VORWORT
ZUTRITT NUR DURCH DIE WAND
Ein Mönch fragte den Dongshan Shouchu:
»Wer ist Buddha?« – Dongshan: »Drei Pfund Hanf.«
(Zutritt nur durch die Wand, Nr. 18)
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Wenn Sie diese Seite aufschlagen, sind Sie an einem bestimmten Punkt Ihres Lebens angelangt. Vielleicht planen Sie gerade eine längere Reise. Oder Sie haben vor einiger Zeit eine Familie gegründet und denken jetzt darüber nach, ein Haus zu kaufen. Vielleicht haben Sie gerade Ihren Job gekündigt. Bestimmt haben Sie sich längst so Ihre Gedanken gemacht, worum es im Leben eigentlich geht. Warum leben wir zum Beispiel von einem Tag auf den anderen, getrieben von allen möglichen, unsinnigen Zwängen, wenn all das am Ende sowieso keinen Sinn hat? Sollten wir nicht lieber darauf verzichten, unser Leben genau durchzuplanen? Und wäre das Leben nicht besser, wenn wir etwas Abstand vom allgemeinen Optimierungswahn gewinnen könnten, um einfach einmal weniger zu tun?
Wahrscheinlich haben Sie sich auch schon einmal für den Buddhismus interessiert, haben sich von der Lehre über die Leere berühren lassen. Ich habe eine ganze Reihe von Bekannten, die sich schon einmal für den Buddhismus interessiert haben. Die meisten tun das nur mit großer Vorsicht und immer nur für einige Stunden, so als schlichen sie wie die Katze um den heißen Brei herum. Vielleicht ähneln Sie meinen Bekannten aber auch gar nicht. Ich kann Sie jetzt fast vor mir sehen: Wie Sie da in einem Café oder bei sich zu Hause in einem Sessel sitzen, in der Rechten halten Sie einen Becher mit Kaffee (grüner Tee wäre noch besser), in Ihrer Linken dieses Buch, und während Ihre Augen den Zeilen rasch von links nach rechts folgen, haben Sie einen gespannten, möglicherweise etwas distanzierten, wenn nicht sogar spöttischen Gesichtsausdruck. »Glaubt der Autor wirklich, dass er mich durchschaut hat?!«, denken Sie jetzt vielleicht. »Dabei könnte ich sein Buch doch jeder zeit zur Seite legen und mich wieder auf meine Facebook-Seite konzentrieren, ich müsste ohnehin wieder einmal nachschauen, T. wollte mir schreiben und eigentlich müsste ich M. jetzt sofort einen Geburtstagsgruß senden, sonst werden die anderen schon alle etwas gepostet haben, das sieht überhaupt nicht gut aus, wenn ich als Letztes schreibe …« Oder Sie hassen Facebook, genauso wie Sie Ihren Alltag hassen, weil er schon viel zu sehr dem Alltag bestimmter Bekannter ähnelt, denen es nur noch um Geld, Anerkennung und gesellschaftlichen Status geht. Dann werde ich Sie mit meinen Gedanken nur verwirrt haben. Das wäre schade. Was Sie jetzt wirklich möchten, ist ein Augenblick der Ruhe, schreibe ich einfach mal, ein Augenblick, in dem Sie überhaupt nichts mehr verbessern müssen, Sie wollen tiefenentspannt sein und innehalten, um über Ihr eigenes Leben nachzudenken, über das Glück und die Leere hinter all dem.
Neulich, ich weiß gar nicht mehr wo, ist mir eine Geschichte durch den Kopf gegangen, die mich tatsächlich einmal in meinem Leben innehalten ließ. Die Geschichte geht so: Beim Überqueren eines Flusses ließ ein Mann versehentlich sein Schwert ins Wasser fallen. Um sich die Stelle zu merken, an der er es verloren hatte, schnitt er eine Kerbe in den Bootsrand und sagte dazu: »Hier ist mein Schwert in den Fluss gefallen.« Als das Schiff endlich angehalten hatte, sprang er ins Wasser und tauchte an der von seiner Markierung angezeigten Stelle. Doch das Schwert fand er dort nicht.1
Was will uns eine solche Geschichte mitteilen? Erst einmal geht es wohl nur darum, dass hier einer zum Opfer einer eklatanten Fehleinschätzung geworden ist. In der von uns bewohnten Welt sorgt die Schwerkraft dafür, dass sich ein Boot auf einem Fluss stetig weiterbewegt; deshalb ist eine Markierung, wie sie der Mann an seinem Boot angebracht hat, wertlos. Man könnte diese Geschichte jedoch auch auf einer tieferen Ebene deuten: Das Schwert des Mannes von Chu, denn es ist eine Geschichte aus dem alten China, wo es einmal einen Staat namens Chu gegeben hat, könnte wie eine Art MacGuffin funktionieren und auf alles Mögliche verweisen, etwa auf unsere Bemühungen, in unserem Leben bestimmte Stellen zu markieren, damit wir uns später wieder auf sie beziehen können: Mein 18. Geburtstag, mein erster Arbeitstag, die Geburt unseres ersten Kindes … Tatsächlich haben es Menschen ja so an sich, dass sie immer Strukturen aufbauen und Unterscheidungen treffen wollen, in dem felsenfesten Glauben, die Bedeutungen, die sie mit diesen Strukturen und Unterscheidungen verbinden, jederzeit wiederfinden zu können. Nur dass die Zeit – ein sonderbar Ding! – nie stehen bleibt; und in diesem Sinne werde ich auch die Bedeutung, die für mich einmal mit meinem 18. Geburtstag verbunden war, nie mehr wiederfinden.
In der chinesischen Philosophie, denn um sie wird es in diesem Buch gehen, gibt es viele solcher Geschichten. Oft weiß man nicht genau, wer ihr Verfasser ist; sie sind auch nie ganz ausformuliert und wirken oft wie mit leichtem Pinsel hingeschrieben. Im Buch Zhuangzi, einem Zentraltext des Daoismus, gibt es zum Beispiel die schöne Geschichte von dem Halbschatten, der den Schatten anspricht und fragt, warum dieser sich mal bewege und mal still stehe, mal sitze und mal aufrecht stehe, so ganz ohne Beständigkeit, woraufhin der Schatten erwidert: »Muss ich von etwas anderem abhängig sein, um zu sein, was ich bin?!« Und rhetorisch weiterfragt, ob er denn von den Schuppen eines Schlangenbauches und den Vorderflügeln einer Zikade abhängig sein müsse, um er selbst zu sein, womit zugleich die flüchtige Ironie dieser Geschichte deutlich wird, die natürlich in diesem sonderbaren Miteinander-Sprechen zweier Schatten besteht, die doch immer nur der Bewegung anderer Wesen folgen können, und eigentlich ist damit auch aufs Anschaulichste gezeigt worden, wie trügerisch unser tiefer Wunsch nach Unabhängigkeit oft ist.2 Im Zhuangzi gibt es auch Geschichten, in denen wir dazu eingeladen werden, die Perspektive von Bäumen und Tieren einzunehmen und uns selbst auf diese Weise neu zu sehen. Oft muten sie seltsam an, oft auch einzigartig, unwiederholbar. Und deshalb vielleicht weltverändernd.
Diese Geschichten behaupten – streng genommen – rein gar nichts. Selten bringen sie handfeste, philosophische Argumente vor. Wenn sie etwas wollen, dann vielleicht, dass wir uns in sie versenken. Viele Philosophen im vormodernen China haben diese Art von Geschichten geschrieben; und da sie die Methoden der Mathematik und Geometrie entweder gar nicht kannten oder nicht besonders hoch schätzten, hatten diese Philosophen auch nie den Anspruch, von einem vermeintlich objektiven Standpunkt aus etwas über das Leben oder die Welt zu sagen. Sie wollten Einsichten erzeugen, indem sie ihre Leser auf einer persönlichen Ebene ansprechen.
Genau aus diesem Grund können die Geschichten aus China auch von uns handeln. »Wenn irgendetwas gesehen (wirklich gesehen) wird, dann bin immer ich es, der es sieht«3, schreibt Ludwig Wittgenstein im Geiste Schopenhauers; und dieser Satz hilft ein Stück weit, das Denken der daoistischen und buddhistischen Meister zu verstehen. Denn eigentlich gibt es ja gar nichts anderes als unser eigenes Leben, unser Bewusstsein davon. Sie können nur aus Ihrer Perspektive auf das Leben blicken, und deshalb werden Sie auch die für Sie angemessenste Lösung für Ihr Leben finden müssen. Was auch immer Sie mit Ihrem Leben anstellen, Ihnen selbst entkommen Sie nicht; und deshalb kommt es vor allem darauf an, wie Sie sich zu sich selbst verhalten, wie Sie sich auf die Welt ausrichten und Ihre Abhängigkeit von dieser Welt verstehen.
Wäre es möglich, dass wir durch das Nachdenken über solche Geschichten sogar aus dem Kreislauf unseres ewigen Strebens nach Anerkennung ausbrechen könnten?
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Neugier ist Ungehorsam in seiner reinsten Form.
(Vladimir Nabokov)
Ich war neunzehn, als mich die Einsicht überfiel, dass in dieser Welt nie mehr etwas Neues beginnen würde. Es war in den frühen 1990ern, der Kalte Krieg war gerade erst zu Ende gegangen, und für mich bestand kein Zweifel: Alles war sinnlos, ausweglos, tot. In dem Krankenhaus in Wilhelmshaven, der norddeutschen Stadt, in der ich damals meinen Zivildienst geleistet habe, starben die Kranken im Frühjahr 1994 reihenweise. Sie verharrten dabei in ihren Kleidern und bewegten sich kaum; und die ganze Zeit über rochen die Zimmerwände nach Angst. Alte Frauen verfielen stündlich. Dreißigjährige wälzten sich in ihrem Kot. Ich fühlte, dass mich eine unsichtbare Wand von den Menschen trennte. Einige Male muss ich darüber nachgedacht haben, mein Leben zu beenden; aber der Gedanke, dass auch ohne mich einfach alles so weitergegangen wäre, erfüllte mich nur mit einer noch größeren Traurigkeit. Wahrscheinlich würde man auch noch in hundert Jahren die immer gleichen Rentendebatten...