle: Ihre Füße beginnen unerträglich zu schmerzen, sich rot zu verfärben, und die Haut löst sich. Abgeschnitten von der Außenwelt und ohne Aussicht auf Hilfe, bringen sie die Schmerzen, die Einsamkeit und die Angst fast um den Verstand - es bleibt ihr nur das Hoffen auf Besserung. Aber das Gegenteil tritt ein ... Ein offener und kraftvoller Bericht über eine fast tödliche Reise ins Paradies.

Irja Kass, 1969 in Estland geboren, kam 1992 nach Deutschland. Während ihres Studiums in Aachen - Soziologie, Psychologie und Internationale Wirtschaft - lernte sie ihren heutigen Ehemann kennen. Unmittelbar nach ihrem Magisterabschluss, erkrankte sie an Brustkrebs. Seit 2004 tauscht sie eine Chemotherapie gegen die nächste, dazwischen reist sie in der Welt herum. Dass Irja Kass noch lebt, ist ein statistisches Wunder.

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Leseprobe

Robust wie ein Pferd


Ich dachte zunächst, es käme von den neuen Schuhen. Dabei fühlten sie sich im Laden noch so butterweich an, und überhaupt, ich trug sie nur drei Stunden lang. Ich saß damit in einem Restaurant, als ich so unangenehme Schmerzen bekam, dass ich sie unter dem Tisch aus- und erst für den Nachhauseweg wieder anzog. Zu Hause bekam ich sie kaum noch von den Füßen runter. Ich habe mir schon oft die Schuhe mühsam von den Füßen pulen müssen, aber noch nie habe ich ernsthaft daran gedacht, sie mit einer Schere aufzuschneiden. Natürlich tat ich es auch jetzt nicht, dazu waren sie einfach zu schön. Steffen erklärte sich netterweise bereit, mir die Füße mal ordentlich durchzukneten. Was wohl ein großer Fehler war.

In den nächsten Tagen war trotzdem alles noch nicht so schlimm, ich hatte nur das Gefühl eines kolossalen Sonnenbrands und als hätte ich mir obendrauf noch dieselben Schuhe in einer zwei Nummern kleineren Ausgabe angezogen. Obwohl ich in der Wohnung immer barfuß lief, wurde ich dieses Gefühl nicht los. Schmerzhaft und lästig war das, aber durchaus auszuhalten, wenn man mit Schmerzen umgehen kann. Das können die meisten Krebskranken zwangsläufig.

Als Steffen und ich am darauffolgenden Wochenende Freunde in Freiburg besuchten, hatten sich die Füße etwas erholt, und ich war sogar übermütig genug, in die Stadt zum Shoppen zu gehen. Dort kam ich ganz schön in die Bredouille und musste schon wieder meine Schuhe ausziehen. Da auf Socken die Straße langzulaufen nur kurzzeitig Linderung brachte, sagte ich mir: «Kauf dir endlich mal größere und vor allem richtig gute, bequeme Schuhe, hast wahrscheinlich doch keine 38 mehr, was soll die Eitelkeit?»

Am Montag waren auch diese neuen, zwei Nummern größeren Schuhe passé, von nun an konnte ich die Wohnung nur noch mit meinen großen, weichen Hausschuhen verlassen. Dabei träumte ich eigentlich von barfüßigem Schweben – am Tag und in der Nacht. Wenigstens waren meine Hausschuhe nicht mit überdimensionalen Häschen- oder Tigerköpfen ausgestattet, sondern es waren ganz normale, mittelkuschelige Hauslatschen mit Fellrand.

Aber selbst damit konnte ich nur ganz langsam und vorsichtig laufen, musste jeden Schritt sorgfältig positionieren. Für Einkäufe, Arzt- und Apothekenbesuche und ähnliche Rentnerausflüge erfüllten sie aber ihren Zweck – Zeit hatte ich ja. Hauptsache, ich kam vorwärts, das Tempo spielte keine Rolle. Steffen fand zwar, ich solle meine Art der Fortbewegung nicht so anmaßend Laufen nennen, denn ihn erinnere das eher an modernen Tanz mit spastischen Elementen oder an die Bewegungen eines gekrümmt herumschleichenden, sehr langsamen und deshalb wohl kaum erfolgreichen Diebs. Aber ich bleibe dabei: Ich lief. Diese Aussage ist mit meinem Stolz besser vereinbar.

Nach zehn Tagen ging ich zum Arzt. Die letzte Chemo lag drei Wochen zurück, also holte ich mir ganz regulär die dritte Dosis meines aktuellen Chemomittels und die Keine-Ahnung-wievielte-Dosis von einer anderen Infusion ab. Anschließend sprach ich im Arztzimmer gegenüber meinem Doktor die seltsamen Fußschmerzen an – alles schön der Reihe nach. Er sah natürlich selbst, dass ich mit Hausschuhen in seinem Zimmer saß, fehlte nur noch der gestreifte Pyjama. Deshalb schlug er, kaum dass ich den Satz beendet hatte, die Hände über dem Kopf zusammen und rief: «Nein, das kommt von der Chemo, das ist das sogenannte Hand-Fuß-Syndrom – und wir haben Ihnen gerade eben noch eine neue Ladung Medikamente verpasst, o nein, nein.»

Mein Arzt, Dr. Baum, ist kein ehrfurchteinflößender weißbärtiger Herr, bei dem ein plötzliches, verzweifeltes Nein unpassend wirken würde, sondern ein jugendlicher und sportlicher 47-jähriger Mann. Er hat zum Beispiel Ringe an der Praxisdecke hängen, auch wenn er vor den Patienten üblicherweise nicht daran herumturnt. Und er trägt keinen weißen Kittel, sondern T-Shirts und im Sommer sogar Sandalen und knielange Shorts. Ich vermute, dass er als Schuljunge ein kleiner Frechdachs war, so verschmitzt, wie seine hellgrauen Augen manchmal aufblitzen. Aber seine unerwartet jugendlich-energische Reaktion gerade hatte mich doch ein wenig erschreckt. Zu Beginn dieser neuen Chemotherapie hatte ich von ihm über ihre Nebenwirkungen nur erfahren: «Die Haut kann etwas empfindlicher werden.»

Eine empfindliche Haut hatte ich allerdings seit Wochen schon. Steffen rieb mit seinen Händen nur mal zum Aufwärmen über meine Schultern, und ich schrie lauthals los. Sogar sanftes Streicheln am Unterarm fühlte sich an wie Schmirgeln mit Sandpapier. Aber das mit den Füßen – das war etwas ganz, ganz anderes als nur eine empfindliche Haut. Der Zusammenhang mit einer der üblichen Nebenwirkungen meines Medikaments war mir nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen. Stattdessen hatte ich zehn Tage lang die zu engen Schuhe verdächtigt. Also ehrlich, kann man noch dümmer sein? Ich denke: «Ja. Zumindest ich kann es – wie ich bald beweisen werde.»

Von meinem Chemotherapeutikum wusste ich bis dahin nur, dass es ein sehr modernes Mittel ist, besonders geeignet für Krebspatienten mit erhöhtem Herzrisiko, da das Medikament in Fettmoleküle verpackt wird und deshalb das Herz ohne Schaden anzurichten passiert. Auch ich gehöre zu Krebspatienten mit Herzrisiko. Denn seit über zwei Jahren bekomme ich zusätzlich ein anderes Medikament – ein wirksames, aber herzschädigendes Mittel, das für Patienten mit einer HER/​neu-Überexpression geeignet ist. Zu denen gehöre ich leider. Diese bestimmten Rezeptoren sind bei circa 25 bis 30 Prozent aller Patienten überexprimiert, das heißt besonders zahlreich vorhanden, und regen die Krebszellen zu einer vielfach schnelleren Teilung an, als es bei normalen Krebszellen der Fall wäre. Das reichte mir als Info, neben der Tatsache, dass die Haut empfindlicher wird, eben ein palmar-plantares Erythrodysästhesie-Syndrom, wie es in der Fachsprache heißt, entsteht.

Natürlich hätte ich den Mund früher aufmachen sollen, aber mir fiel nicht mal im Traum ein, meine «engen Schuhe» beim Arzt zu thematisieren. Damit hätte ich vielleicht die letzte Gabe des Medikaments verhindern können. Und zumindest hätte Dr. Baum so schon vorher die Dosis verringern oder andere Intervalle wählen können. Die Wirkung wäre natürlich geringer ausgefallen und die Zeit, bis sich eine Resistenz gegen das Mittel gebildet hätte, vermutlich auch. Dafür wäre aber die Lebensqualität erhalten geblieben – beziehungsweise überhaupt vorhanden gewesen. Aber ich neige generell dazu, die Zähne so lange zusammenzubeißen, bis ich zur Einsicht gelange, dass ich die Schmerzen nicht mehr selbst in den Griff kriege. Dann erst suche ich endlich Hilfe. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich zu spät reagierte. Allerdings war es das erste Mal mit so fatalen Folgen.

Nachdem ich durch Dr. Baum vom Hand-Fuß-Syndrom erfuhr, stöberte ich nur halbherzig im Internet herum, las von Leuten, die von diesem Mittel so kaputte Hände bekommen hatten, dass man sie füttern musste. Sie konnten nämlich nichts mehr festhalten, nicht mal einen Löffel. Meine Hände fühlten sich damals nur so an, als hätte ich lange, ganz schwere Taschen getragen, aber es waren nicht wirklich Schmerzen. Auf Erfahrungsberichte über Fußprobleme stieß ich bei meiner Recherche nicht, höchstens auf Hinweise auf kribbelnde oder taube Füße von verschiedenen Chemos, die das Nervensystem angreifen, das heißt neuropathische Störungen oder eine Nervenentzündung verursachen können. Dr. Baums abschreckendstes Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung war ein Patient, der – so wie er erzählte – «meinte, trotz des Hand-Fuß-Syndroms auf einen Hügel hochstapfen zu müssen», und der danach heftige Blasen an den Füßen hatte. «Das kann jedem Wanderer passieren, der schlechte Schuhe trägt», dachte ich damals noch. Und ich hatte schließlich nicht vor, auf einen Berg zu steigen, also drohte keine Gefahr.

Ein Merkblatt über das Hand-Fuß-Syndrom bekam ich erst nach meiner Heimkehr von der Thailandreise überreicht. Mein Arzt war davon ausgegangen, dass ich es schon längst bekommen hätte. Das Einzige, was mir von diesem verspäteten Zettel länger als zehn Minuten in Erinnerung blieb, war die Empfehlung, Händeklatschen zu vermeiden. Obwohl ich diesen Rat vor der Reise noch nicht kannte, kann ich versichern, dass ich in dieser Zeit nicht in die Hände klatschte, am allerwenigsten vor Begeisterung.

Jetzt, nach der Rückkehr, weiß ich natürlich alles über das Hand-Fuß-Syndrom alias palmar-plantares Erythrodysästhesie-Syndrom. Dass es bei 49 Prozent der Patienten nach manchen Chemomitteln auftritt und neben Händen und Füßen auch andere Körperpartien befallen kann – wie die Mundschleimhäute, Achselhöhlen oder Ellbogen. Allerdings kommt das nicht sehr oft vor, weil der Patient meist schon vorher so starke Schmerzen hat, dass man die Therapie rechtzeitig abbricht oder auf eine andere umsteigt. Vorausgesetzt natürlich, der Patient teilt sich überhaupt mit. Das alles weiß ich jetzt, aber jetzt ist es zu spät.

Mein Infofanatismus hat sich zum Glück mittlerweile gelegt, denn die fremden Schicksale in den Krebsforen im Internet machen mich oftmals noch trauriger als mein eigenes, selbst wenn diese Menschen nach rein medizinischen Maßstäben wesentlich besser dastehen sollten als ich. Ich kann Tage auf Seiten mit Krebstherapien, -statistiken und -studien verbringen, ausreichend informiert fühle ich mich trotzdem nie. Doch in diesem Fall zeigte sich, dass auch eine Befreiungsaktion fatal sein kann. Dabei war der Umstand, kein...

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