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E-Book

Trost der Philosophie

Eine Gebrauchsanweisung

AutorAlain de Botton
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104026442
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ungeliebt? Geldsorgen? Frust? ? Liebeskummer? Ihnen kann geholfen werden! Geistreich und originell untersucht Alain de Botton, welche Tröstungen die großen Philosophen für die Lebensprobleme moderner Zeitgenossen bereithalten: Was raten uns Sokrates, Epikur, Seneca, Montaigne, Schopenhauer und Nietzsche, wenn man sie, ihr Leben und Werk befragt? Mit erzählerischer Verve und bestechendem Witz untersucht Alain de Botton den Nutzen der Philosophie für das Leben - eine Einladung, ein Kompendium, eine Denkreise.

Alain de Botton gründete 2008 die ?School of Life? www.alaindebotton.com, da er der Überzeugung ist, dass man die verschiedenen Lebensbereiche wie Karriere, Liebe, Elternschaft usw. erlernen kann. Mit Charme, Ironie und Neugier entwickelt Alain de Botton seit seinem Romandebüt und Weltbestseller »Versuch über die Liebe« eine Philosophie des Alltags. Alain de Botton lebt mit Frau und Kindern in London. Sein Hauptwerk erscheint im S. Fischer Verlag.Literaturpreise:u.a.:Prix Européen de L'Essai »Charles Veillon« 2003Wrtschaftsbuchpreis des Jahres 2004, verliehen von der Financial Times Deutschland und getAbstract

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Leseprobe

3


1. Sein Leben


Geboren wurde Sokrates in Athen im Jahre 469 v.Chr., sein Vater Sophroniscos soll Steinmetz gewesen sein, seine Mutter Phainarete Hebamme. In seiner Jugend war Sokrates Schüler des Philosophen Archelaos. Später trieb er selbst Philosophie, ohne je ein Wort davon schriftlich niederzulegen. Er unterrichtete kostenlos und geriet deshalb in Armut; materieller Besitz bedeutete ihm aber nichts. Er trug das ganze Jahr über denselben Umhang und ging fast immer barfuß (man sagte über ihn, er sei auf die Welt gekommen, um den Schuhmachern eins auszuwischen). Zum Zeitpunkt seines Todes war er verheiratet und Vater dreier Söhne. Seine Frau Xanthippe war notorisch schlecht gelaunt (gefragt, warum er sie geheiratet habe, erwiderte Sokrates, Pferdetrainer müssten sich an den störrischsten Tieren üben). Er verbrachte viel Zeit außer Haus und disputierte mit Freunden auf den öffentlichen Plätzen von Athen. Sie rühmten seine Klugheit und seinen Humor. Seine Erscheinung dürften nur wenige gerühmt haben, war Sokrates doch klein, bärtig und kahl, hatte einen eigenartig schlingernden Gang und ein Gesicht, das Bekannte abwechselnd mit dem Kopf einer Krabbe, eines Satyrs oder einer Groteske verglichen. Seine Nase war platt, seine Lippen breit, und seine vorstehenden Augen saßen unter einem Paar widerspenstiger Brauen.

Sein seltsamster Zug war jedoch seine Angewohnheit, Athener jedes Standes, Alters und Berufs auf der Straße anzusprechen. Ohne sich im mindesten darum zu scheren, ob sie ihn etwa für exzentrisch oder für unverschämt hielten, forderte er sie barsch auf, ihm genau zu erläutern, warum sie bestimmte als vernünftig geltende Auffassungen teilten und was sie für den Sinn des Lebens hielten – wie ein überraschter Feldherr berichtet:

»Wer mit Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch mit ihm einläßt, [der wird], mag auch wirklich vorher die Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben, unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche herumgeführt, bis er sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt lebt und wie er die verflossene Lebenszeit hingebracht hat; wenn er aber einmal dahinein geraten ist, [läßt ihn] Sokrates nicht eher los, als bis er diese ganze Prüfung gut und schön vollendet hat.«

Klima und Anlage der Stadt waren dieser Angewohnheit des Sokrates förderlich. In Athen war es das halbe Jahr über warm, und so ergab sich häufig die Gelegenheit, ohne förmliche gegenseitige Vorstellung mit Menschen auf der Straße ein Gespräch anzuknüpfen. Betätigungen, die in nördlichen Ländern hinter den Lehmwänden düsterer, rauchdurchzogener Hütten stattfanden, bedurften unter dem menschenfreundlichen attischen Himmel nicht des Schutzes der Abgeschiedenheit. Es war üblich, sich auf der Agora oder unter den Kolonnaden der Stoa poikile oder der Stoa des Zeus Eleutherios aufzuhalten und am späteren Nachmittag, den begünstigten Stunden zwischen den praktischen Obliegenheiten des Mittags und den Ängsten der Nacht, mit Fremden zu sprechen.

Die Größe der Stadt begünstigte Begegnungen. Rund 240000 Menschen lebten innerhalb der Grenzen Athens und seines Hafens. Von einem Ende der Stadt zum anderen, vom Piräus-Tor zum Aigeus-Tor, war es nicht mehr als eine Stunde Fußmarsch. Die Athener besaßen ein Gemeinschaftsgefühl vergleichbar etwa dem der Kinder an einer Schule oder der Gäste bei einer Hochzeit. Fremde in der Öffentlichkeit in ein Gespräch zu verwickeln war keine Spezialität von Fanatikern oder Betrunkenen.

 

Wenn wir uns scheuen, den Status quo in Frage zu stellen, so liegt das – neben der Witterung und der Größe unserer Städte – vor allem daran, dass wir das Populäre auch für das Richtige halten. Der Philosoph ohne Sandalen stellte Unmengen von Fragen, um herauszufinden, ob das, was populär war, denn auch einen Sinn ergab.

2. Gesunder Menschenverstand als Maß aller Dinge


Viele fanden seine Fragerei nervtötend. Manche zogen ihn auf. Einige hätten ihn am liebsten umgebracht. In seinem Stück »Wolken«, uraufgeführt im Frühjahr 423 v.Chr. im Dionysos-Theater, führte Aristophanes den Athenern eine Karikatur des in ihrer Mitte lebenden Philosophen vor, der sich weigerte, Vernünftiges anzuerkennen, ehe er nicht dessen Logik mit impertinenter Akribie auf den Grund gegangen war. Der den Sokrates darstellende Schauspieler wurde, in einem Korb stehend, von einem Kran auf die Bühne heruntergelassen, behauptete er doch, sein Geist arbeite in der Höhe besser. Er war in so wichtige Gedanken vertieft, dass er keine Zeit hatte, sich zu waschen oder häuslichen Obliegenheiten nachzukommen. Deshalb roch zwar sein Umhang schlecht und war sein Heim von Ungeziefer befallen, aber zumindest konnte er sich den entscheidenden Lebensfragen widmen. Zu diesen gehörten: Wie viel weiter kann ein Floh springen, als er selbst lang ist? Und summen Gnitzen durch den Mund oder durch den Anus? Obwohl Aristophanes über die Ergebnisse der sokratischen Forschungen nichts mittteilte, dürfte das Publikum den entsprechenden Eindruck über ihre Wichtigkeit gewonnen haben.

 

Aristophanes artikulierte in seinem Stück eine bekannte Kritik an Intellektuellen, die nämlich, sie entfernten sich durch ihr bohrendes Fragen weiter von vernünftigen Ansichten als Menschen, die es nie unternommen haben, Dingen systematisch auf den Grund zu gehen. Den Dramatiker und den Philosophen trennten diametral entgegengesetzte Auffassungen von der Hinlänglichkeit einfacher Begründungen. Während es Menschen, so Aristophanes, die ihre sieben Sinne beieinander hatten, bei dem Wissen bewenden lassen konnten, dass Flöhe im Verhältnis zu ihrer Größe weit springen konnten und dass Gnitzen ein Geräusch ausstießen, egal wo, wurde Sokrates unterstellt, krankhaft den gesunden Menschenverstand anzuzweifeln und auf abartige Weise nach komplizierten, albernen Alternativen zu seinen Befunden zu gieren.

Worauf Sokrates erwidert hätte, der gesunde Menschenverstand verdiente in bestimmten Fällen – obschon vielleicht nicht gerade in dem der Flöhe – durchaus gründlicher unter die Lupe genommen zu werden. Schon nach kurzen Wortwechseln mit vielen Athenern nämlich träten bei den populären Ansichten über gute Lebensführung, bei Ansichten, welche die Mehrheit als normal und also als selbstverständlich bezeichnete, überraschende Unzulänglichkeiten zutage, die nach der Selbstsicherheit ihrer Verfechter nicht zu erwarten gewesen wären. Im Gegensatz zu dem, was Aristophanes hoffte, sah es so aus, als wüssten die, mit denen Sokrates sprach, kaum, wovon sie redeten.

3. Zwei Gespräche


Eines Nachmittags begegnete der Philosoph, Platons Laches zufolge, in Athen zwei angesehenen Feldherren, Nikias und Laches. Die Feldherren hatten in den Armeen der Spartaner an den Schlachten des Peloponnesischen Krieges teilgenommen und sich dabei die Achtung der angesehenen Bürger der Stadt und die Bewunderung der Jugend erworben. Beide sollten als Soldaten sterben: Laches in der Schlacht bei Mantineia im Jahre 418 v.Chr., Nikias bei der unter einem schlechten Stern stehenden Expedition nach Sizilien im Jahre 413 v.Chr. Bildnisse der beiden Männer sind nicht überliefert, doch es ist denkbar, dass sie im Kampf den beiden Reitern auf einem Abschnitt des Parthenon-Frieses ähnelten.

Die Feldherren vertraten eine als vernünftig geltende Auffassung. Sie glaubten, dass ein Mensch, um mutig zu sein, einer Armee angehören, im Kampf vorrücken und Gegner töten müsse. Als er den beiden unter freiem Himmel begegnete, fand Sokrates es aber angebracht, noch ein paar weitere Fragen zu stellen:

SOKRATES:

»Versuch zu erklären, was Tapferkeit ist.«

LACHES:

»Beim Zeus, mein Sokrates, das ist nicht schwer zu sagen. Wenn einer entschlossen ist, in Reih und Glied standhaltend sich gegen die Feinde zu wehren und nicht flieht, der ist gewiß ein tapferer Mann.«

Sokrates erinnerte sich indes daran, dass eine griechische Streitmacht unter dem Kommando des Spartaner Regenten Pausanias in der Schlacht von Plataiai im Jahr 479 v.Chr. anfangs zurückgewichen war, das persische Heer unter Mardonios später aber tapfer besiegt hatte.

SOKRATES:

»Von den Lakedaimoniern heißt es, sie hätten bei Plataiai, als sie auf die Schildträger herangekommen wären, nicht standhalten und gegen sie kämpfen wollen, sondern wären geflohen; als sich aber die Reihen der Perser gelöst hätten, hätten sie geradeso wie die Reiter kehrtgemacht und gekämpft, und so hätten sie die Schlacht dort gewonnen.«

Gezwungen, neu nachzudenken, äußerte Laches eine zweite, herkömmlich als vernünftig geltende Ansicht: Tapferkeit sei eine Art Beharrlichkeit. Beharrlich sein, wandte Sokrates ein, könne man auch, wenn man unbesonnen ein Ziel verfolge. Um wahre Tapferkeit von blindwütiger Raserei zu unterscheiden, müsste ihr noch ein Zweites hinzutreten. Laches’ Gefährte Nikias sagte nun, von Sokrates auf diese Fährte gesetzt, dass Tapferkeit Einsicht in sich einschließen müsse, die Wahrnehmung von Gut und Böse, und nicht auf die Kriegskunst beschränkt werden dürfe.

In einem nur kurzen Wortwechsel unter freiem Himmel waren also schwerwiegende Mängel der Definition einer bei den Athenern in hohem Ansehen stehenden Tugend zutage getreten. Es hatte sich gezeigt, dass die Möglichkeit von Tapferkeit außerhalb des Schlachtfeldes oder die Bedeutung von Einsicht in Verbindung mit Beharrlichkeit bei der Begriffsbestimmung gar keine Rolle...

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